VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 24.08.2007 - Au 1 K 07.30161 - asyl.net: M11946
https://www.asyl.net/rsdb/M11946
Leitsatz:
Schlagwörter: Eritrea, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, menschenrechtswidrige Behandlung, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Inhaftierung, Haftbedingungen, politische Entwicklung, Oppositionelle, EDP, Eritrean Democratic Party, Mitglieder, exilpolitische Betätigung, Überwachung im Aufnahmeland, Folter, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Drei-Monats-Frist, Ermessen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 3; VwVfG § 51 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 3
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet.

1. Der Bescheid des Bundesamts vom 23. Mai 2007 ist rechtswidrig, weil eine neue, einen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Eritrea rechtfertigende Situation vorliegt.

a) Eine Pflicht des Bundesamtes zumWiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf § 60 Abs. 2–7 AufenthG (vormals § 53 AuslG) und damit ein entsprechender Rechtsanspruch des Klägers besteht zum einen bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1–3 VwVfG.

Der Kläger hat bei der Asylfolgeantragstellung am 8. Februar 2007 erstmals vorgetragen, dass er in Deutschland Mitglied der EDP geworden sei und daher auf Grund seiner politischen Einstellung nicht in sein Heimatland zurückkehren könne. Dieser Vortrag stellt zwar grundsätzlich eine neue Sachlage im Sinn von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG dar. Allerdings wurde die neue Sachlage nicht innerhalb der Frist des § 51 Abs. 3 Satz 1 VwVfG geltend gemacht.

b) Das Bundesamt kann jedoch das Verfahren außerhalb des Rahmens von § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG gemäß §§ 51 Abs. 5, 48 Abs. 1 Satz 1 und 49 Abs. 1 VwVfG hinsichtlich § 60 Abs. 2–7 AufenthG wieder aufgreifen. Insoweit ist es durch § 71 Abs. 1 AsylVfG, der sich nur auf erneute Asylanträge im Sinne von § 13 Abs. 2 AsylVfG bezieht, nicht eingeschränkt (vgl. BVerwG vom 7.9.1999 NVwZ 2000, 204; BVerwG vom 21.6.2000 Az. 2 BvR 1989/97). Der Kläger hat dabei einen Anspruch auf ordnungsgemäße Ermessensausübung, der sich im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz (GG) hier zu einem strikten Rechtsanspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich § 60 Abs. 2–7 AufenthG verdichtet.

Das Bundesamt hat das hierbei eingeräumte Ermessen im Bescheid vom 23. Mai 2007 nicht ordnungsgemäß ausgeübt. Im Bescheid wird erkennbar davon ausgegangen, dass die vom Kläger vorgetragene Mitgliedschaft in der EDP nicht ausreiche, um die Befürchtung von Verfolgungsmaßnahmen bei einer Rückkehr nach Eritrea zu rechtfertigen.

Der Kläger hat jedoch nach Auffassung des Gerichts einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten, festzustellen, dass bei ihm Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Eritrea vorliegt.

Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG (vormals § 53 Abs. 4 AuslG) darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Insbesondere darf ein Ausländer im Hinblick auf Art. 3 EMRK nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, wobei die Begriffe "unmenschlich" und "erniedrigend" weit auszulegen sind (vgl. GKAuslR, Band 2, RdNr. 172 zu § 53 AuslG).

Dem Kläger droht wegen der exilpolitischen Betätigung für die Eritrean Democratic Party (EDP) im Fall der Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung (vgl. dazu allgemein BayVGH vom 14.8.2006 - Az. 9 B 04.30627 - juris; HessVGH vom 27.3.2006 - Az. 9 UE 705/05.A).

Als politisch Verfolgter hat er nach den vorliegenden Erkenntnissen bei einer Rückkehr nach Eritrea ernsthaft und konkret mit einer menschenrechtswidrigen Behandlung in Form einer Inhaftierung aus politischen Gründen unter schweren, menschenunwürdigen Haftbedingungen zu rechnen, so dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK vorliegt.

