OVG Mecklenburg-Vorpommern

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Zitieren als:
OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 16.05.2007 - 3 L 54/03 - asyl.net: M12046
https://www.asyl.net/rsdb/M12046
Leitsatz:
Schlagwörter: Aserbaidschan, Armenier, Staatsangehörigkeit, Ausbürgerung, Verlust, Anmeldung, Abmeldung, Melderegister, Russland, sicherer Drittstaat, Staatenlosenübereinkommen, Staatenlose, gewöhnlicher Aufenthalt, Einreiseverweigerung, Kinder, Gruppenverfolgung, mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Verfolgungsdichte, Diskriminierung, Berg-Karabach, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Anerkennungsrichtlinie, Erreichbarkeit, Zumutbarkeit, Obliegenheit, Einbürgerung, Antrag
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8
Auszüge:

Die zulässige, insbesondere fristgerecht begründete Berufung ist begründet. Die Kläger haben einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG, so dass das dem entgegenstehende Urteil des Verwaltungsgerichts zu ändern ist.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, kann der asylrechtliche Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich nur zuerkannt werden, wenn die Staatsangehörigkeit des Betroffenen geklärt ist. Offen bleiben kann diese nur, wenn hinsichtlich sämtlicher als Staat der Staatsangehörigkeit in Betracht kommenden Staaten das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG entweder einheitlich bejaht oder verneint werden kann (vgl. BVerwG, U. v. 12.07.2005 - 1 C 22/04 -, NVwZ 2006, 99; BVerwG, U. v. 08.02.2005 - 1 C 29/03 -, a.a.O.; Senatsurteil v. 29.03.2006 - 3 L 176/01 -). Personen, die eine Staatsangehörigkeit besitzen, sind nur dann Flüchtlinge, wenn sie des Schutzes desjenigen Staates entbehren, dem sie angehören (vgl. BVerwG, U. v. 18.10.1983 - 9 C 158.80 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 14).

2. Hiervon ausgehend steht zur Überzeugung des Senats zunächst fest, dass die Kläger die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit verloren bzw. nicht (wieder-)erworben haben (a.), auch keine andere Staatsangehörigkeit erworben haben und damit staatenlos sind (b.).

Da sich die Klägerin zu 1. nach eigenen Angaben tatsächlich noch bis 1992, erkennbar amtlich gemeldet, in Aserbaidschan aufgehalten hat, hatte sie die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit aufgrund des aserb. StAG 1991 zum 01.01.1991 erworben.

Nach Art. 18 Abs. 2 Satz 2 des aserb. StAG 1991 konnte die Staatsangehörigkeit durch Entlassung/Verlust entfallen. Ein Verlustgrund war unter anderem dann gegeben, wenn "eine Person mit ständigem Aufenthaltsort im Ausland ihrer Meldepflicht gegenüber dem Konsulat ohne wichtigen Grund fünf Jahre nicht nachkommt" (Art. 20 Abs. 1 Nr. 2). Da die Klägerin zu 1. Aserbaidschan 1992 verlassen hat und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie bis 1997 bei einer aserbaidschanischen Vertretung in Russland erfasst wurde (vgl. zu dieser Voraussetzung auch Luchterhand an VG Augsburg v. 15.12.1997), kann der Klägerin zu 1. begründeterweise der Verlust der aserbaidschanische Staatsangehörigkeit bereits zu diesem Zeitpunkt vorgehalten werden.

Die nunmehr maßgeblichen Regelungen über Erwerb und Verlust der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit enthält das Staatsangehörigkeitsgesetz der Aserbaidschanischen Republik vom 30.09.1998 (aserb. StAG 1998, Text Anlage zur Auskunft des AA an VG Ansbach v. 04.05.2000), welches jedenfalls spätestens im Jahre 2000 in Kraft getreten ist (vgl. AA an VG Ansbach v. 04.05.2000). Nach Art. 5 Abs. 1 dieses Gesetzes sind Staatsbürger der Aserbaidschanischen Republik Personen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes die aserbaidschanische Staatsbürgerschaft besaßen (Grundlage: Registrierung der betreffenden Person an ihrem Wohnort in der Aserbaidschanischen Republik zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes).

