VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 12.07.2007 - 8 UE 3339/04.A - asyl.net: M12004
https://www.asyl.net/rsdb/M12004
Leitsatz:

1. Die Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) ist nach Ablauf der Umsetzungsfrist in der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht. Art. 10 Abs. 1 b) dieser Richtlinie erweitert den asyl- und aufenthaltsrechtlichen Schutzbereich der Religionsfreiheit auf die Religionsausübung in der Öffentlichkeit.

2. Im übrigen Einzelfall einer nicht vorverfolgten Protestantin aus China, die wegen öffentlich wahrnehmbarer religiöser Aktivitäten in einer protestantischen Freikirche in Deutschland bei einer Rückkehr nach China politische Verfolgung aus religiösen Gründen zu erwarten hat.

 

Schlagwörter: China, Christen (protestantische), Untergrundkirchen, religiös motivierte Verfolgung, Religion, Anerkennungsrichtlinie, religiöses Existenzminimum, interne Fluchtalternative, Genfer Flüchtlingskonvention, Verfolgungsbegriff, exilpolitische Betätigung, Überwachung im Aufnahmeland, Internet, Strafverfolgung, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; AsylVfG § 28 Abs. 1
Auszüge:

1. Die Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) ist nach Ablauf der Umsetzungsfrist in der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht. Art. 10 Abs. 1 b) dieser Richtlinie erweitert den asyl- und aufenthaltsrechtlichen Schutzbereich der Religionsfreiheit auf die Religionsausübung in der Öffentlichkeit.

2. Im übrigen Einzelfall einer nicht vorverfolgten Protestantin aus China, die wegen öffentlich wahrnehmbarer religiöser Aktivitäten in einer protestantischen Freikirche in Deutschland bei einer Rückkehr nach China politische Verfolgung aus religiösen Gründen zu erwarten hat.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die Berufung ist begründet, denn entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (künftig: Bundesamt) zu verpflichten, die Klägerin als Asylberechtigte gemäß Art. 16a Abs. 1 GG anzuerkennen und gemäß § 31 Abs. 2 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Juli 1993 (BGBl. I S. 1361), zuletzt geändert durch Art. 2 Abs. 3 des Gesetzes zur Novellierung des Verwaltungszustellungsrechts vom 12. August 2005 (BGBl. I Seite 2354), festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG –) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes zur Anpassung von Rechtsvorschriften des Bundes infolge des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union vom 7. Dezember 2006 (BGBl I S. 2814), vorliegen.

Es ist sehr zweifelhaft, kann aber letztlich dahinstehen, ob die Klägerin ihr Heimatland im Jahre 2001 als politisch Verfolgte verlassen hat und deswegen auf sie der "herabgestufte" Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzulegen ist mit der Folge, dass sie schon dann als Asylberechtigte und als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention anzuerkennen ist, wenn die fluchtbegründenden Umstände im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats ohne wesentliche Änderung fortbestehen (BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u. a. -, BVerfGE 80, 315 [345]; BVerwG, Urteil vom 25. Januar 1995 - 9 C 279.94 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 176 = NVwZ 1996, 82 [83]; Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., Rdnr. 6 zu § 60 AufenthG m.w.N.).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist religiöse oder religiös motivierte Verfolgung nur unter besonderen Voraussetzungen als politische Verfolgung im Sinne des Asylgrundrechts aufzufassen (BVerfG, Beschluss vom 1. Juli 1987 - 2 BvR 478/86 u.a., BVerfGE 76, 143 [158 f.]): ...

Zwar reichten die von der Klägerin geschilderten behördlichen Maßnahmen gegen die Hauskirchengemeinde L im Oktober 1999 und September 2000 nahe an den so definierten asylrechtlich geschützten Bereich der Religionsfreiheit heran, weil durch die dargestellten behördlichen Razzien die Glaubensausübung unter Angehörigen der protestantischen Religionsgemeinschaft im häuslich-kommunikativen Bereich, nämlich in einer Privatwohnung unterbunden werden sollten. Allerdings dürften die gegen die Klägerin gerichteten behördlichen Maßnahmen trotz ihrer Strenge nicht von genügender Intensität gewesen sein, um daraus eine Vorverfolgung aus religiösen Gründen ableiten zu können.

Ob an dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum asyl- und aufenthaltsrechtlichen Schutz der Religionsfreiheit festgehalten werden kann, nachdem Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie 2004/83/EG des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes vom 29. April 2004 (ABl. L 304 vom 30. September 2004, Seite 12) – künftig: Qualifikationsrichtlinie – nach Ablauf der Umsetzungsfrist (Artikel 38 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie) am 10. Oktober 2006 innerstaatlich unmittelbar anzuwendendes Recht ist (Ruffert in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Rdnr. 73 ff. zu Art. 249 EGV), ist allerdings zweifelhaft.

Freilich müsste die Klägerin damals – auch unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie und auch im Hinblick auf § 60 Abs. 1 AufenthG – landesweit politischer Verfolgung aus religiösen Gründen ausgesetzt gewesen sein, um von einer Vorverfolgung ausgehen zu können (Renner, a.a.O. Rdnr. 8 zu § 60 AufenthG m.w.N.). Einen die Annahme landesweiter politischer Verfolgung ausschließende inländische Fluchtalternative dürfte damals in ... und schließlich in Shanghai bestanden haben, wohin die Klägerin aus Furcht vor Verhaftung und neuerlicher religiöser Verfolgung geflohen ist.

