VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 17.10.2007 - 8 E 1047/06.A (1) - asyl.net: M11984
https://www.asyl.net/rsdb/M11984
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, Gruppenverfolgung, Flüchtlingsbegriff, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, nichtstaatliche Akteure, Anerkennungsrichtlinie, Frauen, Flüchtlingsfrauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Vergewaltigung, Misshandlungen, Polizei, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, politische Überzeugung, Sippenhaft, soziale Gruppe, politische Entwicklung, Reformen, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Morddrohungen, Familienangehörige, Ehrenmord, interne Fluchtalternative
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 2 Bst. a; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 2 Bst. f; RL 2004/83/EG Art. 8; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung nach Vergewaltigung einer Kurdin aus der Türkei durch Polizeibeamte; ken Schutz vor Verfolgung durch staatliche Akteure; Flüchtlingsanerkennung wegen Gefahr des "Ehrenmordes"; kein effektiver staatlicher Schutz gegen Ehrverbrechen; keine inländische Fluchtalternative

(Leitsätze der Redaktion)

 

Die Klage ist auch begründet.

Den Klägerinnen steht in dem für die gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ein Anspruch auf die Feststellung ihrer Flüchtlingseigenschaft zu.

Das Gericht konnte sich jedoch aufgrund des in sich widerspruchsfreien und stimmigen Vortrags der Klägerin zu 1) von dessen Wahrheit und damit von ihrer politisch motivierten Einzelverfolgung vor ihrer Ausreise überzeugen.

Die Angaben der Klägerin zu 1) über ihre Misshandlung und ihre Vergewaltigung erachtet das Gericht als glaubhaft.

Mit dem Bundesamt geht das Gericht davon aus, dass es sich bei der Vergewaltigung durch vier Männer um Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 a) Qualifikationsrichtlinie handelte, nämlich um die Anwendung physischer, insbesondere sexueller Gewalt und um Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen (Art. 9 Abs. 2 lit. a) und f) Qualifikationsrichtlinie).

Gegen diese Verfolgung gab es für die Klägerin zu 1) nach der Überzeugung des Gerichts in ihrem Heimatland keinen nationalen Schutz (Art. 7 und 8 Qualifikationsrichtlinie). Soweit es sich bei den Vergewaltigern um Polizisten, also staatliche Akteure gehandelt hat, scheidet eine Schutzsuche beim Staat (Art 7 Abs. 1 lit. a) Qualifikationsrichtlinie) von vornherein aus. Dies gilt auch in Ansehung der vom Bundesamt aufgeführten dpa-Meldung (!), wonach Polizisten in der Türkei, die wegen Folter und Vergewaltigung angezeigt werden, sich vor Gericht verantworten müssen. Es ist gerichtsbekannt, dass dies in der Praxis in den kurdischen Gebieten keineswegs zuverlässig funktioniert (Einzelheiten siehe unten).

Soweit es sich nicht um Polizisten, sondern um sog. nichtstaatliche Akteure im Sinne von Art. 6 lit. c) Qualifikationsrichtlinie handelte, hat die Klägerin zu 1) selbst erlebt, dass ihr der Staat keinen Schutz bieten konnte, weder durch Bewahrung vor neuen Schäden noch durch Verfolgung und Bestrafung der Täter. Ihre Anzeige gegen die Personen, die ihr im Jahre 2000 trotz ihrer Hinweise auf ihre Schwangerschaft und ihrer Bitten um Schonung in den Bauch getreten und damit eine Fehlgeburt ausgelöst haben, hat zu keinerlei Verfahren geführt.

Als Verfolgungsgrund im Sinne von Art. 10 Qualifikationsrichtlinie ist die politische Überzeugung der Klägerin zu 1) und ihres Ehemannes zu sehen (Art. 10 Abs. 1 lit c) Qualifikationsrichtlinie). Dabei ist unerheblich, ob die Klägerin zu 1) die politische Überzeugung ihres Ehemannes teilte, solange ihre Verfolger ihr dies nur unterstellt haben (Art. 10 Abs. 2 Qualifikationsrichtlinie). Realistischer dürfte allerdings die Annahme sein, dass die Verfolger durch die Misshandlung der Klägerin zu 1) in Wirklichkeit ihren Ehemann treffen wollten, und zwar aus Gründen seiner politischen Überzeugung. Das Bundesamt hat in dem angefochtenen Bescheid deutlich und zutreffend herausgearbeitet, dass davon auszugehen ist, dass den Vergewaltigern der subtile Mechanismus durchaus bewusst gewesen ist, durch Vergewaltigung der Klägerin zu 1) sowohl sie als auch ihren (in überkommenen verfehlten Wertvorstellungen verhafteten) Ehemann am effektivsten zu treffen (Bescheid, Seite 8 unten). Soweit damit nicht die politische Überzeugung der Klägerin zu 1) getroffenen werden sollte, kommt stattdessen ihre Zugehörigkeit zur Familie ihres aus politischen Gründen verfolgten Ehemanns als soziale Gruppe in Betracht (Art. 10 Abs. 1 lit. d), Abs. 2 Satz 2 2. HS Qualifikationsrichtlinie), als eine Form der Sippenhaftung, die in der Türkei rechtlich nicht erlaubt ist, die aber gleichwohl immer wieder - vor allem aus politischen Gründen - praktiziert wird, wie gerichtsbekannt ist.