Nach der neueren Auskunftslage zeichnet sich ab, dass die Abmeldung armenischer Volkszugehöriger "von Amts wegen" und die Verweigerung der Anerkennung einer aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit für ausgereiste armenische Volkszugehörige in einem erheblichen Umfang erfolgt ist. Danach hat es im Jahre 1998 einen Erlass des aserbaidschanischen Justizministeriums gegeben, mit dem die Meldebehörden dazu angewiesen wurden, diejenigen armenischen Volkszugehörigen von Amts wegen abzumelden, die sich de facto nicht mehr dauerhaft in der Republik Aserbaidschan aufhielten (AA an VG Schleswig v. 02.042003; vgl. auch AA an OVG Hamburg vom 29.08.2005). In der Regel soll bei armenischen Volkszugehörigen sieben Jahre, nachdem sie an ihrem Wohnsitz nicht mehr aufhältig waren, eine Abmeldung von Amts wegen erfolgt sein (AA an VG Schleswig vom 28.04.2003).

Nach dieser Einschätzung der Praxis der aserbaidschanischen Behörden bei der Anwendung des aserb. StAG 1998 kann die Klägerin zu 1. jedenfalls de facto nicht als aserbaidschanische Staatsangehörige unter Geltung des Gesetzes angesehen werden.

Sie hatte zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des aserb. StAG 1998 keinen tatsächlichen Wohnsitz in Aserbaidschan mehr. Darüber, ob sie zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch amtlich gemeldet war und eventuell sogar heute noch gemeldet ist, liegen keine Erkenntnisse vor. Darauf kommt es aber deshalb nicht an, weil nach Art. 9 des aserbaidschanischen Meldegesetzes von 1996 nämlich "die Wahl des Wohnortes in einem anderen Land" Grund für die Annulierung der Anmeldung am früheren Wohnort (in Aserbaidschan) war. Vermutlich reicht bereits eine mehr als anderthalbmonatige Abwesenheit vom gemeldeten Wohnsitz zur Streichung aus dem Melderegister aus. Die Streichung aus dem Melderegister von Amts wegen muss durch eine "Mitteilung der zuständigen Behörde", bei der es sich um die Innenbehörde handelt, veranlasst sein (vgl. Luchterhand an VG Berlin vom 22.11.2000). Selbst wenn die Klägerin zu 1. danach zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes von 1998 oder auch heute im Melderegister noch eingetragen sein sollte, könnte ihr entgegengehalten werden, dass eine Abmeldung von Amts wegen bereits bei Inkrafttreten des Gesetzes von 1998 hätte erfolgen müssen (i.S.d. im TKI-Gutachten vom 08.03.2006 angeführten rückdatierten Abmeldungen bzw. "Register-Säuberungen") und sie die Staatsangehörigkeit nach dem Gesetz 1998 nicht erworben habe bzw. diese "nicht realisierbar" (vgl. TKI-Gutachten vom 08.03.2006, S. 40) wäre. Selbst wenn man danach die Praxis der aserbaidschanischen Behörden bei der Anwendung von Art. 5 aserb. StAG 1998 dahingehend sieht, dass primär bzw. allein auf die amtliche Meldung bzw. das Bestehen der Eintragung im amtlichen Melderegister abgestellt werden würde, muss man wegen der ebenso bestehenden Praxis der nachträglichen bzw. rückwirkenden Abmeldung von Amts wegen davon ausgehen, dass ehemalige aserbaidschanische Staatsangehörige jedenfalls arnenischer Volkszugehörigkeit, die Aserbaidschan verlassen haben, bei Rückkehr zum heutigen Zeitpunkt die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit - wenn bei zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes und auch nach wie vor bestehender Eintragung im Melderegister vielleicht nicht de jure - so jedenfalls de facto nicht (wieder-)erlangen können (so auch VGH München, U. v. 20.02.2006 - 9 B 04.30117 -, zit. n. juris und U. v. 11.08.2006 - 9 B 03.30076 -). Damit ist die Klägerin jedenfalls nicht als aserbaidschanische Staatsangehörige anzusehen.

