VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 26.07.2007 - 8 UE 3140/05.A - asyl.net: M12001
https://www.asyl.net/rsdb/M12001
Leitsatz:

1. Bei einer geltend gemachten religiösen Verfolgungsgefährdung wegen eines in Deutschland vorgenommenen Glaubenswechsels vom Islam zum Christentum bedarf es einer gerichtlichen Prüfung der inneren, religiös-persönlichkeitsprägenden Beweggründe.

2. Eine solche Prüfung ist nur dann entbehrlich, wenn der in Deutschland nur formal vollzogene Glaubensübertritt allein für sich im islamischen Heimatland des schutzsuchenden Ausländers mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit selbst dann zu erheblichen Verfolgungsmaßnahmen führen würde, wenn er dort seine christliche Glaubenszugehörigkeit verheimlichen, verleugnen oder aufgeben würde; für eine derartige Verfolgungspraxis in Afghanistan sind konkrete Anhaltspunkte nicht ersichtlich.

3. Einzelfall eines in Deutschland während des Asylklageverfahrens durchgeführten Glaubenswechsels afghanischer Staatsangehöriger, der nach gerichtlicher Überzeugung nicht auf einer ernsthaften, aus einem inneren Bedürfnis heraus erfolgten Gewissensentscheidung, sondern nur auf asyl- bzw. verfahrenstaktischen Erwägungen beruht.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Kommunisten, Taliban, Mitglieder, DVPA, Watan, Frauen, Flüchtlingsfrauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Konversion, Apostasie, Christen, religiös motivierte Verfolgung, Religion, Nachfluchtgründe, Beweislast, Sachaufklärungspflicht, westliche Orientierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

1. Bei einer geltend gemachten religiösen Verfolgungsgefährdung wegen eines in Deutschland vorgenommenen Glaubenswechsels vom Islam zum Christentum bedarf es einer gerichtlichen Prüfung der inneren, religiös-persönlichkeitsprägenden Beweggründe.

2. Eine solche Prüfung ist nur dann entbehrlich, wenn der in Deutschland nur formal vollzogene Glaubensübertritt allein für sich im islamischen Heimatland des schutzsuchenden Ausländers mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit selbst dann zu erheblichen Verfolgungsmaßnahmen führen würde, wenn er dort seine christliche Glaubenszugehörigkeit verheimlichen, verleugnen oder aufgeben würde; für eine derartige Verfolgungspraxis in Afghanistan sind konkrete Anhaltspunkte nicht ersichtlich.

3. Einzelfall eines in Deutschland während des Asylklageverfahrens durchgeführten Glaubenswechsels afghanischer Staatsangehöriger, der nach gerichtlicher Überzeugung nicht auf einer ernsthaften, aus einem inneren Bedürfnis heraus erfolgten Gewissensentscheidung, sondern nur auf asyl- bzw. verfahrenstaktischen Erwägungen beruht.

(Amtliche Leitsätze)

 

Nach Überzeugung des Senats kann nach dem gesamten Vorbringen des Klägers und der Klägerinnen, der Aussagen des Zeugen A. und unter Berücksichtigung der sonstigen Erkenntnismittel nicht davon ausgegangen werden, dass ihnen bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit landesweit eine die Flüchtlingsanerkennung rechtfertigende Verfolgung droht. Das ergibt sich hinsichtlich der von der Klägerin zu 2. in ihrer Anhörung vor dem Bundesamt am 21. November 2001 als Ausreiseanlass bezeichneten Bedrohung durch die Taliban als Folge einer Hausdurchsuchung schon daraus, dass nach deren Entmachtung Ende 2001 eine von ihnen ausgehende landesweite Verfolgungsgefährdung nicht mehr besteht, auch wenn in den östlichen, südöstlichen, südlichen und teilweise auch westlichen Landesteilen nach wie vor Kämpfe mit den Sicherheitskräften und auch im übrigen Land vereinzelte Terroranschläge und Entführungen stattfinden (vgl. u.a. Auswärtiges Amt [AA], Lagebericht vom 17. März 2007, Stand: Februar 2007, S. 4 f.).

