VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 26.07.2007 - 9 A 512/02 - asyl.net: M12032
https://www.asyl.net/rsdb/M12032
Leitsatz:
Schlagwörter: Serbien, Kosovo, Roma, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Behinderte, geistig Behinderte, Kinder, allgemeine Gefahr, Erlasslage, Abschiebungsstopp, UNMIK
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Individuelle Gefahren bei einer Rückkehr der Kläger in den Kosovo, die die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG rechtfertigen könnten, vermag das Gericht vorliegend nicht zu erkennen.

Die Behinderung der Kläger zu 1), zu 2), zu 4) und zu 5) vermag das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei diesen ebenfalls nicht zu begründen.

Denn wenngleich die geistig behinderten Kläger zu 1), zu 2), zu 4) und zu 5) in der Bundesrepublik Deutschland mit den hier für geistig behinderte Menschen zur Verfügung stehenden (schulischen) Förder- und Betreuungsmöglichkeiten voraussichtlich deutlich besser gefördert und im Rahmen ihrer Möglichkeiten ausgebildet werden könnten, als dies in ihrem Heimatland möglich wäre, so begründet allein der Umstand, dass derartige Möglichkeiten im Heimatland der Kläger nicht in vergleichbarem Umfang und mit vergleichbarem Standard zur Verfügung stehen dürften, mangels einer hiermit verbundenen erheblichen konkreten Gefahr für den Gesundheitszustand der Kläger kein Abschiebungsverbot i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. zu einem ähnlich gelagerten Fall VG Düsseldorf, Urteil vom 23. Oktober 2006 – 1 K 2407/06.A –, juris). Anders gewendet: Mit der speziellen Förderung von geistig behinderten Menschen durch Sonderpädagogik und besondere Schul- und Ausbildungseinrichtungen wird weder eine Krankheit behandelt, noch geht allein mit ihrem Ausbleiben die Gefahr einer wesentlichen oder alsbaldigen Verschlechterung des Gesundheitszustandes einher (vgl. VG Ansbach, Urteil vom 21. April 2006, a.a.O.).

Ohne dass es nach dem Gesagten hierauf noch entscheidend ankäme, hat allerdings die von dem Gericht bei dem Auswärtigen Amt eingeholte Auskunft vom 19. April 2007 ergeben, dass auch im Kosovo Schulen für (geistig) behinderte Kinder existieren, und dass es darüber hinaus für behinderte Kinder die Möglichkeit gibt, sog. zusammengesetzte Klassen an einer "normalen" Schule zu besuchen. Aus der genannten Auskunft, die offenbar auf eine Stellungnahme des fachlich zuständigen Ministeriums im Kosovo zurück geht, geht des Weiteren hervor, dass auch Angehörige der Roma Zugang zu Sonderschulen oder zum zusammengesetzten Unterricht haben. Schulgelder werden nicht erhoben, die Kosten trägt das Ministerium. Auch sonstige Unterstützungsleistungen (Transport, Versorgung, Lernmaterialien) werden aus öffentlichen Mitteln übernommen.

Sonstige konkrete Gefahren i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes zu Gunsten der Kläger führen müssten, sind nicht erkennbar. Die Gefahren und Risiken, die sich aus den schlechten Lebensbedingungen im Kosovo – schlechte Versorgungslage, unzureichende Unterbringungsmöglichkeiten, unzureichende infrastrukturelle Bedingungen, mangelhafte medizinische Versorgungslage – zumal für Angehörige der Minderheiten ergeben, sind allgemeine Gefahren, mit denen die gesamte Bevölkerung bzw. einzelne Bevölkerungsteile – namentlich Angehörige der Roma – im Kosovo konfrontiert sind. Diese Gesichtspunkte sind, wie bereits dargestellt, an anderer Stelle in den Blick zu nehmen (sogleich unter II.). Die dargestellten Allgemeingefahren werden auch nicht deshalb zu konkreten Gefahren für die Kläger, weil diese aufgrund ihrer teilweise vorhandenen Behinderungen durch eine Situation, der sie bei einer Rückkehr in ihr Heimatland ausgesetzt wären, vermutlich stärker belastet würden als andere Menschen, die nicht behindert sind und deren Familie nicht derartig stark beansprucht ist wie die Familie der Kläger, in der offenbar fünf Kinder geistig behindert sind. Denn auch für die Klägerin, für ihre Eltern und ihre weiteren Geschwister resultieren die beschriebenen Gefahren aus den allgemeinen Zuständen im Heimatland und nicht aus ihren individuellen Lebensverhältnissen. Eine allgemeine Gefahr unterfällt dem § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aber auch dann grundsätzlich nicht, wenn sie den Einzelnen konkret und individualisierbar zu treffen droht (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 02. Januar 2007 – 20 A 665/05.A –, juris; OVG Münster, Beschluss vom 15. Mai 2003 – 20 A 3332/97.A –, juris). Dass aufgrund individueller Besonderheiten – hierzu können Behinderungen, Krankheiten oder besondere familiäre Verhältnisse zählen – ein Überleben unter angemessenen Bedingungen aufgrund der allgemeinen Lage im Heimatland ungleich schwieriger sein kann als für den Rest der Bevölkerung oder der betroffenen Bevölkerungsgruppe und deshalb eine Extremgefahr, bei deren Vorliegen die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durchbrochen werden kann, eher angenommen werden muss als bei anderen Menschen, steht auf einem anderen Blatt. Dies führt indes nicht zu einer Auflösung der Systematik, nach der individuelle und allgemeine Gefahren unterschieden werden müssen (vgl. OVG Münster, Beschlüsse vom 02. Januar 2007 und vom 15. Mai 2003, a.a.O., wonach Gefahrenmomente, die aus dem Alter und den Behinderungen der dortigen Kläger resultieren, allgemeiner Natur seien, jedoch geeignet seien, eine extreme Gefährdungslage i.S.d. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu begründen).

Die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu Gunsten der Klägerin kann auch nicht im Hinblick auf die allgemeinen Gefahren, denen sie bei einer Rückkehr in den Kosovo ausgesetzt wären, erfolgen.

Denn die Gewährung von Abschiebungsschutz bei Vorliegen von Allgemeingefahren im Wege verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist nur dann geboten, wenn der Ausländer nicht in anderer gleichwertiger Form vor Abschiebung geschützt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 – 1 C 2.01 –, NVwZ 2001, 1420; VGH Mannheim, Urteil vom 20. September 2001 – A 14 S 2130/00 –, InfAuslR 2002, 102; OVG Lüneburg, Beschluss vom 19. Januar 2005 – 8 LA 3/05 –, juris; OVG Greifswald, Beschluss vom 09. Februar 2007 – 3 L 206/06 –, juris; OVG Münster, Beschlüsse vom 02. Januar 2007 und vom 15. Mai 2003, a.a.O.). Ein gleichwertiger Abschiebungsschutz im Sinne der genannten Rechtsprechung ist gegenwärtig aber deshalb gegeben, weil nach der aktuellen Erlasslage der Behörde für Inneres der Freien und Hansestadt Hamburg (Liste der aktuellen Abschiebungsstopps und fachliche Vorgabe zur Erteilung von Bescheinigungen über die Aussetzung von Abschiebungen [Nr. 2/2007], Stand: 27. März 2007) aufgrund der mit der UNMIK getroffenen Verfahrensabsprachen serbische Staatsangehörige aus dem Kosovo, die der Volksgruppe der Roma angehören, nicht in den Kosovo abgeschoben (Ziffer II. 2. des Erlasses) und mit Duldungen ausgestattet werden (Ziffer III. a.E.).