VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 18.10.2007 - 2 A 208/07 - asyl.net: M11976
https://www.asyl.net/rsdb/M11976
Leitsatz:

Ausländern sind von vornherein aussichtslose Mitwirkungshandlungen nicht zuzumuten (hier: Passbeschaffung für Kurden aus Syrien).

 

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Ausreisehindernis, Syrien, Kurden, Passlosigkeit, Passbeschaffung, Mitwirkungspflichten, Zumutbarkeit, Ursächlichkeit, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Passpflicht, Lebensunterhalt, atypischer Ausnahmefall, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5; AufenthG § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Auszüge:

Ausländern sind von vornherein aussichtslose Mitwirkungshandlungen nicht zuzumuten (hier: Passbeschaffung für Kurden aus Syrien).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kläger haben im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung einen Anspruch auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 5 AufenthG.

Sowohl die zwangsweise Beendigung des Aufenthalts der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland als auch ihre freiwillige Ausreise nach Syrien sind aus tatsächlichen Gründen unmöglich, weil sie nicht über die dafür erforderlich Personaldokumente verfügen. Mit einem Wegfall dieses Ausreisehindernisses ist nicht in absehbarer Zeit zu rechnen. Als absehbare Zeit hat die Kammer mit Urteil vom 11.2.2005 (2 A 355/03, bestätigt durch Beschluss des Nds. Oberverwaltungsgerichts vom 4.1.2006 - 10 LA 41/05) einen Zeitraum von drei Monaten angesehen. Dies trägt dem gesetzgeberischen Zweck des § 25 Abs. 5 AufenthG Rechnung, die früher übliche Praxis der Erteilung von Kettenduldungen zu beenden. Es ist im Zeitpunkt dieser Entscheidung nicht damit zu rechnen, dass es innerhalb eines Zeitraumes von drei Monaten gelingen wird, für die Kläger von der syrischen Botschaft Pass- oder Passersatzpapiere zu erlangen. Im März 2007 hat sich der Beklagte unter Vorlage von Originalpersonenstandsregisterauszügen der Kläger an die syrische Botschaft mit der Bitte gewandt, Personaldokumente für die Kläger auszustellen. Bis heute ist offenbar nicht einmal eine Eingangsbestätigung durch die Botschaft erfolgt. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass sich diese Haltung in absehbarer Zeit ändern wird. Für diese Einschätzung ist maßgeblich, dass die Kläger Kurden sind und solche von syrischen Behörden grundsätzlich keinen Nationalpass erhalten, weil sie als unerwünschte Volksgruppe gelten und aus Sicht des syrischen Staates staatenlos sind (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 9.11.2005 - 3 L 264/03; VG Hannover, Urteil vom 23.8.2005 - 2 A 1478/03-, jeweils zitiert nach juris).

Der Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen an die Kläger steht § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG nicht entgegen. Allerdings ist ein Ausländer, der, wie die Kläger, einen gültigen Pass oder Passersatz nicht besitzt, gemäß § 48 Abs. 3 AufenthG verpflichtet, an der Beschaffung des Identitätspapiers mitzuwirken. Eine derartige Mitwirkung haben die Kläger in der Vergangenheit vermissen lassen. Indes rechtfertigt dies nicht den Vorwurf zumutbare Anforderungen zur Beseitigung der Ausreisehindernisse nicht erfüllt zu haben. Denn zum einen sind derartige Anstrengungen für die Kläger nicht zumutbar, zum anderen ist unabhängig davon das Fehlen derartiger Anstrengungen im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mehr ursächlich für das Bestehen eines tatsächlichen Ausreisehindernisses.