Nach der in ständiger Rechtsprechung vertretener Auffassung des Senats ist eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung ehemaliger afghanischer DVPA-Mitglieder auch nach Entmachtung der Taliban nicht schon wegen der bloßen, einfachen Mitgliedschaft in DVPA, Geheimdienst, Militär oder sonstigen Regierungsstellen anzunehmen; bedroht sind danach nur solche DVPA-Mitglieder oder Regierungsmitarbeiter, die unter dem früheren kommunistischen Regime eine ranghohe Stellung eingenommen hatten, in dieser Tätigkeit deutlich und für einen größeren Personenkreis erkennbar nach außen getreten sind und durch die Ausübung ihrer Funktion - insbesondere im Militär und Geheimdienst - für die Tötung oder Verfolgung von Mudschaheddin verantwortlich gemacht werden könnten (vgl. u.a. Hess. VGH, Urteil vom 11. November 2004 - 8 UE 2759/01.A - juris m.w.N.). Da die Klägerinnen im Familienverband und nicht als alleinstehende Frauen ohne familiären, insbesondere männlichen Schutz nach Afghanistan zurückkehren würden (vgl. dazu Hess. VGH, Urteil vom 1. März 2006 - 8 UE 3766/04.A - juris Rdnrn. 43 ff.), besteht eine solche geschlechtsspezifische Verfolgungsgefahr gemäß § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG weder landesweit noch für ihre Heimatregion H., wo sich die Situation auch für Frauen seit der Amtsenthebung Ismail Khans als Provinzgouverneur im September 2004 ausgehend von einem niedrigen Niveau leicht gebessert hat und im Januar 2005 sogar eine Anlaufstelle für schutzsuchende Frauen eingerichtet worden ist. In der Region H. werden traditionell Mädchen und Frauen Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten zwar nicht verwehrt, sie werden aber in ihrer sonstigen Bewegungs- und Handlungsfreiheit auf Grund des traditionellen Verhaltenskodex stark eingeschränkt (vgl. AA, Lageberichte vom 29. November 2005, Stand: November 2005, S. 16, 29 f.; vom 13. Juli 2006, Stand: Mai 2006, S. 12, 21 f.; vom 17. März 2007, Stand: Februar 2007, S. 17 f.). Zu diesen Einschränkungen hat das Bundesamt in seinen Ablehnungsbescheiden vom 3. und 4. September 2003 in Übereinstimmung mit höchstrichterlicher und obergerichtlicher Rechtsprechung und unter Berufung auf gutachterliche Äußerungen zutreffend ausgeführt, der Umstand, dass Frauen in Afghanistan traditionell in vielen Bereichen benachteiligt würden, begründe noch keine Verfolgungsgefahr, weil die asylrechtliche - und damit auch die flüchtlingsrechtliche - Beurteilung nicht am weltanschaulichen Toleranz- und Neutralitätsgebot des Grundgesetzes gemessen werde könne, so dass es auch einem aus dem westlichen Ausland nach Afghanistan zurückkehrenden afghanischen Staatsangehörigen grundsätzlich zumutbar sei, die dort allgemein geltenden Vorschriften und herrschenden Wertvorstellungen zu beachten; zumindest für den Bereich der Hauptstadt Kabul bestehe bei Einhaltung dieser Regeln keine Gefährdungslage oder eine Gefahr von die Menschenwürde verletzenden Eingriffen in das Persönlichkeitsrecht (vgl. u.a. BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1986 - 9 C 16/85 - BverGE 74 S. 31 [37] = juris Rdnr. 20; Hamb. OVG, Urteil vom 11. April 2003 - 1 Bf 104/01.A - juris Rdnrn. 25 - 29; Hess. VGH, Beschluss vom 26. Juni 2007 - 8 UZ 452/06.A - Beschlussabdruck S. 9 ff.).