Die Klägerin ist allerdings auch als nicht vorverfolgte Asylbewerberin als Asylberechtigte und als politischer Flüchtling i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG anzuerkennen, weil ihr aufgrund der nach ihrer Ausreise eingetretenen glaubhaft gemachten Umstände bei einer Rückkehr nach China politische Verfolgung aus religiösen Gründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.

Aufgrund ihres Vorbringens muss die Klägerin – zumindest – wegen nach ihrer Ausreise aus China eingetretener Umstände als aus religiösen Gründen politisch verfolgte Person angesehen werden.

Es ist jedoch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass die Klägerin im Fall einer Rückkehr nach China dort wegen ihrer Auslandsaktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere wegen ihrer durch die mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2006 vorgelegten Urkunden glaubhaft gemachten Mitwirkung an der Gründung und dem Aufbau der B of L C C in Frankfurt e.V. als mittlerweile führendes Mitglied einer chinesischen Untergrundkirche erkannt und verfolgt werden würde. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin chinesischen Behörden aufgrund dieser Auslandstätigkeiten, die durch den Internetauftritt der Kirche öffentlich gemacht werden, auffallen wird und bei einer Einreise nach China mit Verhaftung und anderen schwer wiegenden Eingriffen in ihre Rechte rechnen muss, wird dadurch erhöht, dass sie bereits vor ihrer Ausreise aus China mindestens zweimal als Angehörige einer Untergrundkirche aufgefallen und in Konflikt mit den dortigen Behörden geraten ist.

Eine Überprüfung der Plausibilität der Angaben der Klägerin anhand der vorliegenden Erkenntnisquellen ergibt, dass der von der Klägerin geschilderte Ablauf durchaus der typischen Verhaltensweise chinesischer Behörden gegenüber nicht registrierten Protestanten entspricht.

Es erscheint unter diesen Umständen glaubhaft, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach China tatsächlich verhaftet und bestraft würde, weil sie sich in der beanstandeten Weise religiös betätigt hat und dies auch in Deutschland in intensivierter Form tut. Selbst wenn sich solche Maßnahmen ausschließlich auf die in Deutschland nach der Ausreise aus China entfalteten religiösen Betätigungen mit Öffentlichkeitsbezug (Internetauftritt) beziehen sollten, könnten sie nicht als asyl- und aufenthaltsrechtlich irrelevant angesehen werden. Denn an der den asyl- und aufenthaltsrechtlichen Schutzbereich der Religionsfreiheit einschränkenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts (a.a.O., vgl. oben S. 14 ff.) kann nach Überzeugung des Senats unter der Geltung des Art. 10 Abs. 1 b) Qualifikationsrichtlinie nicht festgehalten werden. Die Qualifikationsrichtlinie stellt nunmehr die Religionsfreiheit auch über den bisher nach dieser Rechtsprechung allein geschützten Kernbereich (forum internum) hinaus unter den mindestens zu gewährleistenden Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention. Dem ist nicht nur bei der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG Rechnung zu tragen, sondern auch bei der Entscheidung über die Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass in der Präambel zur Qualifikationsrichtlinie mehrfach von einer gemeinsamen Asylpolitik und einem "Gemeinsamen Europäischen Asylsystem" als Ziel der Richtlinie die Rede ist (vgl. etwa Nr. 1, 2 und 4 der Präambel). Zum anderen ist schon in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Verfolgtenbegriff i.S.d. Art. 16a Abs. 1 GG hinsichtlich der Mindestanforderungen weitgehend demjenigen der Genfer Flüchtlingskonvention angeglichen worden (BVerwG, Urteile vom 15. März 1988 – 9 C 278.86 -, BVerwGE 79, 143, juris Rdnrn. 16 f., und vom 21. Januar 1992 – 1 C 21.87 – , BVerwGE 89, 296, juris Rdnrn. 14 ff., jeweils m.w.N.; Renner, a.a.O., Rdnrn. 119 f., 136 f. zu Art. 16a GG).

Durch eigenes Verhalten vom sicheren Ausland aus provozierte politische Verfolgung im Herkunftsland ist gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG dann asylrechtlich irrelevant, wenn der Entschluss zur Schaffung solcher Nachfluchtgründe nicht einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung entspricht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. November 1986 – 2 BvR 1058/85 –, BVerfGE 74, 51, juris Rdnrn 41 ff.; BVerwG, Urteil vom 19. Mai 1987 – 9 C 184.86 –, BVerwGE 77, 258; juris Rdnr. 11); danach asylrechtlich unbeachtliche Nachfluchtgründe werden gleichwohl von Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention erfasst und sind daher bei der Entscheidung über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG ohnehin zu Gunsten der Klägerin zu berücksichtigen (vgl. Renner, a.a.O., Rdnr. 9 zu § 60 AufenthG m.w.N.). Es besteht aber auch kein Zweifel, dass die religiösen Aktivitäten der Klägerin in Deutschland, auch soweit sie sich an die Öffentlichkeit richten, einer festen und schon im Herkunftsland betätigten religiösen Überzeugung entspringen, die die Klägerin im vorliegenden Verfahren glaubhaft gemacht hat.