VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.10.2007 - 11 S 2967/06 - asyl.net: M12077
https://www.asyl.net/rsdb/M12077
Leitsatz:

1. Die nachträgliche zeitliche Beschränkung einer Aufenthaltserlaubnis bleibt auch nach Ablauf der ursprünglichen Geltungsdauer dieses Aufenthaltstitels wirksam, wenn der Ausländer rechtzeitig einen Verlängerungsantrag gestellt hat.

2. Für die Beantwortung der Frage, ob der türkische Arbeitnehmer i. S. des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 ordnungsgemäß im regulären Arbeitsmarkt beschäftigt ist, sind steuer- und sozialversicherungsrechtliche Rechtsverstöße im Zusammenhang mit der Beschäftigung allenfalls erheblich, wenn der türkische Arbeitnehmer insoweit gegen ihn selbst treffende Rechtspflichten verstößt oder wenn er sich an entsprechenden Rechtsverstößen des Arbeitgebers kollusiv beteiligt, etwa indem er mit ihm die Abrede trifft, dass die Arbeitsvergütung ohne Berücksichtigung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen - "schwarz" - ausgezahlt werden soll (hier verneint).

 

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, nachträgliche Befristung, Übergangsregelung, Zuwanderungsgesetz, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Verlängerungsantrag, Erledigung, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Türken, Arbeitnehmer, illegale Erwerbstätigkeit
Normen: AufenthG § 102 Abs. 1; AuslG § 12 Abs. 2 S. 2; AufenthG § 7 Abs. 2 S. 2; ARB Nr. 1/80 Art. 6 Abs. 1; AufenthG § 81 Abs. 4
Auszüge:

1. Die nachträgliche zeitliche Beschränkung einer Aufenthaltserlaubnis bleibt auch nach Ablauf der ursprünglichen Geltungsdauer dieses Aufenthaltstitels wirksam, wenn der Ausländer rechtzeitig einen Verlängerungsantrag gestellt hat.

2. Für die Beantwortung der Frage, ob der türkische Arbeitnehmer i. S. des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 ordnungsgemäß im regulären Arbeitsmarkt beschäftigt ist, sind steuer- und sozialversicherungsrechtliche Rechtsverstöße im Zusammenhang mit der Beschäftigung allenfalls erheblich, wenn der türkische Arbeitnehmer insoweit gegen ihn selbst treffende Rechtspflichten verstößt oder wenn er sich an entsprechenden Rechtsverstößen des Arbeitgebers kollusiv beteiligt, etwa indem er mit ihm die Abrede trifft, dass die Arbeitsvergütung ohne Berücksichtigung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen - "schwarz" - ausgezahlt werden soll (hier verneint).

(Amtliche Leitsätze)

 

Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch sonst zulässige Berufung ist begründet.

Die angegriffenen ausländerrechtlichen Verwaltungsakte sind trotz Außerkrafttretens des Ausländergesetzes am 31.12.2004 nach § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG wirksam geblieben. Die nachträgliche zeitliche Beschränkung der Aufenthaltserlaubnis hat sich auch nicht dadurch auf sonstige Weise erledigt (§ 43 Abs. 2 LVwVfG), dass die ursprüngliche Geltungsdauer der beschränkten Aufenthaltserlaubnis am 24.08.2005 abgelaufen und die Aufenthaltserlaubnis daher spätestens zu diesem Zeitpunkt erloschen wäre (vgl. § 101 Abs. 2 i. V. m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Denn sie entfaltet ungeachtet dessen auch gegenwärtig und künftig noch Rechtswirkungen in Bezug auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im Bundesgebiet in dem Zeitraum, um den die Geltungsdauer verkürzt worden ist (vgl. bereits Senatsurteil vom 02.02.1994 - 11 S 1014/93 - juris, m. w. N., im Ergebnis bestätigt durch BVerwG, Urteil vom 27.06.1995 - 1 C 5.94 - BVerwGE 99, 28; ebenso: VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 22.10.1998 - 10 S 1152/98 -; BayVGH, Beschluss vom 18.01.2007 - 24 ZB 06.421 - juris; VG Hamburg, Urteil vom 17.08.1999 - 10 VG 5331/98 - juris). Das gilt jedenfalls dann, wenn der Ausländer - wie der Kläger - rechtzeitig vor Ablauf der ursprünglichen Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis einen Verlängerungsantrag gestellt hat. Denn die Beschränkung verkürzt die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts und die Dauer des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis. Das schließt nicht nur den vorläufigen Fortbestand des bisherigen Aufenthaltstitels aufgrund des rechtzeitigen Verlängerungsantrages nach § 81 Abs. 4 AufenthG aus. Es wirkt sich auch nachteilig auf die für die Entscheidung über den Verlängerungsantrag möglicherweise erhebliche rechtliche Verfestigung des Aufenthalts aus. Auch kann die Verkürzung der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels für die Dauer ordnungsgemäßer Beschäftigung i. S. des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erheblich sein. Die Ausreisefrist und die Abschiebungsandrohung sind ebenfalls weiterhin wirksam (§ 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Die Wiederherstellung und Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Klägers haben daran nichts geändert. Dadurch entfiel zwar die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht (§ 42 Abs. 2 Satz 2 AuslG, § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) und der Abschiebungsandrohung (§ 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i. V. m. § 12 LVwVG). Das bewirkt aber lediglich eine Unterbrechung der Ausreisefrist (§ 50 Abs. 4 AuslG, § 50 Abs. 3 AufenthG).

