EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 20.09.2007 - C-16/05 - asyl.net: M11958
https://www.asyl.net/rsdb/M11958
Leitsatz:
Schlagwörter: Türken, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Stillhalteklausel, selbständige Tätigkeit, abgelehnte Asylbewerber
Normen: Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen Art. 41 Abs. 1
Auszüge:

48 Bei der Bestimmung des sachlichen Geltungsbereichs der Stillhalteklausel in Artikel 41 Abs. 1 ist zu beachten, dass diese Vorschrift schon ihrem Wortlaut nach neue Beschränkungen u.a. "der Niederlassungsfreiheit" verbietet.

49 Insoweit folgt bereits aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass diese Stillhalteklausel es einem Mitgliedstaat verwehrt, neue Maßnahmen zu erlassen, die zum Zweck oder zur Folge haben, dass die Niederlassung und damit einhergehend der Aufenthalt eines türkischen Staatsangehörigen in diesem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen werden, die zu dem Zeitpunkt galten, als dort das Zusatzprotokoll in Kraft trat (vgl. Urteile Savas, Randnr. 69, und Abatay u.a., Randnr. 66).

50 Diese Rechtsprechung bezieht sich nicht ausdrücklich auf die erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats.

51 Hierüber hatte der Gerichtshof in den Urteilen Savas und Abatay u.a. aber auch nicht zu entscheiden, da sowohl Herr Savas als auch die Kraftfahrer in den dem Urteil Abatay u.a. zugrunde liegenden Rechtssachen in den betreffenden Mitgliedstaaten aufgrund von Visa aufgenommen worden waren, die nach der einschlägigen nationalen Regelung erteilt worden waren.

52 Hinsichtlich der Bedeutung der Stillhalteklausel in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls folgt außerdem aus der Rechtsprechung, dass weder diese Klausel noch die sie enthaltende Bestimmung aus sich heraus einem türkischen Staatsangehörigen ein Niederlassungsrecht und ein damit einhergehendes Aufenthaltsrecht verleihen kann, das sich unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht ergäbe (vgl. Urteile Savas, Randnrn. 64 und 61 dritter Gedankenstrich, sowie Abatay u.a., Randnr. 62). Das gilt auch für die erstmalige Einreise eines türkischen Staatsangehörigen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats.

53 Nach dieser Rechtsprechung ist eine solche Stillhalteklausel aber dahin zu verstehen, dass sie die Einführung neuer Maßnahmen verbietet, die zum Zweck oder zur Folge haben, dass die Niederlassung türkischer Staatsangehöriger in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die sich aus Vorschriften ergeben, die für diese Personen zu dem Zeitpunkt galten, als dort das Zusatzprotokoll in Kraft trat (vgl. Urteile Savas, Randnrn. 69, 70 und 71 vierter Gedankenstrich, sowie Abatay u.a., Randnrn. 66 und 117 zweiter Gedankenstrich).

54 Aus Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls folgt somit nicht, dass türkischen Staatsangehörigen ein Recht zur Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gewährt werden muss, da ein solches positives Recht aus dem gegenwärtig geltenden Gemeinschaftsrecht nicht hergeleitet werden kann, vielmehr weiterhin dem nationalen Recht unterliegt.

55 Somit hat eine Stillhalteklausel, wie sie in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls enthalten ist, nicht die Wirkung einer materiellrechtlichen Vorschrift, die das maßgebliche materielle Recht, an dessen Stelle sie tritt, unanwendbar macht, sondern stellt praktisch eine verfahrensrechtliche Vorschrift dar, die in zeitlicher Hinsicht festlegt, nach welchen Bestimmungen der Regelung eines Mitgliedstaats die Situation eines türkischen Staatsangehörigen zu beurteilen ist, der in diesem Mitgliedstaat von der Niederlassungsfreiheit Gebrauch machen will.

56 Mithin ist das Vorbringen der Regierung des Vereinigten Königreichs zurückzuweisen, die Auffassung der Kläger der Ausgangsverfahren führe zu einer unzulässigen Beeinträchtigung des Grundsatzes der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für Einwanderungsfragen, wie er vom Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung ausgelegt worden sei.

57 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs unterliegt zwar beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts die erstmalige Aufnahme eines türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat grundsätzlich ausschließlich dem innerstaatlichen Recht dieses Staates (vgl. Urteile Savas, Randnrn. 58 und 65, sowie Abatay u.a., Randnrn. 63 und 65), doch hat der Gerichtshof mit dieser Feststellung nur die Frage verneinen wollen, ob die in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls enthaltene Stillhalteklausel als solche einem türkischen Staatsangehörigen bestimmte positive Rechte auf dem Gebiet der Niederlassungsfreiheit verleihen kann (Urteile Savas, Randnrn. 58 bis 67, und Abatay u.a., Randnrn. 62 bis 65).

