OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 12.09.2007 - 8 LB 34/06 - asyl.net: M11980
https://www.asyl.net/rsdb/M11980
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Widerruf, Niederlassungserlaubnis, Asylberechtigte, Konventionsflüchtlinge, Ermessen, Lebensunterhalt, Mitwirkungsobliegenheiten, Familienangehörige, Kinder, in Deutschland geborene Kinder, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Privatleben, Integration, Zumutbarkeit, Situation bei Rückkehr, Ablehnungsbescheid, Bindungswirkung
Normen: AufenthG § 52 Abs. 1 S. 1 Nr. 4; EMRK Art. 8 Abs. 1; AufenthG § 42 S. 1
Auszüge:

Die Ausländerbehörde muss bei der Ermessensausübung nach § 52 Abs. 1 AufenthG von Amts wegen erkennbare Folgen des Widerrufs des Aufenthaltstitels für Familienangehörige (insbesondere den Schutz des Privatlebens nach Art. 8 EMRK) berücksichtigen; zielstaatsbezogene Umstände sind auch zu berücksichtigen, wenn das Bundesamt das Vorliegen von Abschiebungshindernissen abgelehnt hat.

(Leitsätze der Redaktion)

 

Im Übrigen ist die Berufung der Beklagten gegen das die Kläger zu 1) bis 4) betreffende Urteil des Verwaltungsgerichts zwar zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt und durch die Bezugnahme auf die Begründung des Zulassungsantrags auch ordnungsgemäß begründet worden (vgl. BVerwG, Beschl. v. 4.5.2006 - 6 B 77/05 -, Buchholz 310 § 124a VwGO Nr. 31, m.w.N.). Die Berufung ist aber unbegründet, da das Verwaltungsgericht der von den Klägern zu 1) bis 4) erhobenen Anfechtungsklage im Ergebnis zu Recht stattgegeben hat.

Als Rechtsgrundlage für den Widerruf der den Klägern zu 1) bis 4) noch unter Geltung des Ausländergesetzes erteilten unbefristeten Aufenthaltserlaubnisse, die nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes gemäß dessen § 101 Abs. 1 Satz 1 als Niederlassungserlaubnisse fortgelten, kommt nur § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG in Betracht. Mit dem bestandskräftigen Widerruf der Anerkennung der Kläger zu 1) bis 4) als Asylberechtigte und ihrer Rechtsstellung als Flüchtlinge sind die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm gegeben. Der Beklagten ist auch in der Annahme zu folgen, dass den Klägern zu 1) bis 4) kein Anspruch auf Erteilung einer anderweitigen, asylunabhängigen Niederlassungserlaubnis zusteht.

Der Widerruf der Niederlassungserlaubnis steht somit im Ermessen der Beklagten. Die Beklagte hat dieses Ermessen fehlerhaft ausgeübt und dadurch die Kläger zu 1) bis 4) in ihren Rechten verletzt.