Für die verwaltungsgerichtliche Kontrolle der nachträglichen zeitlichen Beschränkung eines befristeten Aufenthaltstitels, der - wie hier - ein nationales Aufenthaltsrecht konstitutiv begründet, ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung abzustellen (st. Rspr., vgl. BVerwG, Urteil vom 01.07.2003 - 1 C 32.02 - NVwZ 2004, 245 m.w.N.).

Zwar waren die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine solche Beschränkung nach § 12 Abs. 2 Satz 2 AuslG erfüllt, weil die für die Erteilung dieses Aufenthaltstitels nach § 23 Abs. 1 Nr. 1 AuslG i. V. m. § 17 Abs. 1 AuslG wesentliche Voraussetzung des Bestehens einer familiären - ehelichen - Lebensgemeinschaft nicht mehr vorlag. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts und der Beklagten stand dem Kläger in dem für die gerichtliche Kontrolle maßgebenden Zeitpunkt am 01.07.2004 jedoch ein Aufenthaltsrecht zur Fortsetzung seiner Beschäftigung bei der Firma ... nach Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich ARB 1/80 zu. Ob die Verkürzung der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels des Klägers darüber hinaus zum maßgebenden Zeitpunkt gegen das supranationale europarechtliche Gleichbehandlungsgebot nach Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 verstößt, weil sie die Ausübung eines "überschießenden" Beschäftigungsrechts auf Grund einer unbefristeten nationalen Arbeitsgenehmigung vereitelt (vgl. EuGH, Slg. 2006, I-10279 - Güzeli - Rn. 48 ff. = NVwZ 2007, 187; Slg. 2006, I-11917 - Gattoussi - Rn. 42 f. = NVwZ 2007, 430; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.09.2007 - 13 S 1059/07 -; a. A. BVerwG, Urteil vom 01.07.2003 - 1 C 18.02 - NVwZ 2004, 241), kann daher offen bleiben.

Dem Kläger stand am 01.07.2004 ein Beschäftigungsrecht und damit ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich ARB 1/80 zur Fortsetzung seiner Beschäftigung bei der Firma ... in ... zu.

Die mithin bereits ab Anfang Dezember 2002 aufgenommene Beschäftigung des Klägers bei der Firma ... erfüllt alle Merkmale einer Arbeitnehmertätigkeit i. S. des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80. Insoweit ist die Auslegung des Arbeitnehmerbegriffes im Gemeinschaftsrecht heranzuziehen (EuGH, Slg. 1998, I-7747, Rn. 23 - Birden -). Danach ist Arbeitnehmer, wer eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei solche Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die wegen ihres geringen Umfangs völlig untergeordnet und unwesentlich sind. Das wesentliche Merkmal eines Arbeitsverhältnisses in diesem Sinne besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (st. Rspr., vgl. etwa EuGH, Slg. 2004, I-7573 - Trojani - Rn. 15).

