LSG Hessen

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Zitieren als:
LSG Hessen, Beschluss vom 30.10.2006 - L 9 AY 7/06 ER - asyl.net: M11965
https://www.asyl.net/rsdb/M11965
Leitsatz:

Rechtsmissbräuchliches Verhalten schließt Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG nur dann aus, wenn es sich kausal auf die Aufenthaltsdauer auswirkt; das ist nicht der Fall, wenn vom Ausländer nicht zu vertretende Gründe der Aufenthaltsbeendigung entgegen stehen.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbrauch, Abschiebungshindernis, freiwillige Ausreise, Folgeantrag, Wiederaufgreifensantrag, Passbeschaffung, Mitwirkungspflichten, Kausalzusammenhang, Serbien, Kosovo, Ashkali, Memorandum of Understanding, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1
Auszüge:

Rechtsmissbräuchliches Verhalten schließt Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG nur dann aus, wenn es sich kausal auf die Aufenthaltsdauer auswirkt; das ist nicht der Fall, wenn vom Ausländer nicht zu vertretende Gründe der Aufenthaltsbeendigung entgegen stehen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.

Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.

Ein solcher Anspruch ergibt sich zunächst nicht aus § 2 AsylbLG. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift ist abweichend von den §§ 3 bis 7 das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten Leistungen nach § 3 erhalten haben und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Minderjährige Kinder, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Haushaltsgemeinschaft leben, erhalten Leistungen nach Abs. 1 nur, wenn mindestens ein Elternteil in der Haushaltsgemeinschaft Leistungen nach Abs. 1 erhält (§ 2 Abs. 3 AsylbLG).

Die Antragsteller haben die Dauer ihres Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland selbst rechtsmissbräuchlich beeinflusst.

Durch das Wort "selbst", das sich auf den Leistungsberechtigten nach § 1 Abs. 1 AsylbLG bezieht, wird klargestellt, dass nur solche Umstände im Rahmen des § 2 Abs. 1 AsylbLG relevant sind, die im Verantwortungsbereich des Leistungsberechtigten wurzeln und nicht ausschließlich einem Dritten zuzuordnen sind. Mithin knüpft der Tatbestand des § 2 Abs. 1 AsylbLG unmittelbar an ein Verhalten des Leistungsberechtigten an. Dieses Verhalten kann in einem Tun oder Unterlassen bestehen (Hohm, Leistungsrechtliche Privilegierung nach § 2 Abs. 1 AsylbLG F. 2005, NVwZ 2005, 388, 389).

Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten ist allerdings nicht schon im Hinblick auf die Nutzung der den Antragstellern erteilten Duldungen zu bejahen (ebenso LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 20. Dezember 2005 – L 7 AY 51/05 – InfAuslR 2006, 205). Nach § 60a Abs. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange diese aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Die Vorschrift betrifft allein die Frage, ob tatsächliche oder rechtliche Gründe der Abschiebung eines Ausländers entgegenstehen. Sie trifft aber keine Aussage dazu, ob diese Gründe von dem Ausländer zu vertreten sind oder nicht.

Offen bleiben kann, ob die Weigerung der Antragsteller, freiwillig in ihr Heimatland auszureisen, als rechtsmissbräuchlich anzusehen ist. Diese Möglichkeit hat für die Antragsteller jederzeit bestanden (vgl. Erlass des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport vom 23. Mai 2005 – II 41 - 23 d 05 05 02 - 3/04-05/001). Zum anderen hätten die Antragsteller freiwillig in die Gebiete Serbiens und Montenegros außerhalb des Kosovo ausreisen können (vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 11. November 2005 – 13 K 6402/04 – SAR 2006, 23). In der Rechtsprechung wird insoweit die Auffassung vertreten, dass die Weigerung freiwillig auszureisen zwar die Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet beeinflusse, dies jedoch nicht in rechtsmissbräuchlicher Weise geschehe (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 15. November 2005 – L 7 AY 4413/05 ER-B – SAR 2006, 33; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 20. Dezember 2005 – L 7 AY 51/05 – s.o.).