Prüfprogramm der Ermessensentscheidung ist die Frage, ob es im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, auf den es bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei der vorliegenden Anfechtungsklage maßgeblich ankommt, gerechtfertigt gewesen ist, dem Ausländer die asyl- bzw. flüchtlingsbedingt erteilte Niederlassungserlaubnis zu entziehen, oder ob diese Form des Aufenthaltstitels zu belassen war. Eine Zwischenlösung gibt es hingegen nicht. Der Gegenstand des Widerrufs ist nicht teilbar. Der Widerruf kann also nicht dahingehend beschränkt werden, dass dem Ausländer eine Niederlassungserlaubnis entzogen wird, dafür zumindest aber eine (befristete) Aufenthaltserlaubnis "verbleibt". Über die Erteilung eines solchen, im Verhältnis zur Niederlassungserlaubnis "geringwertigeren" Aufenthaltstitels ist vielmehr in einem gesonderten Verfahren zu entscheiden (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2003 - 1 C 13/02 -, BVerwGE 117, 380, 391 zu § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG als Vorgängervorschrift des § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG; VGH Mannheim, Urt. v. 26.7.2006 - 11 S 951/06 -, ZAR 2006, 414 ff.; Hailbronner, Ausländerrecht, § 52 AufenthG, Rn. 31; unklar: OVG Saarlouis, Beschl. v. 23.5.2006 - 2 W 9/06 -, sowie Schäfer, in: GK-AufenthG, § 52 AufenthG, Rn. 88, 96). Ob dem betroffenen Ausländer ein Anspruch auf Erteilung einer (im Verhältnis zur Niederlassungserlaubnis geringwertigeren) befristeten Aufenthaltserlaubnis, etwa nach § 25 Abs. 4 oder 5 AufenthG zusteht, ist im Rahmen der Ermessensentscheidung über den Widerruf der Niederlassungserlaubnis gleichwohl nicht von vornherein vollkommen unerheblich. Vielmehr kann und muss dieser Gesichtspunkt gegebenenfalls in die Ermessensentscheidung über den Widerruf gemäß § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG eingestellt werden. Denn es macht insoweit einen Unterschied, ob mit dem Widerruf zugleich zwingend das Verlassen des Bundesgebiets verbunden ist oder der Betroffene im Falle eines Anspruchs auf Erteilung eines geringwertigeren Aufenthaltstitels "nur" seinen höherwertigen Aufenthaltstitel, nicht aber darüber hinausgehend auch das Recht auf Verbleib im Bundesgebiet verliert (so zutreffend VGH Mannheim, a.a.O., sowie OVG Münster, Beschl. v. 7.7.2006 - 18 A 3138/05 -, InfAuslR 2006, 427 ff.).

Darüber hinaus hat der Gesetzgeber das der Behörde nach § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG eröffnete Widerrufsermessen nicht an ausdrücklich bestimmte Vorgaben geknüpft, sondern ihr insoweit einen weiten Spielraum eröffnet. Die Behörde darf dabei grundsätzlich davon ausgehen, dass in der Regel ein gewichtiges öffentliches Interesse an dem Widerruf des Aufenthaltstitels besteht. Bei ihrer Ermessensausübung muss die Ausländerbehörde allerdings sämtliche Umstände des Einzelfalls und damit auch die schutzwürdigen Belange des Ausländers an einem weiteren Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland in den Blick nehmen. Dazu gehören insbesondere auch die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2003, a.a.O.). Diese noch zu § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG als Vorgängervorschrift des § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG ergangene Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist auch auf den Widerruf gemäß § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG zu übertragen.

Gemessen an diesen Vorgaben ist die Widerrufsentscheidung der Beklagten ermessensfehlerhaft i.S.v. § 114 Satz 1 VwGO.

Die Beklagte ist entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts allerdings zu Recht davon ausgegangen, dass der notwendige Lebensunterhalt der Kläger nicht aus eigenen Mitteln im Sinne des § 2 Abs. 3 AufenthG gesichert war.