Die von Art. 9 Abs. 3 Qualifikationsrichtlinie geforderte Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund im Sinne einer inneren Kausalität ist hier offensichtlich gegeben. Auch das Bundesamt hat keinen Zweifel daran geäußert.

Nach der in § 60 AufenthG in Bezug genommenen Genfer Flüchtlingskonvention und nach der Qualifikationsrichtlinie kommt es darauf an, ob der Antragsteller "gute Gründe" hat, eine Verfolgung zu befürchten, und ob es eine ernsthafte Möglichkeit dafür gibt. Erforderlich, aber auch ausreichend ist eine begründete Furcht vor Verfolgung.

Nach Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor erneuter Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Ist einem Antragsteller vor der Ausreise Verfolgung widerfahren, bedarf es grundsätzlich keiner Prüfung nach Maßgabe von Art. 7 Abs. 2 Qualifikationsrichtlinie, wenn seit der Ausreise keine wesentlichen Änderungen in den allgemeinen Verhältnissen im Herkunftsland eingetreten sind.

Zwar hat es in der Türkei in den letzten fünf Jahren erhebliche Veränderungen gegeben. Hierzu hat das Sächsische OVG mit Urteil vom 31.01.2006 (A 3 B 304/03 -, juris) ausgeführt: ...

Dieser überzeugenden Auswertung amtlicher Quellen schließt die Kammer sich an. Vor diesem Hintergrund kann trotz der erheblichen Anstrengungen zur Verbesserung der Menschenrechtslage in der Türkei und der hierbei bereits erzielten Fortschritte zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht angenommen werden, dass unter den Bedingungen eines herabgeminderten Wahrscheinlichkeitsmaßstabs die Voraussetzungen dafür vorliegen, dass der Klägerin zu 1) die Rückkehr in ihr Heimatland zugemutet werden kann. Denn angesichts der letztlich noch bestehenden Risiken, die mit der noch nicht in einem befriedigenden Ausmaß gelungenen Beseitigung von Folter und Misshandlung und den fortbestehenden und gerade derzeit wieder aufflammenden Auseinandersetzungen mit der PKK verbunden sind, lässt sich derzeit nicht die Prognose stellen, dass mit hinreichender Sicherheit auszuschließen ist, dass die Klägerin zu 1), bei oder nach einer Rückkehr in die Türkei erhebliche, asylrelevante Repressalien befürchten muss, weshalb ihre Verfolgungsfurcht bei Rückkehr begründet erscheint. Entgegen der Auffassung des Bundesamtes müssen die ihr drohenden Verfolgungshandlungen nicht genau dieselbe Qualität wie die schon erlittene Verfolgung haben. Deshalb kommt es nicht darauf an, ob die Klägerin zu 1) mit erneuter Vergewaltigung rechnen muss. Die Gefahr der Anwendung physischer oder physischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, ist vielmehr ausreichend.

Die Klägerin zu 1) hat darüber hinaus begründete Furcht vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne von Art. 6 lit c) Qualifikationsrichtlinie, denen gegenüber der Staat und internationale Organisationen "erwiesenermaßen nicht in Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden im Sinne des Art. 7 zu bieten".

Insoweit hat das Bundesamt in dem angefochtenen Bescheid zu Recht eine drohende Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe angenommen, und zwar eine allein an ihr Geschlecht anknüpfende Lebensbedrohung (§ 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Hierzu hat es gleichsam als Untergruppe die "Gruppe der in einem erzkonservativen kurdischen Umfeld lebenden Frauen" gebildet, das "durch seine archaisch-patriarchal organisierte Familien- und Gesellschaftsstruktur mit intolerablen Vorstellungen von übertrieben sittsamem Verhalten der Frau" gekennzeichnet ist (Bescheid vom 09.05.2006, S.8).