Die Rechtsmissbräuchlichkeit des Verhaltens folgt hier zum einen daraus, dass die Antragsteller eine Vielzahl von Folge- und Wiederaufgreifensanträgen nach rechtskräftiger Ablehnung ihrer Asylanträge gestellt haben. Sämtliche Anträge blieben erfolglos. Die Antragsteller zu 1) und 2) haben darüber hinaus vorhandene Reisepässe der Ausländerbehörde erst verzögert ausgehändigt und für die Antragsteller zu 3) bis 5) trotz Aufforderung der Ausländerbehörde bis heute keine Pass- oder Passersatzpapiere vorgelegt. Sie haben zudem seit Jahren betont, nicht freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren zu wollen. Durch dieses Verhalten der Antragsteller wird nicht nur eine Verlängerung des Aufenthalts im Bundesgebiet bezweckt, aufenthaltsbeendende Maßnahmen sollen vielmehr dauerhaft verhindert werden.

Die Antragsteller haben durch ihr rechtsmissbräuchliches Verhalten auch die Dauer des Aufenthalts beeinflusst.

Eine Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts ist dann zu bejahen, wenn eine Ausreise aus dem Bundesgebiet andernfalls zu einem früheren Zeitpunkt möglich gewesen wäre, also ein kausaler Zusammenhang zwischen dem rechtsmissbräuchlichen Verhalten und der (möglichen) Beendigung des Aufenthalts besteht. Das LSG Niedersachsen-Bremen nimmt im Hinblick auf den geänderten Wortlaut des § 2 Abs. 1 AsylbLG eine Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts in diesem Sinne nicht nur dann an, wenn eine Ausreise des Leistungsberechtigten zum konkreten Zeitpunkt der Entscheidung über den Leistungsantrag möglich ist, d.h. keine tatsächlichen oder rechtlichen Hindernisse entgegenstehen, sondern auch dann, wenn eine Ausreise aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht in Betracht kommt. Der erkennende Senat sieht allerdings nicht jedes rechtsmissbräuchliche Verhalten des Ausländers als geeignet an, die Dauer des Aufenthalts zu beeinflussen. Eine Beeinflussung in diesem Sinne kann nur dann angenommen werden, wenn aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus vom Ausländer zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden konnten oder können, nicht dagegen, wenn dies für die gesamte Dauer des Aufenthalts aus anderen, vom Ausländer nicht zu vertretenden Gründen ausgeschlossen ist. In letzterem Fall kann ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Ausländers die Dauer des Aufenthalts nicht beeinflusst haben. Es kommt daher darauf an, ob tatsächliche oder rechtliche Gründe der Beendigung des Aufenthaltes entgegenstehen, wobei ein Anspruch auf privilegierte Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG nur bestehen kann, wenn der Ausländer diese Gründe nicht zu vertreten hat.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze haben die Antragsteller die Dauer ihres Aufenthaltes rechtsmissbräuchlich beeinflusst. Ein Abschiebestopp für Ashkali in den Kosovo hat nicht für die ganze Zeit des Aufenthalts der Antragsteller in der Bundesrepublik Deutschland bestanden. Am 31. März 2003 haben der damalige Bundesinnenminister XY. und der UNMIK-Sonderbeauftragte ZQ. ein Memorandum of Understanding (MoU) unterzeichnet, wonach ab dem 1. April 2003 auch Angehörige ethnischer Minderheiten – u.a. Ashkali – in das Kosovo zurückgeführt werden können. Tatsächlich waren diese wegen der Märzunruhen 2004 dann bis Ende April 2005 nicht möglich. Seit Mai 2005 sind aber Rückführungen von Angehörigen ethnischer Minderheiten in das Kosovo nicht mehr ausgesetzt (vgl. Erlass des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport vom 23. Mai 2005 – II 41 - 23 d 05 05 02 - 3/04-05/001). Darauf, ob seit dieser Zeit konkret aufenthaltsbeendende Maßnahmen geplant waren, kommt es entgegen der Auffassung der Antragsteller nicht an.