Der im Jahre 1994 in Russland geborene Kläger zu 2. ist unter Geltung des aserb. StAG 1991 geboren. Aufgrund der Erwerbstatbestände dieses Gesetzes (Teil II, Art. 11 ff) hat er die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit nicht erworben. Da nach obigen Ausführungen die Mutter keine aserbaidschanische Staatsangehörige war, hat das Kind diese nicht durch Geburt (unabhängig davon ob auf aserbaidschanischem Territorium oder nicht) gem. Art. 12 aserb. StAG 1991 erworben. Die Ausführungen zum Verlust bzw. des fehlenden Wiedererwerbs der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit für die Klägerin 1. unter Geltung des aserb. StAG 1998 gelten für den Vater des Klägers zu 2., den Kläger im Verfahren 3 L 53/03, entsprechend, so dass der Kläger zu 2. auch von diesem die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit nicht ableiten kann. Als Kind von Staatenlosen hätte der Kläger gem. Art. 14 aserb. StAG 1991 die Staatsangehörigkeit nur bei Geburt auf aserbaidschanischem Territorium erworben.

b. Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger während ihres Aufenthalts in Russland die dortige Staatsangehörigkeit erworben haben, bestehen nicht.

Die nach dieser Auskunftslage für armenische Volkszugehörige aus Aserbaidschan bestehende Möglichkeit des erleichterten Erwerbs der russischen Staatsangehörigkeit war sowohl der Klägerin zu 1. als auch ihrem Lebensgefährten erkennbar deshalb verwehrt, weil sie nach eigenen Angaben weder über Identitätspapiere noch über einen anderen Beleg für ihre aserbaidschanische Herkunft verfügten und sie sich damit nicht anmelden konnte.

Haben die Kläger danach die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit verloren bzw. nicht (wieder-)erworben und auch keine andere erworben, unterfallen sie dem Gesetz zum Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen - Staatenlosenübereinkommen - vom 12.04.1976 (BGBl. 1976 II S. 473/1977 II S. 235). Zu berücksichtigen ist jedoch, dass das Übereinkommen nach der Rechtsprechung des BVerwG nur für de-jure-Staatenlose gilt (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, B 4, Anm. zum Übereinkommen, Rn. 3 m.w.N.), die Kläger insgesamt nach obigen Ausführungen aber möglicherweise nur de-facto-Staatenlose sind. Dabei hängt der Status der Staatenlosigkeit nicht von der Art seiner Entstehung ab. Er tritt auch bei freiwilligem Verzicht auf die Staatsangehörigkeit ein. Auch aus der Tatsache, dass der Staatenlose rechtlich und tatsächlich die Möglichkeit hat, seine frühere Staatsangehörigkeit wieder zu erwerben, folgt nicht, dass das Abkommen auf ihn nicht anwendbar wäre. Ein Staatenloser, der seine Staatenlosigkeit in zumutbarer Weise beseitigen kann, ist nach dem Staatenlosenübereinkommen hierzu nicht verpflichtet. Ihn trifft auch keine entsprechende Obliegenheit (BVerwG. U. v. 16.07.1996 - 1 C 30.93 -, BVerwGE 101. 295 ff.). Von daher sind die Kläger auch nicht auf die nach dem aserb. StAG 1998 grundsätzlich bestehende Möglichkeit des (erneuten) Erwerbs der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit (vgl. hierzu etwa Institut für Ostrecht an VG Magdeburg vom 26.07.2000) zu verweisen. Gleiches gilt für die - für armenische Volkszugehörige wie die Kläger - relativ einfache Möglichkeit des Erwerbs der armenischen Staatsangehörigkeit (Flüchtlinge armenischer Volkszugehörigkeit haben einen Rechtsanspruch auf Erwerb der Staatsangehörigkeit, vgl. AA, Lagebericht Armenien vom 02.02.2006, S. 22).

