VG Chemnitz

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Zitieren als:
VG Chemnitz, Urteil vom 03.08.2006 - A 2 K 1220/03 - asyl.net: M11972
https://www.asyl.net/rsdb/M11972
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Taliban, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Kabul, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Krankheit, Versorgungslage, medizinische Versorgung, psychische Erkrankung, Diabetes mellitus, alleinstehende Minderjährige, Skoliose
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG liegen nicht vor.

Unter Beachtung der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismittel und der allgemein zugänglichen Informationen aus den Medien ist nicht mit der hierfür hinreichenden Sicherheit zu schließen, dass die Taliban in absehbarer Zeit im Raum Kabul ein verfolgungsmächtiger, nichtstaatlicher Akteur im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG darstellen könnten. Vielmehr ist weiter davon auszugehen, dass sich die afghanische Regierung zwar einerseits weiter bemühen wird, den (gemäßigten) Kräften innerhalb der Taliban den Weg in die afghanische Gesellschaft zu ebnen (vgl. Lagebericht AA v. 17.03.2007, S. 16), andererseits aber den radikalen Kräften auch mit militärischen Mitteln, insbesondere auch mit Unterstützung der von den USA geführten Militärallianz, entgegentritt.

Für die Kläger besteht jedoch ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG.

Für den Freistaat Sachsen hat das Sächsische Staatsministerium des Innern mit Verfügung vom 21.06.2005 die Anordnung nach § 60 a Abs. 1 AufenthG vom 05.01.2005 (Az.: 46-1365/52) hinsichtlich der Rückführung afghanischer Staatsangehöriger mit sofortiger Wirkung aufgehoben.

Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnissen geht das Gericht davon aus, dass für die Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan derzeit eine solche erhebliche Gefahr für Leib und Leben besteht.

Der Kläger zu 1) ist ausweislich des ärztlichen Attests des Herrn Med.-Rat ... :, Facharzt für Allgemeinmedizin, vom 08.08.2007 wegen eines rezidivierenden depressiven Syndroms mit Anpassungstörungen und sozialer Phobie in ständiger ambulanter psychotherapeutischer und medikamentöser Behandlung. Er erhält Antidepressiva (Fluoxetin und zuletzt Anafranil). Zeitweise ist eine Diazepam-Gabe notwendig.

Bei der Klägerin zu 2) liegt ausweislich des ärztlichen Attests von Herrn Dr. med. ..., Facharzt für innere Medizin, vom 07.08.2007 Diabetes mellitus vor. Die Klägerin ist auf die tägliche sechsmalige Verabreichung von Insulin mittels Spritze angewiesen. Es besteht keine andere Behandlungsmöglichkeit.

Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen ist aufgrund der gravierenden Mängel im Gesundheitswesen (vgl. UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention auf afghanische Flüchtlinge, April 2005) selbst die medizinische Grundversorgung für Rückkehrer ebenso wenig gesichert wie für andere in Afghanistan lebende Menschen (vgl. Informationsverbund Asyl e.V. (Hrsg.), Rückkehr nach Afghanistan, 2005, S. 22). Die medizinische Versorgung ist wegen fehlender Medikamente, Geräte und Ärzte und mangels ausgebildeten Hilfspersonals völlig unzureichend (vgl. Lagebericht AA v. 17.03.2007, S. 24). Die Kläger zu 1) und 2) wären daher nicht in der Lage, in Afghanistan die notwendige ärztliche Behandlung bzw. Medikation zu sichern, so dass ihnen eine erhebliche konkrete Gefahr dadurch droht, dass sich ihre Erkrankungen aufgrund der Verhältnisse im Herkunftsstaat wesentlich verschlimmert (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 17.10.2006 - 1 C 18.05 -).

Für die minderjährigen Kläger zu 3) bis 6 bestünde eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben bereits deshalb, weil sie im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan ohne ihre Eltern schutzlos wären. Es wäre für sie wegen der schwierigen Versorgungslage in keiner Weise gesorgt (vgl. Informationsverbund Asyl e.V. (Hrsg.), Rückkehr nach Afghanistan, 2005, S. 23).

Wie sich zudem aus den vorgelegten Stellungnahmen des Facharztes für Orthopädie ... vom 15.08.2007 ergibt, besteht zudem für die Kläger zu 3 bis 6) eine unterschiedlich ausgeprägte Skoliose, die eine tägliche (Klägerin zu 5) bzw. regelmäßige (Klägerinnen zu 4 und 6) physiotherapeutische Behandlung erforderlich macht. Beim Kläger zu 3) ist derzeit lediglich eine häusliche Krankengymnastik erforderlich. Insbesondere bei der 2007 operierten Klägerin zu 5) besteht die Notwendigkeit eines weiteren operativen Eingriffs. Bei der Klägerin zu 6) ist die Notwendigkeit eines operativen Eingriffs "noch" nicht notwendig, jedoch auch nicht ausgeschlossen. Auch hinsichtlich der Kläger zu 3) bis 5) wären daher die notwendige ärztliche Behandlung nicht sichergestellt.