Dem Kläger und den Klägerinnen zu 2., 4. und 5. kann schließlich Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG auch nicht wegen ihres durch die Taufe am 5. Juni 2004 formal vollzogenen Glaubenswechsels vom Islam zum Christentum zuerkannt werden, denn dieser beruhte nach der aus dem gesamten Akteninhalt und der mündlichen Verhandlung am 12. Juli 2007 gewonnenen Überzeugung des Senats nicht auf einer ernsthaften, aus einem inneren Bedürfnis heraus erfolgten Gewissensentscheidung, sondern nur auf asyl- bzw. verfahrenstaktischen Erwägungen. Das Erfordernis einer Prüfung der inneren, religiös-persönlichkeitsprägenden Beweggründe für einen in Deutschland vorgenommenen Glaubenswechsel vom Islam zum Christentum ergibt sich aus der Notwendigkeit der gerichtlichen Überzeugungsbildung über eine deshalb geltend gemachte religiöse Verfolgungsgefährdung. Denn nur wenn verlässlich festgestellt werden kann, dass eine Konversion auf einer glaubhaften Zuwendung zum christlichen Glauben im Sinne einer ernsthaften Gewissensentscheidung, auf einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel mit einer identitätsprägenden festen Überzeugung und nicht lediglich auf bloßen Opportunitätsgründen beruht, kann davon ausgegangen werden, dass ein Verschweigen, Verleugnen oder die Aufgabe der neuen Glaubenszugehörigkeit zur Vermeidung staatlicher oder nicht staatlicher Repressionen im Heimatland den Betroffenen grundsätzlich und in aller Regel unter Verletzung seiner Menschenwürde existenziell und in seiner sittlichen Person treffen und ihn in eine ausweglose Lage bringen würde und ihm deshalb nicht zugemutet werden kann (vgl. Hess. VGH, Beschlüsse vom 26. Juni 2007 - 8 UZ 452/06.A - und - 8 UZ 1463/06.A - Beschlussabdrucke S. 8 bzw. S. 4 und die zu Grunde liegenden Urteile des VG Kassel vom 15. Dezember 2005 - 3 E 2960/03.A - Urteilsabdruck S. 14 und vom 4. Mai 2006 - 3 E 762/04 - Urteilsabdruck S. 8; zweifelnd: BVerfG, Kammerbeschluss vom 19. Dezember 1994 - 2 BvR 1426/91 - InfAuslR 1995 S. 210 f. = juris Rdnrn. 14 f.; vgl. aber auch: BVerwG; Urteile vom 18. Februar 1986 a.a.O. BVerwGE 74 S. 38 = juris Rdnr. 21 und vom 20. Januar 2004 - 1 C 9/03 - BVerwGE 120 S. 16 ff. = InfAuslR 2004 S. 319 ff. = NVwZ 2004 S. 1000 ff. = juris Rdnr. 12; Funke-Kaiser, in GK zum AsylVfG 1992, Stand: Februar 2007, Rdnr. 31 zu § 28). Nur bei einem in diesem Sinne ernsthaften Glaubenswechsel könnte das Gericht zu der Überzeugung gelangen, dass der schutzsuchende Ausländer bei einer Rückkehr in sein islamisches Heimatland von seiner neuen christlichen Glaubensüberzeugung nicht ablassen könnte (vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 15. August 2006 - 22 K 350/05.A - juris Rdnr. 63). Bei einer geltend gemachten Verfolgungsgefährdung wegen eines in Deutschland erfolgten Glaubenswechsels entspricht diese Prüfung einer häufig zwar nicht näher begründeten, aber weit verbreiteten verwaltungsgerichtlichen Praxis (vgl. u.a. VG Ansbach, Urteil vom 29. März 2000 - AN 9 K 98.32719 - juris Rdnr. 32; VG Minden, Urteil vom 23. Mai 2005 - 9 K 5381/03.A - juris Rdnr. 49; VG Oldenburg, Urteil vom 3. August 2005 - 7 A 4142/03 - juris Kurztext, Orientierungssätze 2. und 3., Urteilsabdruck S. 5; VG Darmstadt, Urteil vom 10. November 2005 - 5 E 1749/03.A (4) - juris, Urteilsabdruck S. 7 f.; VG Kassel, Urteile vom 15. Dezember 2005 - 3 E 2960/03.A - Urteilsabdruck S.11 ff. und vom 4. Mai 2006 - 3 E 762/04.A - Urteilsabdruck S. 6 ff.; VG Düsseldorf, Urteile vom 15. August 2006 a.a.O. juris Rdnr. 61 f. und vom 29. August 2006 - 2 K 3001/06. A - juris Rndr. 37 ff.; VG Karlsruhe, Urteil vom 19. Oktober 2006 - A 6 K 10335/04 - juris Rdnr. 32; VG Meinigen, Urteil vom 10. Januar 2007 - 5 K 20256/03.Me - juris Rdnr. 30). Eine solche Prüfung wäre nur dann entbehrlich, wenn der in Deutschland nur formal vollzogene Übertritt vom islamischen zum christlichen Glauben allein für sich im islamischen Heimatland des schutzsuchenden Ausländers mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit selbst dann zu erheblichen Verfolgungsmaßnahmen führen würde, wenn er dort seine christliche Glaubenszugehörigkeit verheimlichen, verleugnen oder aufgeben würde (vgl. etwa BVerfG, Kammerbeschluss vom 19. Dezember 1994 a.a.O. juris Rdnr. 14; BVerwG, Urteil vom 20. Januar 2004 a.a.O. juris Rdnr. 10). Das würde aber nicht nur eine in diesem Sinne dort regelmäßig und mit hinreichender Dichte geübte Verfolgungspraxis, sondern auch voraussetzen, dass die allein in Deutschland stattgefundenen Geschehnisse den staatlichen Stellen oder maßgeblichen Gruppen im Heimatland des Betroffenen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bekannt werden. Weder dem klägerischen Vorbringen noch gerichtlichen Entscheidungen oder tatsächlichen Erkenntnissen lassen sich aber konkrete Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass eine derartige Verfolgungspraxis wegen eines im Ausland nur formal getätigten Religionswechsels in Afghanistan beachtlich wahrscheinlich sein könnte.