3. Bei Staatenlosen ist für die für das Begehren auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus zu stellenden Frage der drohenden Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG auf das Land des (letzten rechtmäßigen) gewöhnlichen Aufenthalts abzustellen (vgl. § 3 AsylVfG und Art. 1 A Nr. 2 letzter Halbsatz GFK: vgl. auch Darstellung bei Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, § 18 Rn. 31 ff). Für den rechtmäßigen Aufenthalt genügt nicht die faktische Anwesenheit, selbst wenn sie dem Vertragsstaat (der GFK) bekannt ist und von diesem hingenommen wird. Es bedarf vielmehr einer gewissen Aufenthaltsverfestigung (bejaht für Aufenthaltsbefugnis nach § 70 AsylVfG: BVerwG, U. v. 17.03.2004 - 1 C 1/03 -, BVerwGE 120, 206). Solange über das Aufenthaltsrecht des Asylsuchenden in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht endgültig entschieden worden ist, wird der gewöhnliche Aufenthalt außerhalb der Bundesrepublik Deutschland nicht in Frage gestellt. Ebensowenig kann eine befürchtete Einreiseverweigerung, deren Asylrelevanz gerade zu prüfen ist, etwas am Land des gewöhnlichen Aufenthalts ändern (vgl. zu § 51 Abs. 1 AuslG: BVerwG, U. v. 12.02.1985 - 9 C 45.84 -, EZAR 200 Nr. 11).

a. Nach o.g. Grundsätzen ist zunächst nicht auf den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland ab 2002 abzustellen, da die Kläger sich hier als Asylbewerber im Verfahren ohne bestandkräftige Entscheidung gem. § 55 AsylVfG lediglich gestattet aufhalten (vgl. auch Hailbronner, Ausländerrecht, B 4, Anm. zum Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen, Rn. 5 m.w.N.).

b. Die Klägerin zu 1. hat sich von der Geburt bis zur Ausreise 1992 - als aserbaidschanische Staatsangehörige - in Aserbaidschan aufgehalten, so dass dieser als letzter gewöhnlicher Aufenthalt im o.g. Sinne anzusehen ist.

Der Aufenthalt in Russland ab 1992 kommt als nach o.g. Grundsätzen berücksichtigungsfähiger Aufenthalt nicht in Betracht, da sich die Klägerin zu 1. dort nach eigenen Angaben illegal aufgehalten hat.

Die Eigenschaft Aserbaidschans als potenzieller Verfolgerstaat für die Klägerin zu 1. entfällt auch nicht deshalb, weil ihr nach dem oben Dargestellten aller Voraussicht die Einreise verweigert werden wird. Bei einer Ausweisung oder Einreiseverweigerung verliert der Staat nämlich nur dann seine Eigenschaft als Land des gewöhnlichen Aufenthalts (mit der Folge des Ausschlusses der Asylanerkennung), wenn diese allein aus ordnungsrechtlichen Gründen erfolgt. Dagegen kann eine politische Verfolgung gegeben sein, wenn einem Staatenlosen die Wiedereinreise durch denjenigen Staat verweigert wird, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, sofern der darin liegenden Entziehung eines Aufenthaltsrechts politische Motive zugrunde liegen (BVerwG, U. v. 15.10.1985 - 9 C 30.85 -, InfAuslR 1986, 76 m.w.N.). Vorliegend liegt die Einreiseverweigerung für die Klägerin durch den Verlust bzw. die Nicht-Wiederanerkennung der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit jedoch in der armenischen Volkszugehörigkeit und damit in einer politischen Verfolgung begründet (s.u. 4.). Die Verweigerung der Rückkehr durch das Land des früheren gewöhnlichen Aufenthalts ist ein gewichtiges Indiz für die an asylerhebliche Gründe anknüpfende Verfolgung.

c. Obwohl der Kläger zu 2. 1994 in Russland geboren wurde und sich seit dem nur dort und dann in der Bundesrepublik Deutschland und niemals in Aserbaidschan aufgehalten hat, ist auch für ihn auf Aserbaidschan als potentiellen Verfolgerstaat abzustellen.

