VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 08.08.2007 - 2 K 3070/07 - asyl.net: M12084
https://www.asyl.net/rsdb/M12084
Leitsatz:

1. Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Vater-Kind-Beziehung ein rechtliches Ausreisehindernis im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG begründet.

2. Liegt ein Regelanspruch nach § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG vor, wird auch für Asylbewerber, deren Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG überwunden.

3. Ein Ausländer, der seiner Passpflicht genügt, erfüllt im Regelfall zugleich die Regelerteilungsvoraussetzung der geklärten Identität (§ 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG).

 

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Ausreisehindernis, Schutz von Ehe und Familie, Eltern-Kind-Verhältnis, abgelehnte Asylbewerber, offensichtlich unbegründet, Zuwanderungsgesetz, Altfälle, Rückwirkung, Passpflicht, Identität, Identitätsfeststellung, Lebensunterhalt, Ausweisungsgründe, Verbrauch, Ermessen
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5; GG Art. 6 Abs. 1; AufenthG § 10 Abs. 3 S. 2; AufenthG § 5 Abs. 1; AfuenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1a; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

1. Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Vater-Kind-Beziehung ein rechtliches Ausreisehindernis im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG begründet.

2. Liegt ein Regelanspruch nach § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG vor, wird auch für Asylbewerber, deren Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG überwunden.

3. Ein Ausländer, der seiner Passpflicht genügt, erfüllt im Regelfall zugleich die Regelerteilungsvoraussetzung der geklärten Identität (§ 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG).

(Amtliche Leitsätze)

 

I. Der Kläger hat einen Anspruch auf Neubescheidung seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 S. 2 i.V.m. S. 1 AufenthG.

Die Ausreise des Klägers ist vorliegend im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG (Schutz von Ehe und Familie) aus rechtlichen Gründen unmöglich. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt (vgl. BVerfGE 51, 386 <396 f.>; 76, 1 <47>; 80, 81 <93>).

Der angefochtene Bescheid wird diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht. Der Vortrag des Beklagten, es gebe keinen Anhaltspunkt dafür, dass das Kind in besonderer Weise, d.h. mehr als im Regelfall, auf persönliche Beistandsleistungen des Klägers angewiesen sei, verkennt den anzulegenden Maßstab. Der Kläger, der gemeinsam mit der Mutter das Sorgerecht ausübt, hat - wie in den Schreiben der Mutter vom 21.11.2006 und vom 28.12.2006 bestätigt wird - eine enge Bindung zu seinem Sohn, den er regelmäßig - zuletzt vom 25.07. bis 05.08.2007 - besucht. Er strebt zudem, wie sein Umverteilungsantrag belegt, die Herstellung einer häuslichen Gemeinschaft an. Der Beklagte hat auch nicht zu erkennen gegeben, welchen Zeitraum einer vorübergehenden Trennung er im Hinblick auf das geringe Alter des Sohnes für zumutbar erachtet. Er hat nicht berücksichtigt, dass ein noch sehr kleines Kind den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 - InfAuslR 2006, 320 <321>). Soweit in der mündlichen Verhandlung von dem Vertreter der unteren Ausländerbehörde für den Fall der Ausreise eine Befristung der Ausweisung auf zwei Monate in Aussicht gestellt wurde, wird damit keine gesicherte Perspektive für eine baldige Rückkehr des Klägers im Wege der Familienzusammenführung aufgezeigt.

2. Da der Kläger seit über 18 Monaten geduldet wird, liegen auch die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG vor, der keine eigenständige Anspruchsgrundlage darstellt, sondern das Bestehen der Erteilungsvoraussetzungen des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG voraussetzt und nur die dort vorgesehene Rechtsfolge ("kann") im Sinne eines "soll" modifiziert, d.h. im Regelfall einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gewährt (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.06.2006 - 1 C 14.05 -, BVerwGE 126, 192; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18.01.2006 - 13 S 2220/05 -, VBlBW 2006, 200). Ein atypischer Sachverhalt, der den Regelanspruch wieder in einen Ermessensanspruch umwandeln würde, liegt nach der Rechtsprechung dann vor, wenn ein Sachverhalt gegeben ist, der sich von der Menge gleich gelagerter Fälle durch besondere Umstände unterscheidet, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht des der Regelerteilungsvoraussetzung zugrunde liegenden öffentlichen Interesses beseitigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.11.2005 - 1 C 18.04 -, BVerwGE 124, 326). Eine Atypik in diesem Sinne ist hier nicht gegeben.