Die Beschäftigung des Klägers war auch ordnungsgemäß im regulären Arbeitsmarkt. Der Begriff "ordnungsgemäße Beschäftigung" setzt eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats und damit das Bestehen eines nicht bestrittenen Aufenthaltsrechts voraus (EuGH Slg. 1990, I-3461, Rn. 30 - Sevince -; Slg. 1995, I-1475, Rn. 26 - Bozkurt -; Slg. 1992, I-6781, Rn. 12, 22 und 49 - Kus -). Der Begriff "regulärer Arbeitsmarkt" bestimmt ferner, dass das Arbeitsverhältnis im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats lokalisiert sein muss oder eine enge Verknüpfung zu diesem Gebiet aufweist (EuGH, Slg. 1997, I-143 - Günaydin - Rn. 29; Slg. 1998, I-7747 - Birden - 33; Slg. 1997, I-5179 - Ertanir - Rn. 39). Er stellt aber keine Voraussetzungen auf, die über das Erfordernis der ordnungsgemäßen Beschäftigung hinausgehen. Die in der deutschen Sprachfassung des Beschlusses Nr. 1/80 verwendeten Begriffe "regulär" und "ordnungsgemäß" sind synonym (EuGH, Slg. 1998, I-7747 - Birden - Rn. 47 ff.). Der Begriff "regulärer Arbeitsmarkt" umschreibt demzufolge die Gesamtheit der Arbeitnehmer, die den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats nachkommen und somit das Recht haben, dort eine Berufstätigkeit auszuüben (EuGH Slg. 1998, I-7747 - Birden - Rn. 51; Slg. 2000, I-957 - Nazli - Rn. 31; Slg. 2006, I-10279 - Güzeli - Rn. 32). In der Rechtsprechung deutscher Verwaltungsgerichte wird im Anschluss daran im Wesentlichen auf den Einklang mit den arbeitserlaubnis- und aufenthaltsrechtlichen Vorschriften abgestellt (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.01.1995 - 1 C 2.94 - BVerwGE 97, 301; HessVGH, Beschluss vom 20.05.1994 - 12 TH 986/94 - InfAuslR 1994, 307 <308>). Fraglich ist allerdings, ob die Ordnungsmäßigkeit der Beschäftigung nicht auch berührt wird, wenn der türkische Arbeitnehmer oder sein Arbeitgeber - wie von der Beklagten und vom Verwaltungsgericht in Bezug auf den Tatsachenvortrag des Klägers zu seiner Beschäftigung im Dezember 2002 und im Januar 2003 bei der Firma ... angenommen - gegen einschlägiges Steuer- oder Sozialversicherungsrecht verstoßen. Denn auch dabei handelt es sich um Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats, die die Beschäftigung des Arbeitnehmers zum Gegenstand haben oder an sie anknüpfen. Zwar sind steuer- und sozialversicherungsrechtliche Rechtsverstöße des Arbeitgebers für die Frage, ob der türkische Arbeitnehmer i. S. des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 ordnungsgemäß beschäftigt ist, nach Sinn und Zweck dieser Vorschrift unerheblich (vgl. auch HessVGH, Beschluss vom 22.04.2004 - 12 UE 234/04 - InfAuslR 2004, 333). Anderes könnte freilich gelten, wenn der türkische Arbeitnehmer sich an Verstößen des Arbeitgebers gegen Vorschriften dieser Art kollusiv beteiligt, etwa indem er mit dem Arbeitgeber die Abrede trifft, dass die Arbeitsvergütung ohne Berücksichtigung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen - "schwarz" - ausgezahlt werden soll (so genannte Schwarzgeldvereinbarung, vgl. BAG, Urteil vom 26.02.2003 - 5 AZR 690/01 - BAGE 105, 187), oder wenn der türkische Arbeitnehmer mit der Ausübung der Beschäftigung gegen ihn selbst treffende steuer- oder sozialversicherungsrechtliche Rechtspflichten verstößt. In einem solchen Fall dürfte wohl - zumindest - ein Fall der Rechtsmissbrauchs vorliegen, der die Berufung auf eine Rechtsposition nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 ausschlösse. Das bedarf hier indes keiner Vertiefung, weil ein solcher Fall - entgegen der Annahme der Beklagten und wohl auch des Verwaltungsgerichts - nicht vorliegt.