Was dem Ausländer an Handlungen zuzumuten ist, beantwortet sich unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls. Allerdings dürfen dem Ausländer von vornherein erkennbar aussichtlose Handlungen nicht abverlangt werden (BVerwG, Beschluss vom 15.6.2006 - 1 B 54/06 -, zitiert nach juris; Beschluss vom 16.12.1998 - 1 B 105/98 -, Buchholz 402.240 § 30 AuslG 1990 Nr. 10). So wäre es jedoch im Fall der Kläger, wollte man sie zur Mitwirkung an der Beschaffung von Pass- oder Passersatzpapieren anhalten. Denn nach dem oben Gesagten sind derartige Bemühungen für Kurden aus Syrien von vornherein zum Scheitern verurteilt. Selbst wenn man dies nicht so sehen wollte und zumindest ihre Mitwirkung an der Beschaffung von Personenstandsregisterauszügen als erforderlich ansehen wollte, die letztlich vom Beklagten auch tatsächlich beschafft werden konnten, so kann ihnen ein solches Unterlassen im Zeitpunkt dieser Entscheidung nicht - mehr - vorgehalten werden. Denn die tatsächliche Unmöglichkeit ihrer Ausreise beruht nicht mehr ursächlich auf einem solchen Unterlassen. Wie aus den Bemühungen des Beklagten seit März diesen Jahres ersichtlich ist, ist der syrische Staat auch bei Vorlage dieses Registers offenbar nicht bereit, Personaldokumente für die Kläger auszustellen. Da § 25 Abs. 5 AufenthG nicht den Charakter einer Sanktionsnorm für vergangenes, möglicherweise pflichtwidriges Verhalten hat, kommt es aus Rechtsgründen auf eine etwaige, in der Vergangenheit liegende, aktuell aber für das Bestehen eines Ausreisehindernisses nicht mehr ursächliche Verletzung von Mitwirkungspflichten nicht an.

Der Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen an die Kläger steht schließlich auch nicht ein Regelversagungsgrund des § 5 Abs. 1 AufenthG entgegen. Insbesondere gelangt § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht zum Tragen. Danach setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass die Passpflicht nach § 3 erfüllt wird und u.a. gemäß Nr. 1 der Lebensunterhalt gesichert ist. Beide Voraussetzungen erfüllen die Kläger nicht. Zwar ist dieser Regelversagungsgrund auch im Anwendungsbereich von § 25 Abs. 5 AufenthG zu beachten (Urteil der Kammer vom 25.1.2007 - 2 A 264/05 -), die Kläger können sich jedoch auf einen durch einen atypischen Geschehensablauf gekennzeichneten Ausnahmefall berufen, der das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelvermutung beseitigt. Ein solcher atypischer Sonderfall ist vor allem dann anzunehmen, wenn die Versagung der Aufenthaltserlaubnis mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen nicht vereinbar wäre. Eine derartige Wertentscheidung ist u.a. der aus Art 1 Abs. 1 GG abgeleitete Grundsatz, dass niemand zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden darf (vgl. nur BVerfG, Urteil vom 3.3.2004 - 1 BvR 2378/98, 1 BvR 1084/99, BVerfGE 109, 279-391). Man würde die Kläger jedoch zum bloßen Objekt staatlichen Handelns machen, wenn man ihnen die von ihnen nicht verschuldete und in absehbarer Zeit nicht zu beseitigende Passlosigkeit, die erst den Anwendungsbereich des § 25 Abs. 5 AufenthG eröffnet, als Versagungsgrund nach § 5 Abs. 1 AufenthG anspruchsvernichtend entgegenhalten würde. Denn ihnen ist es nicht möglich, den Regelversagungsgrund zu beseitigen. Weil ebenso wenig absehbar ist, wann die Kläger ihren Lebensunterhalt im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu sichern in der Lage sein werden, hätte das Eingreifen des Regelversagungsgrundes zur Folge, dass dem bei ihnen vorliegenden tatsächlichen Abschiebungshindernis auch weiterhin nur durch die Erteilung von (Ketten-) Duldungen Rechnung getragen werden könnte. Dies wiederum widerspräche einerseits der Funktion einer Duldung, die nur ein Instrument des zeitweisen Vollstreckungsaufschubes, nicht aber ein ersatzweises Aufenthaltsrecht sein soll (BVerwG, Urteil vom 4.6.1997 - 1 C 9/95 -, BVerwGE 105, 35, 43) und andererseits dem in Kenntnis dieser Rechtsprechung mit § 25 Abs. 5 AufenthG verfolgten gesetzgeberischen Zweck.

Mithin haben die Kläger Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung des Beklagten über die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen, denn nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG kann einem Ausländer bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen ein solcher Aufenthaltstitel erteilt werden. Dieses Ermessen ist hier jedoch auf Null reduziert, so dass nur die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen an die Kläger ermessensgerecht im Sinne von § 114 Satz 1 VwGO ist. Zunächst greift zugunsten der Kläger § 25 Abs. 5 Satz 2, wonach die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden soll, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist. Dies ist bei den Klägern der Fall. Eine Entscheidung zuungunsten der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen kommt damit nur in Betracht, wenn, von dem Beklagten zu belegende oder sonst ersichtliche Gesichtspunkte erkennbar sind, die dies ausnahmsweise rechtfertigen. Derartige Gesichtspunkte sind vom Beklagten weder vorgetragen worden noch sonst aus den Akten ersichtlich.