OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 27.09.2007 - 11 LB 108/07 - asyl.net: M11981
https://www.asyl.net/rsdb/M11981
Leitsatz:

Während der Minderjährigkeit eines Kindes kann dessen durch eine Täuschungshandlung der Eltern erlangte Einbürgerung grundsätzlich jedenfalls dann zurückgenommen werden, wenn es dadurch nicht staatenlos wird.

 

Schlagwörter: D (A), Einbürgerung, Rücknahme, Kurden, Libanon, Türkei, Türken, Falschangaben, arglistige Täuschung, Rechtsgrundlage, Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit, Kinder, Zurechenbarkeit, Eltern, Staatenlosenübereinkommen, Europäisches Staatenlosenübereinkommen, Ermessen, Ausweisung, nachträgliche Befristung, Aufenthaltserlaubnis
Normen: VwVfG § 48 Abs. 1; StlÜbk Art. 6; StlÜbk Art. 8; euStlÜbk Art. 7; AGStlÜbk Art. 2; GG Art. 16 Abs. 1; AufenthG § 95 Abs. 2 Nr. 2; AufenthG § 55 Abs. 2; AufenthG § 7 Abs. 2 S. 2
Auszüge:

Während der Minderjährigkeit eines Kindes kann dessen durch eine Täuschungshandlung der Eltern erlangte Einbürgerung grundsätzlich jedenfalls dann zurückgenommen werden, wenn es dadurch nicht staatenlos wird.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Die Einbürgerung dieser Kläger beruhte auf Art. 2 des Ausführungsgesetzes zu dem Übereinkommen vom 30. August 1961 zur Verminderung der Staatenlosigkeit und zu dem Übereinkommen vom 13. September 1973 zur Verringerung der Fälle von Staatenlosigkeit (v. 29.6.1977 i. d. F. v. 15.7.1999 - BGBl. 1977, 1101; 1999, 1618, abgedruckt bei Hailbronner, Staatsangehörigkeitsrecht, 4. Aufl. 2005, S. 1056, 1170 u. 1187 - sog. Gesetz zur Verminderung der Staatenlosigkeit). Danach wird ein seit der Geburt Staatenloser auf seinen Antrag eingebürgert, wenn er im Geltungsbereich des Bundesgebietes geboren ist, seit fünf Jahren rechtmäßig seinen dauernden Aufenthalt im Bundesgebiet hat und der Antrag vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt ist. Nach dem Kenntnisstand des Beklagten waren die Kläger zu 3) bis 5) im Zeitpunkt der Einbürgerung (1999) staatenlos, weil ihre Eltern sich seit ihrer Einreise in das Bundesgebiet kontinuierlich als staatenlose Kurden aus dem Libanon bezeichnet hatten. Nachdem der Beklagte anhand eines türkischen Personenregisterauszuges im Mai 2004 festgestellt hatte, dass die Kläger tatsächlich türkische Staatsangehörige waren und die Kläger zu 1) und 2) auch einräumten, bis zur Einreise in das Bundesgebiet bei .../Mardin in der Türkei gelebt zu haben, konnte der Beklagte die Einbürgerungen zurücknehmen. Rechtsgrundlage hierfür ist § 1 Nds. VwVfG i.V.m. § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG.

a) Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Mai 2006 (- 2 BvR 669/04 - InfAuslR 2006, 335 = DVBl. 2006, 910) steht der Anwendung von § 48 VwVfG nicht entgegen.

aa) Zum einen sind die zitierten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts lediglich als obiter dicta zu werten. Obiter dicta können aber keine Bindungswirkung entfalten (vgl. Strecker, Subjektive und objektive Grenzen der Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG, DÖV 1995, 978,984).

bb) Zum anderen sind die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts deswegen nicht auf den vorliegenden Fall zu übertragen, weil in dem vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall bei Aufhebung der Einbürgerung die Staatenlosigkeit des Betreffenden (bzw. seiner Kinder, wenn es welche gegeben hätte) drohte. Staatenlosigkeit steht im vorliegenden Verfahren jedoch nicht zu befürchten; die Kläger sind vielmehr (eindeutig) türkische Staatsangehörige.

cc) Schließlich ermöglicht § 48 VwVfG auch für die vorliegende Fallkonstellation eine "ausreichend vorhersehbare Verwaltungsentscheidung" im Sinne der o.a. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

Darüber hinaus sind die Rücknahmekriterien von Einbürgerungen an vergleichbaren Regelungen in internationalen Übereinkommen auszurichten.

