LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 16.10.2007 - L 11 AY 61/07 - asyl.net: M12019
https://www.asyl.net/rsdb/M12019
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbrauch, Falschangaben, Identitätstäuschung, Zumutbarkeit, freiwillige Ausreise, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Irak, Sicherheitslage, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Beweislast
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; AufenthG § 60a Abs. 1
Auszüge:

Die Berufung ist zulässig. Sie ist auch begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Gewährung erhöhter Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG für den Zeitraum vom 1. Mai 2006 bis zum 31. Juli 2006.

Der Kläger hatte vor dem streitigen Zeitraum Leistungen nach § 3 AsylbLG über eine Dauer von 36 Monaten bezogen. Er hat auch nicht rechtsmissbräuchlich die Dauer seines Aufenthaltes beeinflusst. Die Beweislast für das Vorliegen eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens liegt bei der Leistungsbehörde. Der Kläger hat zwar die in seinen Verhältnissen liegenden Bleibegründe darzulegen, der Beklagten fällt jedoch die Nichterweislichkeit von Rechtsmissbrauch zur Last, weil es sich dabei materiell um eine anspruchsausschließende Einwendung handelt (vgl. auch BSG, Urteil vom 8. Februar 2007 - B 9b AY 1/06 R - m.w.N.).

Das Bundessozialgericht hat inzwischen entschieden, dass es rechtsmissbräuchlich ist, wenn ein Ausländer nicht freiwillig ausreist, obwohl ihm diese Ausreise möglich und zumutbar ist (Urteil vom 8. Februar 2007 - B 9b AY 1/06 R -).

Nach diesen Maßstäben war dem Kläger eine Rückkehr in den Irak im streitigen Zeitraum nicht zumutbar. Der Kläger ist leistungsrechtlich unverschuldet nicht ausgereist (1.).

1.) Der erkennende Senat folgt insoweit der Einschätzung des VG Lüneburg im Urteil vom 23. November 2005 - 6 A 262/05 -. Dort wurde für den Kläger ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 AufenthG nur deshalb nicht festgestellt, weil ein Anspruch auf Feststellung von individuellen Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 AufenthG ausscheidet, wenn eine Erlasslage i.S.d. § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt, welche dem betroffenen Ausländer einen gleichwertigen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vermittelt. Das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport hat im Erlasswege mit Rundschreiben vom 19. Juli 2004 (Az.: 45.11-12235/12-6-5) darauf hingewiesen, dass nach dem Beschluss der Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 7./8. Juli 2004 weiterhin eine tatsächliche Unmöglichkeit der zwangsweisen Rückführung vollziehbar ausreisepflichtiger irakischer Staatsangehöriger in den Irak besteht. Vorsorglich wies das VG Lüneburg jedoch darauf hin, dass ohne die bestehende Erlasslage dem Kläger Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren sein dürfte, da nach den vorliegenden Erkenntnisquellen Überwiegendes für die Annahme spreche, dass gegenwärtig für jeden in seine Heimat zurückkehrenden Iraker landesweit eine extreme allgemeine Gefahrenlage bestehe. Diesen Ausführungen schließt sich der Senat nach eigener Überzeugungsbildung an (vgl. insb. Bl. 6 bis 9 des Bezug genommenen Urteils des VG Lüneburg). Dieser angespannten bürgerkriegsähnlichen Lage im Irak trägt auch der aktuelle Erlass des Niedersächsischen Ministeriums für inneres und Sport vom 29. März 2007 (Az.: 42.15-12231/3-6 IRQ) Rechnung, der auf den Erkenntnissen der ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren am 16./17. November 2006 beruht.

Der Unzumutbarkeit der freiwilligen Ausreise steht auch nicht das Verhalten des Klägers im Zeitraum vom 1. Mai 2006 bis 12. Juli 2006 entgegen (II.).

(II.) Vorliegend hat der Kläger über seine Identität dadurch getäuscht, dass er im Asylverfahren zumindest zur Schreibweise seines Namens Angaben gemacht hatte, die nicht der Schreibweise seines Namens in den irakischen Personaldokumenten entspricht.

Doch auch durch das bis zum 13. Juli 2006 festgestellte Fehlverhalten hat der Kläger die Dauer seines Aufenthalts in der Bundesrepublik nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst.

Dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG, wonach der Ausländer die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben darf, ist zwingend zu entnehmen, dass nur rechtsmissbräuchliches Verhalten relevant sein kann, das sich auf die Dauer des Aufenthaltes kausal ausgewirkt hat. Hierbei ist das Verhalten des Ausländers während der gesamten Dauer des Aufenthalts in der Bundesrepublik - also ab Einreise - zu betrachten, nicht etwa nur der streitgegenständliche Zeitraum oder nur der Zeitpunkt ab rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens. Nach Auffassung des erkennenden Senates kommt es mithin darauf an, ob sich das rechtsmissbräuchliche Verhalten des Asylbewerbers im Einzelfall konkret und kausal verlängernd auf die Dauer des Aufenthalts in der Bundesrepublik ausgewirkt hat. Nur wenn ein solcher Zusammenhang mit der notwendigen richterlichen Überzeugungsbildung im Einzelfall festgestellt werden kann, kann sich das aufenthaltsverlängernde, rechtsmissbräuchliche Verhalten auch leistungseinschränkend auswirken. Das kausale, vorwerfbare Verhalten muss im streitgegenständlichen Leistungszeitraum noch fortwirken.

Der erkennende Senat vermag sich insofern der Auffassung des für das AsylbLG nicht mehr zuständigen 7. Senats des LSG Niedersachsen- Bremen (vgl. dessen Urteil vom 20. Dezember 2005, Az: L 7 AY 40/05) nicht anzuschließen, wonach es für die Beurteilung der rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes darauf ankommen soll, ob das rechtsmissbräuchliche Verhalten generell geeignet ist, die Dauer des Aufenthalts zu beeinflussen, und zwar unabhängig davon, ob sich die Verlängerung des Aufenthalts bereits realisiert hat oder der kausale Zusammenhang dadurch weggefallen ist, dass zwischen dem rechtsmissbräuchlichen Verhalten und dem Leistungsantrag die Abschiebung vorübergehend ausgesetzt worden ist (sog. "abstrakte Betrachtungsweise").

Der gesetzlichen Formulierung "die Dauer des Aufenthaltes nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben" kann nicht entnommen werden, dass es genügt, abstrakt auf ein rechtsmissbräuchliches Verhalten abzustellen, ohne dass die Dauer des Aufenthaltes hiervon beeinflusst worden wäre. Das Gesetz lässt es jedenfalls nicht zu, einzelnen Handlungen wie z.B. Täuschungen über die Identität oder die nicht hinreichende Mitwirkung bei der Beschaffung von Heimreisedokumenten gem. § 48 AufenthG, isoliert als rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG zu werten unabhängig von einer umfassenden Bewertung dieses Handelns im Hinblick auf die rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. Denn für eine Sanktion von ausländerrechtlichem Fehlverhalten, das nicht die Aufenthaltsdauer vorwerfbar verlängert, bietet § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG keine Rechtsgrundlage. Wenn der Gesetzgeber im Leistungsrecht des AsylbLG die Gewährung erhöhter Leistungen nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG auch dann ausschließen wollte, wenn ein Ausländer allein z.B. seine aufenthaltsrechtlichen Pflichten verletzt - wie es z.B. in dem seit dem 28. August 2007 geltenden § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG der Fall zu sein scheint - hätte er dies im Gesetzeswortlaut hinreichend deutlich machen müssen. Eine solche Sanktionsmöglichkeit lässt sich dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG nicht entnehmen, der jedenfalls einen kausalen Bezug zur Dauer des Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland verlangt. Bei der Wortauslegung des Begriffes der rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung des Aufenthalts ist auch zu berücksichtigen, dass es sich hierbei um eine Ausnahmeregelung (es sei denn) vom gesetzlichen Regelfall handelt, wonach Ausländer nach einem Bezug von Leistungen nach § 3 AsylbLG über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten (ab dem 28. August 2007: 48 Monate) Anspruch auf erhöhte Leistungen haben sollen.