Ungeachtet dessen ist die Ermessensentscheidung der Beklagten aber deshalb rechtsfehlerhaft, weil die schutzwürdigen Belange der im Bundesgebiet geborenen und hier ausschließlich aufgewachsenen Kläger zu 3) bis 5) unzureichend berücksichtigt worden sind. Zwar haben die Kläger zu 1) und 2) trotz Hinweises auf ihre Mitwirkungsobliegenheiten nach § 70 AuslG bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der Behördenentscheidung im Januar 2005 insoweit lediglich Bescheinigungen über den Schulbesuch ihrer Kinder vorgelegt. Unabhängig davon war der Beklagten aus den Ausländerakten aber bekannt und von ihr daher zu berücksichtigen (vgl. Beschl. des 10. Senats des erkennenden Gerichts v. 5.3.2007 - 10 ME 64/07 -, juris), dass die Kläger zu 3) und 4) ebenso wie der Kläger zu 5) im Bundesgebiet geboren und hier aufgewachsen sind. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Kinder zwischenzeitlich mit ihren Eltern in Serbien oder Montenegro aufgehalten haben, und sei es auch nur urlaubshalber, bestehen nicht. Bei dieser Sachlage musste sich die Beklagte auch ohne ausdrücklichen Vortrag der Kläger im Rahmen ihrer Ermessenserwägungen mit der Frage beschäftigen, ob und unter welchen Schwierigkeiten den Klägern zu 3) und 4) sowie ihrem Bruder, dem Kläger zu 5), eine Eingliederung (nicht: Wiedereingliederung) in die Verhältnisse im Kosovo möglich sein wird und ob sie hierauf in Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung der gesamten Familie verwiesen werden können. In diesem Zusammenhang hätte insbesondere auch geprüft werden müssen, ob den Klägern zu 3) und 4) nicht insoweit Abschiebungsschutz kraft ihres nach Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Privatlebens zukommt (vgl. zum Schutzgehalt dieser Bestimmung zu Gunsten von (volljährigen) Ausländern der sog. 2. Generation jüngst etwa: BVerfG, Beschl. v. 10.5.2007 - 2 BvR 304/07 -, InfAuslR 2007, 275 ff., sowie EGMR, Entscheidung v. 28.6.2007 - 31753/02 - Kaya./.Deutschland -, (2007) EGMR 538, jetzt auszugsweise abgedruckt in InfAuslR 2007, 325 f.). Bejahendenfalls wäre zu prüfen gewesen, ob deshalb vom Widerruf der Niederlassungserlaubnisse abgesehen wird oder ob die Kläger zu 3 und 4) und ihre Eltern insoweit auf die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 8 EMRK verwiesen werden können und sollen. Dieser gebotenen Prüfung steht auch für die Kläger zu 3) und 4) nicht bereits die Bestandskraft des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 23. Oktober 2003 entgegen, mit dem (u.a.) das Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG verneint worden ist. Damit ist für die Beklagte als Ausländerbehörde gemäß § 42 Satz 1 AufenthG nur bindend festgestellt worden, dass den betroffenen Klägern - für den Kläger zu 5) gilt dies ohnehin nicht, da für ihn kein Asylverfahren durchgeführt worden ist - in (dem damaligen) Serbien und Montenegro keine existentiellen Gefahren drohen. Dass ihnen unterhalb dieser Gefahrenschwelle keine Schwierigkeiten drohen, ist damit hingegen nicht entschieden worden. Solche Schwierigkeiten sind aber im Rahmen der Ermessensentscheidung über den Widerruf nach § 52 Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigen (vgl. VGH Kassel, Beschl. v. 28.5.2003 - 12 ZU 2805/02 -, ESVGH 53, 221 ff.; Hailbronner, a.a.O., Rn. 32).

Denn es macht gerade einen erheblichen Unterschied, ob ein in seinem Heimatland aufgewachsener und erst im Erwachsenenalter ins Bundesgebiet eingereister Ausländer nach ggf. auch langjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet - wie die Kläger zu 1) und 2) - darauf verwiesen wird, wieder in sein Heimatland zurückzureisen, oder dies auch einheitlich für eine Familie gelten soll, deren Kinder im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen sind und die deshalb das Land ihrer Staatsangehörigkeit gar nicht kennen. Insoweit kann sich die Beklagte auch nicht erfolgreich auf den Grundsatz berufen, dass Kinder ausländerrechtlich das Schicksal der Eltern teilen. Denn bei der hier zu beurteilenden Ermessensentscheidung sind gerade sämtliche Umstände des Einzelfalles in den Blick zu nehmen. Außerdem lässt das Aufenthaltsgesetz auch im Übrigen Durchbrechungen des geltend gemachten Grundsatzes zu, wenn sich die ausländerrechtliche Lage der Kinder etwa durch eine Sozialisation im Bundesgebiet entscheidend von der ihrer Eltern unterscheidet, wie auch aus § 104 b AufenthG deutlich wird.