Zusammenfassend lässt sich beiden internationalen Übereinkommen nach Sinn und Zweck als Mindestaussage entnehmen, dass während der Minderjährigkeit eines Kindes grundsätzlich ein Verlust der Staatsangehörigkeit festgestellt werden kann, soweit dadurch keine Staatenlosigkeit eintritt.

Im Ergebnis ist daher davon auszugehen, dass § 48 VwVfG eine zureichende Rechtgrundlage darstellt.

b) Die Voraussetzungen für eine Rücknahme nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG liegen vor.

aa) Da die Kläger zu 3) bis 5) tatsächlich nie staatenlos waren, sind ihre Einbürgerungen von Anfang an rechtswidrig gewesen.

bb) Die Einbürgerungen sind durch bewusste Täuschung (§ 48 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG) erlangt worden. Die Kläger zu 3) bis 5) müssen sich insoweit das Verhalten ihres gesetzlichen Vertreters zurechnen lassen (vgl. BVerwG, Urt. v. 9.9.2003 - 1 C 6/03 - BVerwGE 119, 17 = InfAuslR 2004, 77).

cc) Der Beklagte hat sein Rücknahmeermessen erkannt und dieses fehlerfrei ausgeübt. Er hat bei seiner Entscheidung berücksichtigt, dass die 1989, 1991 und 1994 geborenen Kläger zu 3) bis 5) an den Täuschungshandlungen, die zu ihrer Einbürgerung geführt haben, nicht beteiligt waren - dazu wären sie aufgrund ihres Altes im Zeitpunkt der Einbürgerung im Jahre 1999 (10, 8 und 5 Jahre) auch gar nicht imstande gewesen - und dass die Kläger im Bundesgebiet geboren wurden, auf einen weiteren Verbleib im Bundesgebiet vertraut haben und zudem seit 1999 glaubten, deutsche Staatsangehörige zu sein. Er hat die zum Nachweis der Integration vorgelegten Schulbescheinigungen für die Kinder zur Kenntnis genommen.

Den dort genannten Gesichtspunkten hat der Beklagte ermessensfehlerfrei kein wesentliches Gewicht beigemessen.

Allein die zwischen der Einbürgerung und ihrer Rücknahme verstrichene Zeit von rd. fünf Jahren führt nicht zur Einschränkung des Ermessens.

Zum einen haben die Kläger zu 1) und 2) für sich und ihre Kinder noch im April 2003 ausdrücklich an den unzutreffenden Personalien festgehalten; auch konnte der Beklagte erst im Mai 2004 nachweisen, dass es sich um türkische Staatsangehörige handelt. Zum anderen waren die Kläger zu 3) bis 5) im Zeitpunkt der Rücknahme der Einbürgerung ca. 16, 13 und 10 Jahre alt, befanden sich also noch nicht in einem Alter, in dem Kinder üblicherweise ein eigenes schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand ihrer Staatsangehörigkeit entwickelt haben (vgl. zu diesem Gesichtspunkt Urt. d. erk. Gerichts v. 13.7.2007 - 13 LC 468/03 - juris). Die Kläger zu 3) bis 5) waren noch minderjährig, unterlagen der Weisungsbefugnis ihrer Eltern und hätten mit ihnen - wenn die Eltern das bestimmt hätten - auch in die Türkei ausreisen müssen.

Der nachgewiesenen Integration der Kläger zu 3) bis 5) im Bundesgebiet hat der Beklagte ermessensfehlerfrei entgegengehalten, dass die Kinder aufgrund ihres Alters in der Türkei noch die dortige Sprache erlernen und sich auch sonst in die dortigen Verhältnisse integrieren können.