3. § 10 Abs. 3 S. 2 AufenthG, wonach bei Ablehnung des Asylantrags nach § 30 Abs. 3 AsylVfG vor der Ausreise kein Aufenthaltstitel erteilt werden darf, steht dem Regelanspruch nach § 25 Abs. 5 S. 2 AufenthG nicht entgegen. Liegt ein Regelanspruch nach § 25 Abs. 5 S. 2 AufenthG vor, wird auch für abgelehnte Asylbewerber, deren Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 S. 2 AufenthG überwunden, da ein Regelfall einen gesetzlichen Anspruch i.S.d. § 10 Abs. 3 S. 3 AufenthG darstellt (Burr, in GK-AufenthG, § 25 Rn. 193 m.w.N.). Danach kann vorliegend offenbleiben, ob die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 S. 2 AufenthG überhaupt eingreift. Aus Gründen des Vertrauensschutzes und der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG steht § 10 Abs. 3 S. 2 der Erteilung eines Aufenthaltstitels nämlich nicht entgegen, wenn die Antragsablehnung als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 3 AsylVfG vor Inkrafttreten des AufenthG bestandskräftig geworden ist. Denn der ehemalige Asylbewerber konnte vor dem 01.01.2005 keinen Rechtsschutz gegen den Offensichtlichkeitsausspruch nach § 30 Abs. 3 AsylVfG erlangen und kann ihn auch nicht mehr erlangen, stünde insofern also rechtsschutzlos (Discher, in GK-AufenthG, § 10 Rn. 194 i.V.m. Rn. 164 ff.).

4. Trotz Vorliegens eines Regelanspruchs kommt ein Verpflichtungsausspruch zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht in Betracht, da der Kläger nicht alle allgemeinen (Regel-)Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG erfüllt und das dem Beklagten im Rahmen der Absehensentscheidung nach § 5 Abs. 3 letzter Halbs. eingeräumte Ermessen nicht auf Null reduziert ist. Im Einzelnen:

Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung genügt der Kläger nicht seiner Passpflicht (§ 5 Abs. 1 erster Halbs. AufenthG).

Falls der Kläger seiner Passpflicht genügt, dürfte zugleich auch die Regelerteilungsvoraussetzung der geklärten Identität (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 a AufenthG) erfüllt sein. Der selbstständige Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist relativ klein, weil die Identität in der Regel durch die Vorlage eines gültigen anerkannten Passes oder Passersatzes nachgewiesen wird (vgl. Nr. 5.1.1.3 der Vorläufigen Anwendungshinweise). Hinsichtlich der Staatsangehörigkeit bedarf es einer expliziten Prüfung nur dann, wenn die Rückkehrberechtigung fehlt. Sofern dem Kläger wiederum ein regulärer nigerianischer Reisepass ausgestellt wird, beinhaltet dieser - ohne dass dies gesondert vermerkt werden müsste - auch eine Rückkehrberechtigung. Sollte dem Kläger kein Aufenthaltsrecht (mehr) zustehen, wäre seine Rückführung mit einem solchen Pass ohne weiteres möglich. Eine gesonderte Prüfung der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 a AufenthG wäre daher nach Vorlage eines neuen nigerianischen Reisepasses nicht veranlasst. Allein der Umstand, dass der Kläger im Asylverfahren über seine Identität getäuscht hat, gibt keinen Anlass, seine jetzigen Angaben in Zweifel zu ziehen. Gründe, weshalb der Kläger, nachdem ihm ein Aufenthaltsrecht in Aussicht steht, weiterhin falsche Angaben machen könnte, sind nicht ersichtlich. Auch ist kein Interesse der nigerianischen Behörden erkennbar, inhaltlich unrichtige Reisepässe auszustellen.