Die Russische Föderation kommt als Land des gewöhnlichen Aufenthalts mangels der erforderlichen dauerhaften Beziehung (im Sinne eines rechtmäßigen Aufenthalts) nicht in Betracht. Hierzu kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden. Eine Beziehung zu Aserbaidschan ist dagegen (trotz fehlenden tatsächlichen Aufenthalts) durch die ehemalige aserbaidschanische Staatsangehörigkeit der Mutter begründet. Würde ihr die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit nicht aus asylerheblichen Gründen ab- bzw. nicht wieder zuerkannt, hätte das Kind nach dem aserb. StAG 1998 durch Abstammung von einer aserbaidschanischen Staatsangehörigen diese Staatsangehörigkeit erworben. Von daher erscheint es dem Senat auch unter Berücksichtigung Minderjährigkeit des Kindes und des Schutzes der Familie (Art. 6 GG, Art 8 EMRK) sachgerecht, auch für dieses auf Aserbaidschan als potentiellen Verfolgerstaat abzustellen. Dafür spricht auch der in der herrschenden Rechtsprechung geltende Grundsatz, dass (staatenlose) Kinder und Jugendliche in der Regel den Aufenthalt ihrer (staatenlosen) Eltern teilen und insoweit die Aufenthaltsverhältnisse der Eltern entscheidend sind (vgl. BVerwG, U. v. 23.02.1993 - 1 C 45.90 -, BVerwGE 92, 116; OVG Koblenz, U. v. 06.11.1990 - 7 A 10111/89 -, zit. n. juris: OVG Berlin, U. v. 18.04.1991 - 5 B 41.90 -, InfAuslR, 228; zum Erwerb der Vertriebeneneigenschaft durch das nachgeborene Kind: BVerwG, U. v. 22.10.1973 - VIII C 155.72 -, BVerwGE 44, 114-120).

4. Unter Zugrundelegung des für die Frage des Bestehens der Gefahr einer politischen Verfolgung anzulegenden Maßstabs (a.) kann nach Auffassung des Senats offen bleiben, ob die allgemeine Situation in Aserbaidschan eine solche Gefahr für armenische Volkszugehörige im Falle der Rückkehr zum heutigen Zeitpunkt begründet (b.). Jedenfalls droht Angehörigen dieser Gruppe, die Aserbaidschan vor längerer Zeit verlassen haben, im Falle der Rückkehr durch den oben geschilderten Verlust bzw. Nichterwerb der Staatensangehörigkeit und die damit verbundene Schutzlosstellung politische Verfolgung (c.).

b. Dahinstehen kann dabei zunächst, ob die derzeit bestehende allgemeine Situation für armenische Volkszugehörige in Aserbaidschan Rechtsgutbeeinträchtigungen von asylrechtlich erheblicher Intensität befürchten lassen.

So sollen nach der auch in der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zugrunde gelegten Auskunftslage des Auswärtigen Amtes ab etwa dem Jahre 2000 Personen armenischer Abstammung de facto vielfach schlechter behandelt werden als andere Personengruppen, ohne dass staatliche Stellen, von Ausnahmen abgesehen, dies wirksam unterbinden würden.

Ob diese Situation für armenischen Volkszugehörige in Aserbaidschan bereits nach o.g. Grundsätzen eine asylrelevante Verfolgung in Form der mittelbaren Gruppenverfolgung begründet, erscheint im Hinblick auf die Eingriffsintensität einerseits, den Bezug zur Ethnie andererseits und nicht zuletzt wegen der Verfolgungsdichte zweifelhaft.

c. Eine asylrelevante Verfolgung für ausgereiste armenische Volkszugehörige aus Aserbaidschan wird jedenfalls durch den Verlust bzw. Nichterwerb der Staatsangehörigkeit und die damit verbundene Schutzlosstellung begründet (ebenso VGH München, U. v. 20.02.2006 - 9 B 04.30117, zit n. juris).

So kann eine (faktische) Ausbürgerung eine Maßnahme politischer Verfolgung darstellen, wenn die Maßnahme die von ihr Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen soll. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, ist an Hand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen (BVerfG, U. v. 02.07.1993, InfAuslR 1993, 345; BVerwG. U. v. 24.10.1995 - 9 C 75/95 -, NVwZ-RR 1996, 471). Die Ausbürgerung muss also auf die Rasse, die Religion, die Nationalität, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder auf die politische Überzeugung des Asylbewerbers zielen (vgl. dazu BVerwG, B. v. 01.08.2002 - 1 B 6/02 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 263; BVerwG, U. v. 18.02.1992 - 9 C 59/91 -, Buchholz 402, 25 § 7 AsylVfG Nr. 1; vgl. BVerwG, U. v. 22.02.2005 - 1 C 17/03 -, E 123, 18 = NVwZ 2005, 1191).