58 Die Stillhalteklausel stellt indessen die grundsätzliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Festlegung ihrer nationalen Einwanderungspolitik nicht in Frage. Der bloße Umstand, dass eine solche Klausel von ihrem Inkrafttreten an diesen Staaten eine Unterlassungspflicht auferlegt, durch die ihr Handlungsspielraum auf diesem Gebiet in gewissem Umfang beschränkt wird, lässt nämlich nicht die Annahme zu, dass damit ihre souveräne Zuständigkeit für das Ausländerrecht in ihrem Wesensgehalt angetastet worden ist (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Mai 2006, Watts, C-372/04, Slg. 2006, I-4325, Randnr. 121).

59 Zurückzuweisen ist die Auffassung der Regierung des Vereinigten Königreichs, nach dem Urteil Savas könne sich ein türkischer Staatsangehöriger nur dann auf diese Stillhalteklausel berufen, wenn er in einen Mitgliedstaat ordnungsgemäß eingereist sei, wobei es unerheblich sei, ob sein Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat zum Zeitpunkt seines Antrags auf Niederlassung rechtmäßig sei oder nicht; hingegen gelte die Stillhalteklausel nicht für die Voraussetzungen für die erstmalige Einreise eines türkischen Staatsangehörigen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats.

60 Dazu ist festzustellen, dass sich Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls allgemein auf neue Beschränkungen u.a. "der Niederlassungsfreiheit" bezieht und nicht seinen Anwendungsbereich dadurch beschränkt, dass er wie Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 bestimmte besondere Aspekte von dem durch ihn anerkannten Schutzbereich ausnimmt.

63 Es ist somit davon auszugehen, dass die Stillhalteklausel in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls auch auf die Regelung über die erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger in einem Mitgliedstaat anwendbar ist, in dessen Hoheitsgebiet diese von der Niederlassungsfreiheit nach Maßgabe des Assoziierungsabkommens Gebrauch machen wollen.

64 Zum Hilfsvorbringen des Vereinigten Königreichs, dass abgewiesene Asylsuchenden wie den Klägern der Ausgangsverfahren eine Berufung auf Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zu verwehren sei, da jede andere Auslegung letztlich zu einer Unterstützung betrügerischer oder missbräuchlicher Verhaltensweisen führe, ist schließlich zu sagen, dass die Rechtsbürger nach ständiger Rechtsprechung sich nicht auf das Gemeinschaftsrecht berufen können, wenn sie dies in betrügerischer oder missbräuchlicher Absicht tun (Urteil vom 21. Februar 2006, Halifax u.a., C-255/02, Slg. 2006, I-1609, Randnr. 68), und dass die nationalen Gerichte im Einzelfall das missbräuchliche oder betrügerische Verhalten der Betroffenen auf der Grundlage objektiver Umstände berücksichtigen können, um ihnen gegebenenfalls den Vorteil aus den geltend gemachten Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts zu versagen (vgl. u.a. Urteil vom 9. März 1999, Centros, C-212/97, Slg. 1999, I-1459, Randnr. 25).

65 In den Ausgangsverfahren geht jedoch aus den dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht übermittelten Akten hervor, dass die Gerichte, die in den gegenwärtig beim House of Lords anhängigen Rechtssachen über die Tatsachenfragen entschieden haben, ausdrücklich festgestellt haben, dass Herrn Tum und Herrn Dari keine betrügerische Handlung zur Last gelegt werden könne und dass es hier auch nicht um den Schutz berechtigter Interessen des Staates wie der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, gehe (vgl. Randnr. 32 des vorliegenden Urteils).

66 Im Übrigen ist vor dem Gerichtshof nichts Konkretes vorgetragen worden, was die Annahme zuließe, dass sich die Kläger in den Ausgangsverfahren auf die Anwendung der Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls nur berufen hätten, um im Gemeinschaftsrecht vorgesehene Vergünstigungen missbräuchlich zu erlangen.

67 Unter diesen Umständen kann darin, dass Herr Tum und Herr Dari vor ihren Anträgen auf Gestattung der Einreise in das Vereinigte Königreich, um dort von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen, Asylanträge gestellt hatten, die aber von den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats abgelehnt wurden, kein Missbrauch oder Betrug gesehen werden.

68 Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls enthält auch keine Begrenzung seines Anwendungsbereichs etwa gegenüber türkischen Staatsangehörigen, denen der Flüchtlingsstatus von diesen Behörden versagt worden ist, so dass die Ablehnung der Asylanträge von Herrn Tum und Herrn Dari für die Entscheidung, ob diese Bestimmung in den Ausgangsverfahren anwendbar ist, völlig ohne Belang ist.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Art. 41 Abs. 1 des am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichneten und mit der Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Zusatzprotokolls ist dahin auszulegen, dass er es verbietet, von dem Zeitpunkt an, zu dem das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, neue Beschränkungen der Ausübung der Niederlassungsfreiheit einschließlich solcher einzuführen, die die materiell- und/oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet dieses Staates betreffen, die sich dort zur Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit niederlassen wollen.