VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 11.10.2007 - 7 TG 1849/07 - asyl.net: M12087
https://www.asyl.net/rsdb/M12087
Leitsatz:

1. Ein im Hinblick auf eine Ausweisung erfolgendes Absehen der Vollstreckungsbehörde von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe nach § 456a Abs. 1 StPO erfordert nicht die Bestandskraft der Ausweisung (entgegen OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 8. Dezember 1998 - 3 VAs 38/98 - NStZ-RR 1999, 126).

2. Ein Absehen von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe nach § 456a Abs. 1 StPO im Hinblick auf eine Ausweisung setzt voraus, dass eine vollziehbare Ausreisepflicht des Ausländers besteht und diese demnächst verwirklicht werden wird.

3. Eine für eine Entscheidung nach § 456a Abs. 1 StPO erforderliche vollziehbare Ausreisepflicht wird auch durch eine nicht bestandskräftige, aber mit einer Anordnung der sofortigen Vollziehung versehene Ausweisung begründet.

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Abschiebung, Strafhaft, Freiheitsstrafe, Absehen von Vollstreckung, vorläufiger Rechtsschutz, Suspensiveffekt, Sofortvollzug
Normen: AufenthG § 53; AufenthG § 58; StPO § 456a Abs. 1; VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

1. Ein im Hinblick auf eine Ausweisung erfolgendes Absehen der Vollstreckungsbehörde von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe nach § 456a Abs. 1 StPO erfordert nicht die Bestandskraft der Ausweisung (entgegen OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 8. Dezember 1998 - 3 VAs 38/98 - NStZ-RR 1999, 126).

2. Ein Absehen von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe nach § 456a Abs. 1 StPO im Hinblick auf eine Ausweisung setzt voraus, dass eine vollziehbare Ausreisepflicht des Ausländers besteht und diese demnächst verwirklicht werden wird.

3. Eine für eine Entscheidung nach § 456a Abs. 1 StPO erforderliche vollziehbare Ausreisepflicht wird auch durch eine nicht bestandskräftige, aber mit einer Anordnung der sofortigen Vollziehung versehene Ausweisung begründet.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die vom Antragsteller dargelegten Gründe, die gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO den Umfang der Prüfung des Beschwerdegerichts bestimmen, lassen nicht die Feststellung zu, das Verwaltungsgericht habe das die Ausweisung und die Abschiebungsandrohung betreffende Eilrechtsschutzgesuch des Antragstellers zu Unrecht abgelehnt. Nach dem Erkenntnisstand des Beschwerdegerichts im Zeitpunkt seiner Entscheidung sind sowohl die Ausweisung des Antragstellers als Regelausweisung gemäß § 53 Nr. 1 und 2 i. V. m. § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Sätze 2 bis 4, § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als auch die Abschiebungsandrohung nach §§ 58, 59 AufenthG rechtmäßig.

Das - vom Verwaltungsgericht Gießen bejahte - besondere Vollzugsinteresse, d. h. die besondere Dringlichkeit der Vollziehung der Ausweisung, die zu deren Rechtmäßigkeit hinzutreten muss, um ein im Rahmen eines Antrags nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 2. Alt. VwGO zu prüfendes überwiegendes öffentliches Vollziehungsinteresse zu begründen (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 27. Juli 2006 - 7 TG 1561/06 - m. w. N.), wird durch das Beschwerdevorbringen des Antragstellers nicht erschüttert. Ein besonderes Vollzugsinteresse, das die Verwirklichung einer nicht bestandskräftigen, aber für sofort vollziehbar erklärten Ausweisung durch Abschiebung eines Ausländers aus der Strafhaft heraus rechtfertigt, scheitert nicht daran, dass - wie der Antragsteller meint - ein Absehen von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe nach § 456a Abs. 1 StPO im Fall der Ausweisung deren Unanfechtbarkeit voraussetzt, mit der Folge, dass eine vor Eintritt der Bestandskraft der Ausweisung erfolgende Abschiebung aus der Haft in jedem Fall ausscheiden würde.

§ 456a Abs. 1 StPO ermächtigt die Vollstreckungsbehörde nämlich auch dann zum (vorläufigen) Absehen von der Vollstreckung der Strafe, wenn der Ausländer aufgrund einer zwar nicht bestandskräftigen, aber mit einer Anordnung der sofortigen Vollziehung versehenen Ausweisung vollziehbar ausreisepflichtig ist und die Beendigung seines Aufenthalts demnächst durchgesetzt werden soll.