Nach der bereits oben beschriebenen neueren Auskunftslage geht der Senat davon aus, dass die meisten der ausgereisten armenischen Volkszugehörigen entweder im Rahmen der "Melderegisterberichtigungen" von Amts wegen abgemeldet wurden oder jedenfalls - etwa zwecks Feststellung der Staatsangehörigkeit - als abgemeldet gelten bzw. dies ihnen vorgehalten werden würde. Wenn auch die bestehende Rechtslage keinen erkennbaren ausdrücklichen ethnischen Bezug hat, so begründet jedenfalls die Verwaltungspraxis der aserbaidschanischen Behörden eine asylerhebliche ethnische Diskriminierung für armenische Volkszugehörige. Neben den bereits genannten Quellen, die für eine gezielte Politik der Ausgrenzung armenischer Volkszugehöriger aus der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit (vgl. etwa auch die Erlasslage als Beleg für ein für die Gruppenverfolgung erforderliches staatliches Verfolgungsprogramm) sprechen, deutet auch ein Vergleich mit anderen Nachfolgestaaten der UdSSR in vergleichbarer Situation hierauf hin. So sollen nämlich sämtliche Nachfolgestaaten der UdSSR grundsätzlich bemüht gewesen sein, Personen mit ständigem Wohnsitz im Ausland (sei es in einer anderen Sowjetrepublik oder einem sonstigen Staat), die aufgrund des Geburtsortes oder der Blutsverwandtschaft oder aufgrund beider Merkmale nachweislich Bindung an den betreffenden Staat haben, den Erwerb der jeweiligen Staatsangehörigkeit zu erleichtern (Luchterhand an VG Berlin v. 22.1 1.2000). Dies manifestiert sich vorliegend auch in Bezug auf aserische Volkszugehörige, die offenbar trotz längerer Auslandsaufenthalte durchweg die aserbaidschanisehe Staatsangehörigkeit behalten haben bzw. problemlos wiedererlangen können. Anders hingegen die Situation für armenische Volkszugehörige.

Neben hinreichenden Anhaltspunkten für ein staatliches Verfolgungsprogramm in die o.g. Richtung liegt auch die weiter "erforderliche" Verfolgunsgdichte vor. Die beschriebene diskriminierende Verwaltungspraxis betrifft nämlich alle aus Aserbaidschan stammenden ausgereisten armenischen Volkszugehörigen; die in Aserbaidschan verbliebenen Angehörigen der Volksgruppe betrifft die Problematik dagegen naturgemäß nicht.

5. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für die Kläger wegen der im Falle der Rückkehr nach Aserbeidschan drohenden, an ihre armenische Volkszugehörigkeit anknüpfende Verfolgung ist auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil ihnen in Berg-Krabach eine sog. inländische Fluchtalternative zur Verfügung stehen würde.

a. Trotz des Umstandes, dass der aserbaidschanische Staat seit dem Waffenstillstand 1994 effektiv keine Gebietsgewalt mehr in Berg-Karabach und damit über 15 % des Staatsgebietes ausübt, die dort lebende, mit über 75 % armenischstämmige Bevölkerung sich bereits 1991 als "Republik Berg-Karabach" für unabhängig erklärt hat und das Gebiet über ein selbst ernanntes Parlament, eine Regierung mit Verwaltungsorganen und einen Präsidenten sowie eigene Sicherheitskräfte verfügt (vgl. AA, Lagebericht Aserbaidschan vom 23.03.2006, S. 17 f, Lagebericht Armenien vom 20.03.2007, S. 16) kommt Berg-Karabach - wie vom Verwaltungsgericht angenommen - grundsätzlich als Ort der inländischen Fluchtalternative in Betracht (ebenso: VGH Kassel, B. v. 30.05.2003 - 3 UE 858/02.A - und U v. 15.09.2005 - 3 UE 2380/04.A -; OVG Schleswig v. 12.12.2002 - 1 L 239/01 -; OVG Weimar, U. v. 26.03.2003 - 2 KO 155/03 -; VGH München, U. v. 18.08.2006 - 9 B 04.30794 - unter Hinweis auf U. v. 29.11.2004 - 9 B 01.31196 -, wonach es in Berg-Karabach wegen der fehlenden völkerrechtlichen Anerkennung an einer souveränen Staatsgewalt fehle).

b. Dieses Gebiet der inländischen Fluchtalternative ist für die Kläger jedoch nicht in zumutbarer Weise erreichbar.

