VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.10.2007 - A 6 S 740/05 - asyl.net: M12009
https://www.asyl.net/rsdb/M12009
Leitsatz:

1. Die Voraussetzungen für den Widerruf einer aufgrund einer Vorverfolgung getroffenen Feststellung nach § 51 Abs. 1 AuslG haben sich durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (BGBl. I S. 1970) dem Ansatz nach nicht geändert. Für die Frage der Rückkehrprognose im Einzelfall ist jedoch § 60 Abs. 1 AufenthG n. F. zugrunde zu legen.

2. § 73 Abs. 1 AsylVfG ist wie bisher in Übereinstimmung mit den Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention auszulegen und anzuwenden; die Neufassung des § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG hat insoweit klarstellende Bedeutung. Aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e, Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie) ergeben sich keine weitergehenden Anforderungen.

 

Schlagwörter: Serbien, Kosovo, Albaner, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Änderung der Rechtslage, Übergangsregelung, Altfälle, Anerkennungsrichtlinie, Genfer Flüchtlingskonvention, Wegfall-der-Umstände-Klausel
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; GFK Art. 1 C Nr. 5; RL 2004/83/EG Art. 11 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 14
Auszüge:

1. Die Voraussetzungen für den Widerruf einer aufgrund einer Vorverfolgung getroffenen Feststellung nach § 51 Abs. 1 AuslG haben sich durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (BGBl. I S. 1970) dem Ansatz nach nicht geändert. Für die Frage der Rückkehrprognose im Einzelfall ist jedoch § 60 Abs. 1 AufenthG n. F. zugrunde zu legen.

2. § 73 Abs. 1 AsylVfG ist wie bisher in Übereinstimmung mit den Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention auszulegen und anzuwenden; die Neufassung des § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG hat insoweit klarstellende Bedeutung. Aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e, Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie) ergeben sich keine weitergehenden Anforderungen.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat den angefochtenen Bescheid zu Unrecht aufgehoben.

Er findet seine Grundlage in § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, denn die erst zum 01.01.2005 in Kraft getretene Bestimmung des § 73 Abs. 2a AsylVfG findet keine Anwendung auf Widerrufsentscheidungen, die - wie hier - bereits vor dem 01.01.2005 ergangen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.11.2005 - 1 C 21.04 -, BVerwGE 124, 276; Urteil des Senats vom 21.03.2006 - A 6 S 1027/05 -, juris).

Bereits § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG a.F. entsprach seinem Inhalt nach der sog. "Beendigungs-" oder "Wegfall-der-Umstände"-Klausel in Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 der GFK (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.11.2005, a.a.O.; s.a. Urteil des Senats vom 21.03.2006, a.a.O.). Besteht nach den genannten Maßstäben für den Flüchtling keine Verfolgungsgefahr, kann er es - vorbehaltlich der Ausnahme in § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG - im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 der GFK nicht mehr ablehnen, den Schutz des Landes seiner Staatsangehörigkeit (wieder) in Anspruch zu nehmen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.03.2007 - 1 C 21.06 -, AuAS 2007, 164). Die Neufassung des § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG nimmt nunmehr die "Wegfall-der-Umstände-Klausel" des Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK, die auch in Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie) übernommen wurde, ausdrücklich auf: Ein unverzüglicher Widerruf hat danach insbesondere zu erfolgen, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Da schon die bisherige Fassung des § 73 Abs. 1 AsylVfG in der beschriebenen Auslegung und Anwendung durch die Gerichte in Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention stand und den - nicht weitergehenden - Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie entsprach (vgl. m.w.N. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 04.05.2006 - A 2 S 1046/05 -, juris; Urteil vom 21.06.2006 - A 2 S 571/05 -, AuAS 2006, 175; s. a. BVerfG, Beschluss vom 19.09.2006, a.a.O.), ergeben sich durch die klarstellende Neufassung keine Veränderungen der Rechtslage.

Soweit der Kläger auf die Qualifikationsrichtlinie verweist, findet diese im vorliegenden Widerrufsverfahren schon deshalb keine unmittelbare Anwendung, weil die den Widerruf betreffenden Richtlinienbestimmungen gem. Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie nur bei Anträgen auf internationalen Schutz gelten, die nach Inkrafttreten der Richtlinie gestellt wurden (vgl. BVerwG, Urteil vom 12.06.2007 - 10 C 24.07 -, AuAS 2007, 225; Urteil vom 20.03.2007, a.a.O.). Der dem streitgegenständlichen Widerruf zugrunde liegende Asylantrag wurde vom Kläger jedoch bereits im Jahre 1997 und damit vor Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie gestellt. Ungeachtet dessen ergeben sich aus den Richtlinienbestimmungen (Art. 14 i.V.m. Art. 11 Abs. 1 Buchst. e, Abs. 2), die wörtlich an die Genfer Flüchtlingskonvention anknüpfen, auch keine von § 73 Abs. 1 AsylVfG abweichenden Vorgaben, da diese Bestimmung - wie bereits ausgeführt - ebenfalls im Sinne von Art. 1 C Nr. 5 GFK auszulegen und anzuwenden ist (vgl. hierzu bereits BVerwG, Urteil vom 20.03.2007 - 1 C 21.06 - a.a.O. m.w.N.).

Soweit § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 19.08.2007 auf die ergänzende Anwendung im einzelnen bezeichneter Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie verweist, gilt dieser Verweis für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt. Im Widerrufsverfahren hat dies lediglich insoweit - mittelbar - Auswirkungen, als die Frage, ob im Falle einer Rückkehr (noch) eine Verfolgungsgefahr besteht, vor dem Hintergrund des § 60 Abs. 1 AufenthG in der nunmehr geltenden Fassung zu beantworten ist. Für den vorliegenden Fall ergibt sich hieraus jedoch keine von den Feststellungen des angefochtenen Widerrufsbescheids abweichende Beurteilung.

Nach ständiger Rechtsprechung sind albanische Volkszugehörige aus dem Kosovo im Falle einer Rückkehr - sei es in den Kosovo, sei es in das restliche serbische Staatsgebiet - aufgrund der nachhaltigen Veränderung der Verhältnisse jetzt und auf absehbare Zeit vor Verfolgung hinreichend sicher, so dass die Widerrufsvoraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erfüllt sind (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.03.2001 - A 14 S 2078/99 -, juris; Beschluss vom 16.03.2004 - A 6 S 219/04 -, AuAS 2004, 142; vgl. zur Verfolgungssicherheit und zur Stabilisierung der Sicherheitslage - auch - für die Minderheiten der Ashkali und der "Ägypter" (auch) im Hinblick auf nichtstaatliche Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG: Urteile des Senats vom 21.03.2006, a.a.O. und vom 30.11.2006 - A 6 S 674/05, juris).