LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.11.2007 - L 20 B 184/07 AS ER - asyl.net: M12057
https://www.asyl.net/rsdb/M12057
Leitsatz:

Unionsbürger sind nicht gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II vom (ergänzenden) Arbeitslosengeld II ausgeschlossen, wenn sie einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen.

 

Schlagwörter: D (A), Grundsicherung für Arbeitssuchende, Unionsbürger, Arbeitssuche, geringfügige Beschäftigung, Polen, Arbeitnehmerfreizügigkeit
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; SGB II § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Auszüge:

Unionsbürger sind nicht gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II vom (ergänzenden) Arbeitslosengeld II ausgeschlossen, wenn sie einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin vom 06.09.2007, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (Nichtabhilfebeschluss vom 07.09.2007), ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat die Antragsgegnerin zu Recht im Wege der einstweiligen (Regelungs-) Anordnung gemäß § 86 b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) dem Grunde nach verpflichtet, der Antragstellerin Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) zu gewähren.

Der Aufenthalt der Antragstellerin ergibt sich nicht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche. Ohne Belang ist insoweit, ob die Antragstellerin ursprünglich allein zur Arbeitssuche in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist. Nach den mit der Beschwerdebegründung nicht angegriffenen Ausführungen des Sozialgerichts geht die Antragstellerin einer geringfügigen Beschäftigung im Umfang von bis zu 14 Wochenstunden bei einem Lohn von 286,10 EUR monatlich nach. Die Antragstellerin hat daher als Staatsangehörige Polens gemäß § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU unabhängig von der Arbeitssuche ein Aufenthaltsrecht. Denn sie ist als Arbeitnehmerin im Sinne dieser Vorschrift anzusehen. Im Freizügigkeitsgesetz/EU findet sich eine Definition des Begriffs "Arbeitnehmer" im Sinne des Gesetzes nicht. Demzufolge fehlt auch eine Bestimmung, wonach "Arbeitnehmer" im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU nur ein mehr als geringfügig Beschäftigter wäre (vgl. auch Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14.11.2006, L 14 B 936/06 AS ER). Die Begriffsbestimmung gebietet unter Berücksichtigung der Zielrichtung des Gesetzes als Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 eine gemeinschaftsrechtliche Auslegung (vgl. etwa Waltermann/Kämpfer, Der Betrieb 2006,893). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) fällt jeder Arbeitnehmer, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, mit Ausnahme derjenigen Arbeitnehmer, deren Tätigkeit einen so geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt, unter die Vorschriften über Freizügigkeit (vgl. u.a. EuGH, Urteil vom 23.03.1982, Levin, 53/81, Slg. 1982, 1035, RdNr. 17).

Die von der Antragstellerin ausgeübte Tätigkeit erweist sich in diesem Sinne entgegen der Rechtsauffassung der Antragsgegnerin nicht als völlig untergeordnet und unwesentlich. Dies gilt sowohl bei wirtschaftlicher (Monatslohn von 286,10 EUR) als auch bei zeitlicher Betrachtung (bis zu 14 Wochenstunden). Dass die Antragstellerin weniger verdient, als zur Sicherung ihres Lebensunterhalts im Sinne einer Existenzsicherung erforderlich ist, ändert an dieser Beurteilung nichts (vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O.). Unter die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer fällt auch, wer eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübt, mit der er weniger verdient, als in dem Mitgliedsstaat, in dem er sich aufhält, als Existenzminimum angesehen wird (vgl. EuGH, Urteil vom 23.03.1982, a.a.O.).

Der Senat hält somit eine Festlegung dahingehend, wann das vom EuGH formulierte Ausschlusskriterium greift, insoweit im vorliegenden Fall nicht für erforderlich. Der Senat weist im Übrigen darauf hin, dass der EuGH in gefestigter Rechtsprechung davon ausgeht, dass auch geringfügig Beschäftigte im Sinne des § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV Arbeitnehmer im Sinne des Artikel 39 EG (ehedem Art. 48), der in Abs. 1 die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet, sein können (vgl. zuletzt EuGH, Urteil vom 18.07.2007, Geven, C-213/05).

Ein Leistungsausschluss ergibt sich für die Zeit ab dem 28.08.2007 auch nicht aus dem neu gefassten Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II. Nach der Gesetzesbegründung betrifft dieser Leistungsausschluss vor allem Unionsbürger, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen. Nach Ablauf der ersten drei Monate ihres Aufenthalts ist das weitere Aufenthaltsrecht - wie nach der Vorgängerregelung - vom Aufenthaltszweck abhängig (vgl. BT-Drs. 16/5065 S. 234).