VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 04.10.2007 - 5 A 4386/06 - asyl.net: M11977
https://www.asyl.net/rsdb/M11977
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung in der Türkei wegen exilpolitischer Betätigung im Umfeld der PKK

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Grundsätze der Vereinten Nationen, PKK, Sympathisanten, Unterstützung, Deutsch-Kurdischer Freundschaftsverein, Interview, MEDYA-TV, exilpolitische Betätigung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, politische Entwicklung, Reformen, Menschenrechtslage, Kurden
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8; AsylVfG § 3 Abs. 2 Nr. 3
Auszüge:

Keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung in der Türkei wegen exilpolitischer Betätigung im Umfeld der PKK

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Widerruf lässt sich nicht damit begründen, dass sich nach der bestandskräftigen Anerkennung in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 S. 2 3. Alternative AufenthG (früher: § 51 Abs. 3 S. 2 3. Alternative AuslG und nunmehr § 3 Abs. 2 Nr. 3 AsylVfG) erfüllt haben. Denn der diesbezüglich in dem angefochtenen Bescheid erhobenen Vorwurf, der Kläger habe sich wegen seiner Tätigkeiten als Raumverantwortlicher der terroristischen PKK/KONGRA GEL im Raum Wilhelmshaven/Varel Handlungen zu Schulden kommen lassen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwider liefen, lässt sich nach der Stellungnahme des Nds. Landesamtes für Verfassungsschutz am 28. November 2006 nicht aufrecht erhalten. Das Landesamt ist nicht in der Lage, den das Jahr 2004 (und zuvor) betreffenden Vorwurf durch ein Behördenzeugnis mittelbar zu beweisen, zumal der sich auf eine Einzelmeldung zurückzuführende Sachverhalt bei nachträglich Aufklärung (Lichtbildvorlage bei nachrichtlichen dienstlichen Quellen im Herbst 2006) nicht bestätigen ließ.

Der Widerruf kann auch nicht auf eine nachträgliche entscheidungserhebliche Veränderung der maßgeblichen Verhältnisse im Vergleich zu denjenigen zum Zeitpunkt der Anerkennungsentscheidung (25. November 1999) nach den o.g. Maßstäben gestützt werden. Die Flüchtlingsanerkennung des Klägers erfolgte, da ihm seinerzeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in die Türkei politisch motivierte Verfolgung drohte, weil er sich als Vorstandsmitglied des Deutsch-Kurdischen Freundschaftsvereins Oldenburg e.V. und durch ein im August 1999 geführtes Live-Interview im kurdischen Fernsehsender MEDYA-TV systemkritisch engagiert und für türkische Behörden erkennbar als PKK-Sympathisant dargestellt hat. Die Verhältnisse haben sich zwischenzeitlich trotz der von der Beklagten dargestellten Reformen in der Türkei nicht so gravierend verändert, dass an dieser Wertung nicht länger festgehalten werden müsste. Zwar ist dem Bundesamt zuzugeben, dass sich die innenpolitische Situation und die Sicherheitslage in der Türkei zwischenzeitlich schon deutlich gebessert haben. Insoweit erweist sich auch die Darstellung in dem angefochtenen Bescheid und in dem gerichtlichen Verfahren im Wesentlichen als zutreffend. Nach den o.g. Maßstäben setzt die Rechtmäßigkeit eines Widerruf aber voraus, dass sich die Verhältnisse im Herkunftsstaat tatsächlich in einer Weise verändert (d.h. verbessert) haben, dass sich eine für die Flucht maßgebliche Verfolgungsmaßnahme auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausschließen lässt. Eine derartige Prognoseentscheidung lässt sich hier nicht treffen. Denn die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte geht nach Auswertung aktueller Erkenntnismittel nach wie vor davon aus, dass es in der Türkei trotz der eingeleiteten Reformen immer noch zu menschenrechtswidriger Behandlung von inhaftierten Regimegegnern kommt, insbesondere, wenn sie der Begehung von Staatsschutzdelikten verdächtigt werden. Neben wegen entsprechenden Verdachts vorverfolgten Asylbewerbern gelten als besonders gefährdet Personen, die durch ihre Nachfluchtaktivitäten als exponierte und ernst zu nehmende Gegner des türkischen Staates in Erscheinung getreten sind und die sich dabei nach türkischem Strafrecht strafbar gemacht haben (vgl. OVG NW, Urt. vom 17. April 2007 - 8 A 2771/06.A -; Nds. OVG, Urteile vom 25. Januar 2007 - 11 LB 4/06 - und vom 18. Juli 2006 - 11 LB 75/06; OVG Rh.- Pf., Urteil vom 1. Dezember 2006 - 10 A 10887/06.OVG - m.w.N.; zur Rückkehrgefährdung vgl. auch Kaya, Stellungnahme vom 22. Mai 2007 an Rechtsanwalt Dr. Härdle, Bl. 80 ff. GA). Dies gilt insbesondere für Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten oder als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden.

Eine wesentliche Veränderung der individuellen Verhältnisse lässt sich auch nicht mit der (neueren) Annahme des Bundesamtes begründen, der Kläger habe sich nach Ende 1999 nicht mehr nennenswert exilpolitisch betätigt. Zwar spricht einiges für die Richtigkeit dieser Annahme. Denn unabhängig von einem Anlass für Nachforschungen türkischer Sicherheitsbehörden wegen regimekritischer Betätigungen aus jüngerer Zeit drohen dem Kläger schon allein wegen seines regimefeindlichen Einsatzes in der Vergangenheit bei einer Rückkehr in die Türkei strafrechtliche Ermittlungen, Festnahmen und Verhöre, bei denen sich die Gefahr der Misshandlung und Folter nicht mit hinreichender Sicherheit ausschließen lässt. Dieser strenge Prognosemaßstab ist hier anzuwenden, da sich der Kläger nicht auf eine gänzlich neue und andersartige Verfolgung, sondern auf die ursprüngliche Verfolgung wegen exponierter exilpolitischer Betätigung beruft.