Das Ergebnis der Wortauslegung wird durch die historische Entwicklung der Norm untermauert. In der bis zum 31. Dezember 2004 gültigen Fassung des § 2 Abs. 1 AsylbLG war formuliert, dass erhöhte Leistungen zu gewähren sind, "wenn die Ausreise nicht erfolgen kann und aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen". In Anwendung dieser Fassung war unbestritten, dass allein auf die aktuelle Situation abzustellen war. Aus der Gesetzesbegründung ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber von dieser allein gegenwartsbezogenen Sichtweise abweichen wollte. Für eine gegenwartsbezogene Sichtweise spricht zudem, dass der Gesetzgeber mit der Neufassung des AsylbLG zum 1. Januar 2005 auch die EU-Richtlinie 2003/9/EG umsetzen wollte.

Diese Interpretation trägt schließlich auch dem in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommenden Regelungszweck Rechnung, wonach nur jene Ausländer Leistungen nach § 2 AsylbLG erhalten, "die unverschuldet nicht ausreisen können" (vgl BT- Drucks. 15/420, S 121; vgl auch BSG a.a.O.). Auch dieser Intention ist eine abstrakte oder generelle Betrachtungsweise nicht zu entnehmen. Eine solche Sichtweise lässt eine Tatsachenfeststellung des individuellen Verhaltens des Asylbewerbers kaum zu und führt daher zu Problemen bei der Beurteilung des Einzelfalls. Im Ergebnis führt eine abstrakte Betrachtungsweise auch zu einem Ausschluss der leistungsrechtlichen Besserstellung auf Dauer, wofür § 2 Abs. 1 AsylbLG keine Anhaltspunkte enthält. Dieser Vorschrift ist vielmehr zu entnehmen, dass der Bezug von Leistungen auf Sozialhilfeniveau nach Ablauf der zeitlichen Voraussetzungen die Regel sein soll, sofern nicht die anspruchsausschließende Einwendung der Rechtmissbräuchlichkeit vorliegt. Damit soll einer stärkeren Angleichung an die hiesigen Lebensverhältnisse und einer verbesserten sozialen Integration nach längerem Aufenthalt in der Bundesrepublik Rechnung getragen werden (vgl. Fichtner/Wenzel, Kommentar zur Grundsicherung, 3. Aufl., § 2 AsylbLG RdNr 1). Ein dauerhafter Ausschluss von Leistungen auf Sozialhilfeniveau führt gerade dann zu unbilligen Ergebnissen, wenn es bei langjährigem Aufenthalt in der Bundesrepublik zu Veränderungen in der Lebenssituation, im Verhalten oder im Aufenthaltsstatus der Asylbewerber kommt.

Die hier vertretene konkret kausale Betrachtungsweise des ausländer- bzw. leistungsrelevanten Verhaltens i.S.v. § 2 Abs. 1 AsylbLG führt im Ergebnis dazu, dass das festgestellte ausländerrechtliche Fehlverhalten bis zum 13. Juli 2006 die Aufenthaltsdauer in der Bundesrepublik unbeeinflusst gelassen hat, weil dem Kläger während desselben Zeitraumes die Ausreise in den Irak nicht zumutbar war und er somit leistungsrechtlich unverschuldet nicht ausgereist ist. Bei mehreren Umständen, die aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen während des gesamten Aufenthalts in der Bundesrepublik Einfluss auf dessen Dauer haben können, sind alle Umstände im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu würdigen und zu gewichten. Bei der Gesamtbetrachtung aller hier maßgeblichen Umstände seit der Einreise des Klägers in die Bundesrepublik fällt das Fehlverhalten des Klägers hinsichtlich der Nichtangabe der richtigen Schreibweise seines Namens in den amtlichen irakischen Dokumenten nicht derart ins Gewicht, als dass ihm eine freiwillige Ausreise leistungsrechtlich zumutbar gewesen wäre. Den bei einer Rückkehr in den Irak drohenden Lebensgefahren bzw. Gefahren für die Gesundheit ist in der Abwägung ein deutlich höheres Gewicht beizumessen. Zudem hat das ausländerrechtliche Fehlverhalten des Klägers nicht etwa zur Folge, dass eine Integration in die deutsche Gesellschaft von vornherein unmöglich erscheint. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger infolge seines Verhaltens Sozialleistungsansprüche, die einem höheren Integrationsbedarf Rechnung tragen, verwirkt haben könnte.