Es kann offen bleiben, ob eine derartige Eingrenzung - offenbar vor dem Hintergrund, dass nicht alle Frauen in der Türkei von einer derartigen Verfolgung bedroht sind -, notwendig ist, oder ob die notwendige Eingrenzung nicht über das Merkmal der begründeten Furcht zu erfolgen hat (in diesem Sinne Banks/Schneider, Durchbruch für das Völkerrecht?, Beilage zum Asylmagazin 6/2006, S. 16). Geht man davon aus, dass allein der Hinweis auf das Geschlecht noch keine bestimmte soziale Gruppe begründet (vgl. Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, Rdnr. 79 zu § 19), bedarf es zusätzlicher Kriterien zur Bestimmung einer sozialen Gruppe. Die vom Bundesamt gewählte Eingrenzung erscheint im vorliegenden Fall auch dann als ausreichend, wenn man Zweifel haben kann, ob eine derartige Eingrenzung auf ein kurdisches Umfeld berechtigt ist. Denn jedenfalls für den vorliegenden Fall ist diese Gruppenbildung ausreichend tragfähig.

Ausgelöst durch vor allem wohl das Misstrauen des Bruders ihres Ehemannes, des in Deutschland lebenden ..., begannen aber nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland die Vorwürfe ihres Mannes und ihres Schwagers, ihr Drängen, sich untersuchen zulassen, nach ihrer Weigerung die Aufforderung, die Ehre der Familie wieder herzustellen, indem sie sich selbst das Leben nimmt, schließlich die Drohung, sie zu töten, am Ende sogar die Drohung, ihre gesamte Familie zu töten.

Diese Drohungen sind nach der Überzeugung des Gerichts ernst zu nehmen.

Diese Verfolgung droht der Klägerin zu 1) nach der Überzeugung des Gerichts auch und gerade in der Türkei im Falle ihrer Rückkehr. Zwar ist es richtig, dass die Klägerin zu 1) sich gegenwärtig vor allem vor einer Lebensbedrohung in Deutschland fürchtet. Das schließt aber nicht aus, dass ihr dieselbe Verfolgung auch in der Türkei droht. Dies ergibt sich unschwer aus dem Begriff als Familienehre.

Nach Überzeugung des Gerichts ist der türkische Staat auch nicht in der Lage, der Klägerin zu 1) ausreichenden Schutz vor Verfolgung zu bieten (§ 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG). Zwar ist nicht zu verkennen, dass die Türkei seit 2003 durch gesetzgeberische Maßnahmen die bisherige Privilegierung von sog. Ehrenmorden abgeschafft hat (Aufhebung des früheren Art. 462 tStGB) und die vorsätzliche Tötung aus Gründen der Ehre mit erschwerter lebenslanger Haft bestraft werden kann (Art. 82 tStGB 2005). Diese gesetzgeberischen Maßnahmen sind jedoch nur bedingt und mit Verzögerung geeignet. die tatsächliche Lage der von Ehrenmorden bedrohten Frauen zu verbessern oder gar ihnen zuverlässig Schutz zu bieten.

Für die Klägerin zu 1) gibt es nach der Überzeugung des Gerichts auch keine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinn von § 60 Abs. 1 Satz 4 a. E. AufenthG. Sie kann entgegen der Auffassung des Bundesamts in dem angefochtenen Bescheid nicht darauf verwiesen werden, im Westen der Türkei Schutz zu suchen. Zur Begründung kann auf die folgende Feststellung aus dem Lagebericht 09/2007 des Auswärtigen Amtes (S. 27) verwiesen werden: "Gegen Übergriffe aus privatem Anlass, z.B. "Ehrenmorde", gibt es keine regionale Ausweichmöglichkeit, wie auch in Großstädten des Westens, z.B. in Istanbul, begangene Ehrenmorde gezeigt haben." Der nachfolgende Satz "Die Polizei versucht, gefährdete Personen zu schützen" (a.a.O., S. 27 - Hervorhebung durch das Gericht) zeigt, dass von einer verlässlichen Schutzgewährung keine Rede sein kann.

Den Klägerinnen kann auch nicht entgegengehalten werden, dass es auch in Deutschland keine hundertprozentige Sicherheit gebe, wie die hier begangenen "Ehrenmorde" zeigten. Maßstab ist allein, ob der Herkunftsstaat in dem erforderlichen Maße schutzfähig ist. Die ist nach der Überzeugung der Kammer im vorliegenden Fall nicht der Fall.