Obwohl bislang der Einfluss von Oppositionsgruppen auf das gesellschaftliche und politische Leben Eritreas kaum spürbar ist, reagiert die eritreische Führungsebene zunehmend repressiv auf regierungskritische Aktivitäten. Wegen der Bedrohungspotentiale, welche eritreische Oppositionsorganisationen im Ausland seit Ende 2001 aus der Sicht der eritreischen Regierung verkörpern, ist davon auszugehen, dass gegenwärtig die nachrichtendienstlichen Netzwerke der Regierung in der Diasporabevölkerung jegliche Betätigung bei einer der oppositionellen Organisationen registrieren und die entsprechenden Informationen über die bestehenden Berichtsketten den Zentralbüros der verschiedenen Sicherheitsdienste (u.a. Nachrichtendienst und Sicherheitsabteilung) in Eritrea zugeleitet werden. Die eritreische Regierung hat seit Frühjahr 2002 die Aktivitäten der Sicherheitsdienste in der eritreischen Diaspora erheblich verstärkt und hierfür zusätzliches Personal ins Ausland entsandt (vgl. BayVGH vom 14.8.2006 a.a.O.; HessVGH vom 27.3.2006 a.a.O. m.w.N.). Es ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass Spitzel eingesetzt werden, um heraus zu finden, wer mit oppositionellen Gruppierungen sympathisiert. Auch besteht hinreichender Anlass zur Annahme, dass bei Mitgliedern in leitenden oder Führungspositionen gezielte Überwachung stattfindet. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass außerdem die exilpolitische Betätigung einfacher Mitglieder regimekritischer Exilorganisationen bekannt wird, weil die Zahl der im Bundesgebiet ansässigen Eritreer überschaubar ist. Erhalten eritreische Stellen durch die Sicherheitsorgane Kenntnisse von Mitgliedern und deren Tätigkeit innerhalb oppositioneller Organisationen, werden diese registriert. Ausgehend von der verstärkten Überwachung der in Deutschland lebenden Eritreer durch die eritreische Regierung kann mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass (auch einfache) Mitglieder der EDP und deren Aktivitäten in Eritrea bekannt werden (vgl. BayVGH vom 14.8.2006 a.a.O.; HessVGH vom 27.3.2006 a.a.O. und vom 21.3.2007 Az. 9 UE 1676/06.A mit zahlreichen Nachweisen).

Bereits als EPLF-DP strebte die Partei die Demokratisierung des eritreischen Staatswesens an. Sie stand den innenpolitischen Entwicklungen Eritreas, insbesondere dem Machtmonopol des Präsidenten und hochrangiger Militärs, kritisch gegenüber. Diese ursprünglichen Ziele verfolgt die EDP als Nachfolgerorganisation weiter mit dem Ziel, den Machtwechsel in Eritrea herbeizuführen. Ziele der EDP sind insbesondere – wie bereits vorstehend ausgeführt – die Wiederbelebung der demokratischen Traditionen der EPLF/PFDJ während des eritreischen Unabhängigkeitskampfes, die Implementierung der eritreischen Verfassung und die Demokratisierung des eritreischen Staatswesen, ohne mit den politischen Werten der EPLF zu brechen. Weil die Gründung der EPLF-DP aus dem engen Führungskreis der PFDJ heraus erfolgte, wird die Nachfolgeorganisation im Verhältnis zu anderen oppositionellen Gruppierungen als stärkere Bedrohung wahrgenommen. Aus der Sicht der eritreischen Regierung gilt die als illegale Oppositionspartei betrachtete EDP als einer der gefährlichsten, wenn nicht sogar als der gefährlichste Gegner, weil die Partei von Veteranen des Unabhängigkeitskampfes angeführt wird, die in der Bevölkerung weiterhin sehr beliebt sind. Es kann außerdem davon ausgegangen werden, dass die EDP innerhalb der Regierungspartei, der Administration und des Militärs über Sympathisanten verfügt. Das Bedrohungspotential, das die eritreische Regierung den "Abweichlern aus den eigenen Reihen" beimisst, kommt auch darin zum Ausdruck, dass die eritreische Regierung als Reaktion auf den kritischen Brief der "G 15"-Gruppe im September 2001 zahlreiche Verhaftungen vorgenommen hat (vgl. HessVGH vom 27.3.2006 a.a.O.). Seit Juni 2005 hat die Regierung die Kontrolle der eritreischen Gesellschaft verstärkt (vgl. BayVGH vom 14.8.2006 a.a.O.). Nach alledem besteht Anlass zur Annahme, dass jedwede Aktivität von Mitgliedern der EDP in Verfolgung der Ziele dieser Partei von der eritreischen Regierung als staatsschädigend eingestuft wird (so auch HessVGH vom 27.3.2006 a.a.O.). Es muss angenommen werden, dass selbst für niedrig profilierte Mitglieder der EDP, deren Betätigung sich u.a. in regelmäßiger Teilnahme an Parteitreffen und (regional begrenzter) Werbung für diese Exilorganisation erschöpft, bei Bekanntwerden im Falle der Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen drohen (vgl. BayVGH vom 14.8.2006 a.a.O). Gegen eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefährdung von Mitgliedern der EDP, die sich in eher untergeordneter Weise für die Partei eingesetzt haben, spricht auch nicht die vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amts vom 2. November 2005. Sie besagt, dass es – um vom eritreischen Staat als regimekritischer Gegner eingestuft zu werden mit der Folge möglicher Repressalien – mehr als einer (einfachen) Mitgliedschaft in der EPLF-DP bedürfe und eine länger andauernde Tätigkeit mit regelmäßigen Veröffentlichungen stattgefunden haben müsse. Diese Auskunft ist aber schon über ein Jahr alt. Wegen der seit 2005 zu beobachtenden Verschärfung der Überwachung der eritreischen Gesellschaft und des geschilderten Selbstverständnisses der um Machterhalt bestrebten PFDJ geht das Gericht davon aus, dass sich heute auch einfache Mitglieder der EDP staatlicher Verfolgung aussetzen, wenn sie erkennbar in Erscheinung treten (vgl. BayVGH vom 14.8.2006 a. a.O.; HessVGH vom 27.3.2006 und vom 21.3.2007 a.a.O.).

Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger zu dem Kreis der verfolgungsgefährdeten Personen im oben umschriebenen Sinne zählt, weil er einfaches Mitglied der EDP ist und sich für diese Partei – wenn auch nicht in stark exponierter Stellung – erkennbar betätigt, indem er regelmäßig an Parteitreffen teilnimmt und die Aufgabe eines Vorsitzenden der Ortsgruppe Augsburg wahrnimmt.

Nach oben dargelegten Erkenntnissen zur Überwachung der eritreischen Diaspora durch eritreische Sicherheitsbehörden kann deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Kläger – auch wenn er als eher einfaches Mitglied in nicht exponierter Stellung einzustufen ist – und seine Aktivitäten in Eritrea bekannt werden.

c) Wegen der drohenden politischen Verfolgung auf Grund seiner einfachen Mitgliedschaft in der EDP droht dem Kläger als Teil der eritreischen Exilopposition bei einer Rückkehr nach Eritrea auch ernsthaft und konkret eine menschenrechtswidrige Behandlung in Form einer Inhaftierung aus politischen Gründen unter schwierigen, menschenunwürdigen Haftbedingungen.

Dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Eritrea der konkreten Gefahr einer Inhaftierung ausgesetzt ist, ist angesichts der Tatsache, dass ihm auf Grund oben dargelegter neuester Erkenntnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht, zu bejahen. Soweit diesbezüglich Präzedenzfälle nicht vorliegen, spricht dies nicht gegen eine konkrete Gefahr einer Inhaftierung. Präzedenzfälle dürften nämlich deshalb fehlen, weil die EDP in der Diaspora gegründet wurde und es bisher nicht zur Rückreise von Personen gekommen ist, die als Mitglieder bekannt waren (vgl. Institut für Afrika-Kunde an Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 2.11.2005). Im Übrigen ist die Tatsache, dass Präzedenzfälle nicht bekannt sind, auch darauf zurückzuführen, dass in Eritrea Festnahmen häufig ohne Anwesenheit von Zeugen stattfinden und die Verhafteten danach an unbekannte Orte verbracht werden, Angehörige keine Auskunft über den Verbleib erhalten und keine (öffentliche) Anklageerhebung erfolgt (vgl. Bundesnachrichtendienst an VG München vom 11.4.2005). Nach aktueller Erkenntnislage sind die Haftbedingungen in Eritrea sehr hart. Dies gilt für die Strafvollzugsanstalten in noch stärkerem Maße als für die Polizeireviere, in denen die Hafteinrichtungen oft völlig überbelegt sind und in Hygienestandards weit unter westlichem Niveau liegen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24. Mai 2006, III.4). Noch unterhalb dieses Standards wird die Unterbringung in Polizei- und Militärlagern im Umland von Asmara bewertet. In den meisten Lagern gibt es so gut wie keine ärztliche Versorgung oder medizinische Betreuung (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24. Mai 2006, a.a.O.).

Für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG bestehen indes keine Anhaltspunkte. Nach den vorliegenden Erkenntnissen gibt es Berichte, wonach in Eritrea Folter in der Armee verbreitet sein soll (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24.5.2006, III. 2). Nach Angaben von amnesty international wird Folter in Einzelfällen gegenüber politischen Gefangenen angewandt (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24.5.2006, a.a.O.). Aus dieser Erkenntnislage lässt sich nicht entnehmen, dass dem Kläger als einfachem Mitglied der EDP mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter droht.