Die danach entscheidungserhebliche Frage, ob die Konversion des Klägers und der Klägerinnen zu 2., 4. und 5. auf einer glaubhaften Zuwendung zum christlichen Glauben im Sinne eines ernst gemeinten religiösen Einstellungswandels mit einer identiätsprägenden festen Überzeugung und nicht lediglich auf bloßen Opportunitätsgründen beruht, bedarf einer umfassenden und erschöpfenden Sachverhaltsaufklärung (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 19. Dezember 1994 a.a.O. juris 2. Orientierungssatz). Dabei tragen der Kläger und die Klägerinnen die Darlegungs- und Beweislast für diese von ihnen als Verfolgungsgründe geltend gemachten und sich im Inland und in ihren persönlichen Bereich abspielenden Vorgänge (vgl. auch VG Darmstadt a.a.O.). Die Prüfung dieser inneren Tatsachen kann im Wege richterlicher Überzeugungsbildung im Einzelfall nur auf Grund einer wertenden Betrachtung nach außen erkennbarer Umstände und der Überzeugungskraft dazu abgegebener Erklärungen erfolgen, wie etwa zur Entwicklung des Kontaktes zu dem neuen Glauben, zur Glaubensbetätigung und zu Kenntnissen über die neuen Glaubensinhalte (vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 26. Juni 2007 - 8 UZ 452/06.A - Beschlussabdruck S. 9; Marx, AsylVfG, 6. Aufl. 2005, Rdnrn. 218 f. zu § 1).

Der Kläger und die Klägerinnen haben den Senat in ihrer persönlichen Anhörung am 12. Juli 2007 unter Berücksichtigung der anschließenden Zeugenaussage und des sonstigen Akteninhalts jedoch nicht davon zu überzeugen vermocht, dass ihrem in Deutschland durchgeführten Glaubensübertritt eine im obigen Sinne ernsthafte Gewissensentscheidung zu Grunde liegt.