Die mangelnde Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) kann dem Kläger nicht entgegengehalten werden, da er als geduldeter Ausländer gesetzlich von der Erwerbstätigkeit ausgeschlossen ist und ihm eine Beschäftigungserlaubnis nur unter den Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 S. 3 AufenthG erteilt werden kann (Bäuerle, in GK-AufenthG, § 5 Rn. 70 m.w.N.).

Nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG darf in der Regel kein Ausweisungsgrund vorliegen. Die Straftat, die vorliegend zur Ausweisung geführt hat, darf bei der Prüfung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG noch berücksichtigt werden. Der Ausweisungsgrund ist nicht bereits deshalb verbraucht, weil im Rahmen des § 25 Abs. 5 AufenthG von der Sperrwirkung des § 11 Abs.1 abgesehen wird. Wortlaut und Systematik der §§ 25 Abs. 5 und 5 Abs. 3 sprechen gegen eine solche Auslegung. Denn § 25 Abs. 5 lässt nach seinem Wortlaut nur ein Absehen von der Sperrwirkung der Ausweisung zu, nicht von der Regelerteilungsvoraussetzung des Fehlens des Ausweisungsgrundes. Diese Entscheidung ist vielmehr im Rahmen des § 5 Abs. 3 letzter Halbs. AufenthG zu treffen (VG Stuttgart, Urteil vom 06.02.2005 - 12 K 1791/04 - juris; Burr, in GK-AufenthG, § 25 Rn. 186 m.w.N. auch zur Gegenauffassung).

Liegen nach alledem die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG nicht vollständig vor, hat die Ausländerbehörde nach § 5 Abs. 3 letzter Halbs. im Ermessenswege zu entscheiden, ob sie von der Erfüllung der fehlenden Voraussetzungen absieht. Entsprechend dem Zweck der Norm, eine zusammenfassende Sonderregelung für die Aufnahme in das Bundesgebiet aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen zu schaffen, ist eine umfassende Abwägung zwischen den öffentlichen und privaten Interessen erforderlich. In diese Abwägung sind einerseits die hinter § 5 Abs. 1 AufenthG stehenden staatlichen Interessen, anderseits die privaten Interessen des Ausländers - vor allem die grundrechtlich geschützten - einzustellen. Dabei ist die Verantwortlichkeit für die Nichterfüllung nur ein Aspekt. Vor dem Hintergrund des Normzwecks kann der Nichteinhaltung der Erteilungsvoraussetzungen in der Abwägung grundsätzlich nicht das gleiche Gewicht beigemessen werden, das ihm bei Aufenthaltsbegehren zu anderen Zwecken zukommt (vgl. Bäuerle, in GK-AufenthG, § 5 Rn. 185 f. m.w.N.). Die Straftat, die zur Ausweisung des Klägers geführt hat, darf mit dem ihr zukommenden Gewicht bei der Ermessensausübung berücksichtigt werden. Hierbei darf nicht außer Betracht bleiben, dass die Straftat zwischenzeitlich dreieinhalb Jahre zurückliegt, der Kläger seitdem nicht erneut straffällig geworden ist und seine Lebensumstände sich durch die Gründung einer Familie geändert haben. Es wird zu erwägen sein, ob die Geburt des Sohnes eine Zäsur in der Lebensführung des Klägers darstellt, die in Anbetracht aller Umstände erwarten lässt, dass er bei legalisiertem Aufenthalt keine Straftaten mehr begehen wird (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 - InfAuslR 2006, 320 <322>). Schließlich wird die Ausländerbehörde zu berücksichtigen haben, dass bei einem Verweis auf das Visumsverfahren eine baldige Rückkehr des Klägers nicht gewährleistet ist und dass die Gefahr einer mit dem Kindeswohl unvereinbaren längeren Trennung besteht.