Nach § 456a Abs. 1 StPO kann die Vollstreckungsbehörde u. a. von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe absehen, wenn der Verurteilte aus dem Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes ausgewiesen wird. Normzweck der Regelung des § 456a Abs. 1 StPO ist die Befreiung der Justizvollzugsanstalten von der Last der Vollstreckung von Strafen gegen Ausländer, die aufgrund hoheitlicher Anordnung die Bundesrepublik Deutschland demnächst verlassen; zudem wird darauf hingewiesen, dass eine (weitere) Strafvollstreckung gegen diesen Personenkreis unter den Gesichtspunkten der Resozialisierung und der Prävention wenig sinnvoll erscheint (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 8. Dezember 1998 - 3 VAs 38/98 - NStZ-RR 1999, 126; Groß, StV 1987, 36; Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. 2007, § 456a Rdnr. 1). Vor diesem Hintergrund wird der in § 456a Abs. 1 StPO verwendete Begriff der Ausweisung extensiv interpretiert: Er umfasst neben der Ausweisung im Sinne der § 53, 54, 55 AufenthG auch die Abschiebung nach § 58 AufenthG, die Zurückschiebung gemäß § 57 AufenthG, nach herrschender Meinung sogar die bloße Pflicht zur Ausreise nach § 50 AufenthG (vgl. Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 1997 ff., § 456a Rdnr. 5; Meyer-Goßner, a.a.O., Rdnr. 3; Pfeiffer, StPO, 5. Aufl. 2005, § 456a Rdnr. 2; jeweils m. w. N.).

Im Einklang mit dem Wortlaut des § 456a Abs. 1 StPO und entsprechend seinem Normzweck setzt ein im Hinblick auf eine Ausweisung im Sinne dieser Vorschrift erfolgendes Absehen von der Strafvollstreckung voraus, dass - in rechtlicher Hinsicht - eine vollziehbare Ausreisepflicht besteht und diese - in tatsächlicher Hinsicht - demnächst auch verwirklicht werden wird (vgl. Löwe/Rosenberg, a.a.O., § 456a Rdnr. 6; von dieser Rechtsauffassung ausgehend auch: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 11. September 1999 - 11 S 46/99 - InfAuslR 1999, 127, GK-AufenthG, Stand: Juni 2007, vor §§ 53 ff. Rdnr. 1552 ff.). Die Begründung einer vollziehbaren Ausreisepflicht durch Verwaltungsakt - etwa durch Ausweisung nach §§ 53 ff. AufenthG - erfordert dabei regelmäßig, dass der erlassene Verwaltungsakt seinerseits vollziehbar ist (vgl. § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Dies ist nicht nur der Fall, wenn der die Ausreisepflicht begründende Verwaltungsakt unanfechtbar (bestandskräftig) ist, sondern auch, wenn Widerspruch und Klage gegen ihn kraft Gesetzes (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 84 Abs. 1 AufenthG) oder infolge behördlicher Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung haben. Soweit in Rechtsprechung und Literatur zum Strafprozessrecht ohne Begründung stets eine bestandskräftige Anordnung der jeweils in Betracht kommenden ausländerbehördlichen Maßnahme als Voraussetzung einer Entscheidung der Vollstreckungsbehörde nach § 456a Abs. 1 StPO, von der weiteren Vollstreckung der Strafe abzusehen, benannt wird (vgl. etwa OLG Karlsruhe, Beschluss vom 3. Juli 2007 - 2 VAs 18/07 - juris; Meyer-Goßner, a.a.O., § 456a Rdnr. 3; Pfeiffer, a.a.O., § 456a Rdnr. 2, alle mit Verweisung auf Löwe/Rosenberg, a.a.O., § 456a Rdnr. 6, wo allerdings lediglich die Anordnung verlangt wird; OLG Frankfurt am Main, a.a.O.), teilt das Beschwerdegericht diese Auffassung nicht. Weder der Wortlaut noch der Normzweck des § 456a Abs. 1 StPO erfordern eine Begründung der maßgeblichen vollziehbaren Ausreisepflicht durch einen ausländerbehördlichen Verwaltungsakt, der in Bestandskraft erwachsen ist. Da das Absehen von der Vollstreckung der Strafe - wie § 456a Abs. 2 StPO belegt - eine vorläufige Maßnahme ist und keinen endgültigen Verzicht auf den staatlichen Vollstreckungsanspruch beinhaltet (vgl. Löwe/Rosenberg, a. a. O., § 456a Rdnr. 12), kann auch aus der Tragweite dieser vollstreckungsbehördlichen Entscheidung nicht auf das Erfordernis einer bestandskräftigen ausländerbehördlichen Verfügung geschlossen werden.