Personen ohne gültige armenische Dokumente (Pass) bedürfen für die Einreise nach Armenien eines gültigen anerkannten Reisedokuments mit Visum (AA, Lagebericht Armenien vom 20.03.2007, S. 14; vgl. auch VGH München U. v. 11.08.2006 - 9 B 03.30076 -, S. 16 f des UA). Die Einreisekontrollen für freiwillig aus Deutschland ausreisende und rückgeführte Personen verlaufen problemlos, wenn ein von der armenischen Botschaft ausgestelltes Passersatzdokument (Certificate of Repatriation) vorliegt. Es werden nur die von der armenischen Botschaft ausgestellten Heimreisedokumente oder Pässe anerkannt. Eine Rückreise ohne Vorlage eines dieser Dokumente ist nicht möglich (AA, Lagebericht Armenien v. 20.03.2007, S. 14; TKI an VG Ansbach v. 08.03.2006, S. 41). Da die Kläger nicht über ein gültiges Reisedokument, insbesondere weder über aserbaidschanische noch armenische Pässe verfügen und auch von Beklagtenseite weder vorgetragen noch sonst ersichtlich ist, dass sie diese erlangen könnten, ist ihnen diese Einreisemöglichkeit nach Armenien verwehrt.

Aus Aserbaidschan stammende, nunmehr staatenlose armenische Volkszugehörige können trotz eines wohl insoweit bestehenden Rechtsanspruchs (vgl. AA, Lagebericht Armenien v. 02.02.2006, S. 22) auch nicht auf die Beantragung der armenischen Staatsangehörigkeit für eine Einreise nach Armenien und Weiterreise nach Berg-Karabach verwiesen werden. Zwar kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Asylbewerber, der durch zumutbares eigenes Verhalten - wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr - die Gefahr politischer Verfolgung oder sonstige im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbotes verlangen (B. v. 21.02.2006 - 1 B 107.05 -. Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 323 m.w.N.). Ein Staatenloser, der seine Staatenlosigkeit in zumutbarer Weise beseitigen kann, ist nach dem Staatenlosenübereinkommen hierzu aber nicht verpflichtet. Ihn trifft auch keine entsprechende Obliegenheit (BVerwG, U. v. 16.07.1996 - 1 C 30.93 - BVerwGE 101, 295 ff.). Damit können die Kläger auch nicht auf die Möglichkeit der Erlangung armenischer Pässe durch Bekenntnis zur armenischen Nationalität (vgl. AA. Lagebericht Armenien v. 20.03.2007, S. 14) verwiesen werden.

Letztlich können die Kläger auch nicht auf die Beantragung des Flüchtlingsstatus in Armenien zur Begründung einer Einreisemöglichkeit verwiesen werden. Zwar sollen typischerweise behebbare Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Reisepapieren und Transitvisa nach der Rechtsprechung des BVerwG überhaupt asylrechtlich unbeachtlich sein (U. v. 16.01.2001 - 9 C 16/00 -, BVerwGE 112, 345). Selbst wenn man davon ausgeht, dass es den Klägern bei Anwendung der o.g. Grundsätze zur Abwendung der sonst drohenden politischen Verfolgung zumutbar wäre, den Flüchtlingsstatus zur Ermöglichung der Einreise nach Armenien und Weiterreise zum Ort der inländischen Fluchtalternative Berg-Karabach zu beantragen, ist ihnen diese Möglichkeit rein praktisch verwehrt. Nach der oben zitierten, im Urteil des Senats vom 29.03.2006 dargelegten Auskunftslage ist die Beantragung des Flüchtlingsstatus in bzw. für Armenien nämlich nur in Armenien bzw. an der Grenze möglich, wohin die Kläger ohne gültige Reisedokumente nicht gelangen können.

6. Die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus aufgrund § 60 Abs. 1 AufenthG ist letztlich auch nicht nach § 27 AsylVfG ausgeschlossen.

Zwar haben sich die Kläger vor der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland länger als drei Monate in Russland aufgehalten. Eine Verweisung hierauf als anderweitige Sicherheit vor Verfolgung i.S.v. § 27 AsylVfG scheidet nach den o.g. Grundsätzen jedoch bereits deshalb aus, weil sich die Kläger dort illegal aufgehalten haben, die dortige Staatsangehörigkeit nicht besitzen und damit sowohl eine Rückführung als auch eine (legale) Rückkehr erkennbar nicht möglich ist.