OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 31.05.2007 - 1 LB 8/07 - asyl.net: M12002
https://www.asyl.net/rsdb/M12002
Leitsatz:

Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung eines armenischen Volkszugehörigen aus Aserbaidschan.

 

Schlagwörter: Aserbaidschan, Armenier, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Änderung der Sachlage, Verfolgungssicherheit, interne Fluchtalternative, Berg-Karabach, Existenzminimum, Erreichbarkeit, Berufungsverfahren, Berufungsbegründung, Begründungsfrist, Verfahrensrecht
Normen: VwGO § 124a Abs. 6; VwGO § 138 Nr. 6; AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung eines armenischen Volkszugehörigen aus Aserbaidschan.

(Leitsatz der Redaktion)

 

1) Die Berufung ist unzulässig, denn die Beklagte hat die zugelassene Berufung nicht ausreichend begründet. Gemäß § 124 a Abs. 6 S. 1 VwGO ist die zugelassene Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Diesem Begründungserfordernis, das auch für Streitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz gilt (BVerwG, Urt. v. 30.06.1998 – 9 C 6.98 –, BVerwGE 107, 117), wird die Bezugnahme auf die Begründung des Berufungszulassungsantrages vom 06. März 2007 nicht gerecht. Zwar kann eine Bezugnahme auf das Zulassungsvorbringen im Begründungsschriftsatz – je nach den Umständen des Einzelfalles – zur Begründung der Berufung ausreichen (BVerwG, Urt. v. 08.03.2004 – 4 C 6.03 –, NVwZ-RR, 541; Urt. v. 30.06.1998 – 9 C 6.98 –, aaO). Hier reicht die Bezugnahme nicht aus, weil sich aus der Begründung des Berufungszulassungsantrages nicht ergibt, weshalb das erstinstanzliche Urteil geändert werden soll. Anders als im Revisionsverfahren führt ein absoluter Revisionsgrund, der hier geltend gemacht worden ist (§ 138 Nr. 6 VwGO), in asylrechtlichen Berufungsverfahren nicht zwangsläufig zum Erfolg. Eine Zurückverweisung an das Verwaltungsgericht ist nicht möglich (§ 79 Abs. 2 AsylVfG). Die von der Beklagten angestrebte Änderung des angefochtenen Urteils (Abweisung der Klage) ist nur möglich, wenn das Verwaltungsgericht der Klage im Ergebnis zu Unrecht stattgegeben hat. Hierzu fehlt es in der Begründung des Berufungszulassungsantrages an jeglichen Ausführungen.

2) Die Berufung ist auch unbegründet. Nach der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hat sich die Gefährdungslage für den Kläger in Aserbaidschan nicht so maßgeblich geändert, dass ein Widerruf nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG gerechtfertigt ist.

Zwar weisen die neueren Auskünfte des Auswärtigen Amtes, die die Beklagte im angefochtenen Bescheid vom 20. Juli 2005 bezeichnet, darauf hin, dass sich die Situation der in Aserbaidschan verbliebenen armenischen Volkszugehörigen zum Teil verbessert hat. Daraus kann aber nicht abgeleitet werden, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan – unter Außerachtlassung der Fluchtalternative Berg-Karabach – dort hinreichend sicher wäre (verneinend auch Urt. des Senats v. 12.12.2002 – 1 L 239/01 –). Der Umstand, dass die Mehrzahl der in Aserbaidschan verbliebenen armenischen Volkszugehörigen dort unter Alias-Identitäten lebt, dass es laut Statistik des Staatskomitees im Januar 2007 nur noch 1.000 armenische Volkszugehörige in Aserbaidschan gab, dass diese Personen zahlreiche Nachteile zu erleiden haben und dass armenischen Volkszugehörigen die Einreise nach Aserbaidschan verweigert wird, macht deutlich, dass nach Aserbaidschan zurückkehrende armenische Volkszugehörige in Aserbaidschan nicht hinreichend sicher wären, falls ihnen überhaupt die Rückkehr gelingen sollte (vgl. zu allem Lageberichte des Auswärtigen Amtes, zuletzt Lagebericht v. 07.05.2007, S. 11, 18). Angesichts des weiterhin ungelösten Konflikts um Berg-Karabach und der oben genannten Gesichtspunkte sieht der Senat keinen Anlass, von seiner im Urteil vom 12. Dezember 2002 getroffenen Einschätzung abzuweichen. Dies entspricht im Übrigen auch der ganz überwiegenden neueren obergerichtlichen Rechtsprechung (s.o.).

Hinsichtlich einer eventuellen Fluchtalternative in Berg-Karabach hat sich die tatsächliche Situation in den letzten Jahren ebenfalls nicht maßgeblich geändert. Die Frage, ob die Enklave Berg-Karabach eine zumutbare Fluchtalternative für armenische Flüchtlinge aus Aserbaidschan darstellt, wurde in den letzten Jahren und wird bis in die Gegenwart von den Verwaltungsgerichten unterschiedlich beantwortet (zur neueren obergerichtlichen Rechtsprechung s.o.). Im Wesentlichen geht es dabei um die Fragen, ob Berg-Karabach für armenische Flüchtlinge aus Aserbaidschan überhaupt auf zumutbare Weise erreichbar ist, ob armenische Flüchtlinge dort ihre Existenz sichern können und ob ein eventuell fehlendes Existenzminimum verfolgungsbedingt wäre (vgl. zu allen Aspekten Urt. d. Senats v. 12.12.2002 – 1 L 239/01, in dem eine Fluchtalternative bejaht wurde; Zweifel an der Erreichbarkeit von Berg-Karabach wurden damals allerdings nicht vertiefend geprüft, weil sie aus den Erkenntnismitteln nicht erkennbar waren und von den Beteiligten auch nicht vorgetragen wurden; Beschl. v. 23.08.2006 – 1 LB 15/05: Existenzmöglichkeit für den Einzelfall bejaht, Erreichbarkeit nicht entscheidungserheblich). Die unterschiedliche Rechtsprechung zu diesen Fragen (s.o.) beruht im Wesentlichen auf einer unterschiedlichen Bewertung der ihnen zugrunde liegenden komplexen Tatsachen und rechtlichen Aspekten, die einen Widerruf nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG nicht rechtfertigt (BVerwG, Urt. v. 01.11.2005 – 1 C 21/04, juris Rn. 17). Eine maßgeblich veränderte Situation für Berg-Karabach und den Fluchtweg in diese Region, die einen Widerruf gemäß § 73 Abs.1 S. 1 AsylVfG rechtfertigen könnte, hat die Beklagte nicht dargelegt.