OVG Nordrhein-Westfalen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13.07.2007 - 18 B 150/07 - asyl.net: M12092
https://www.asyl.net/rsdb/M12092
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Rücknahme, Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis, Libanon, Türkei, Identitätstäuschung, Falschangaben, Staatsangehörigkeit, Ermessen, Aufenthaltsdauer, Erwerbstätigkeit, Ausweisung, Ermessensausweisung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, besonderer Ausweisungsschutz
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; VwVfG § 48 Abs. 1; AufenthG § 55 Abs. 3; AufenthG § 56 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 84 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

Die Beschwerde hat überwiegend Erfolg. Die Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO fällt in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zu Lasten der Antragsgegnerin aus.

1. Im Hinblick auf die Rücknahme aller den Antragstellern jemals erteilten Aufenthaltstitel spricht zwar Vieles dafür, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW vorliegend gegeben sind (a). Die Ermessensausübung begegnet jedoch Bedenken (b).

a) Ohne dass die Frage hier abschließend entschieden werden müsste, sei angemerkt, dass nach der vorliegend nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung die Antragsteller in der Vergangenheit über ihre Identität bzw. Staatsangehörigkeit getäuscht haben dürften.

b) Bedenken bestehen jedoch, ob die Antragsgegnerin im Hinblick auf die Rücknahme aller den Antragstellern jemals erteilten Aufenthaltstitel ihr Ermessen zureichend ausgeübt hat. Insoweit hat - unter Beachtung des gerichtlichen Prüfungsrahmens, § 114 Satz 1 VwGO - nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 5. September 2006 - C 20.05 -, AuAS 2007, 3, mit weiteren Nachweisen) Folgendes zu gelten: Der nach Art. 19 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich garantierte gerichtliche Rechtsschutz setzt voraus, dass die Behörde offenbart, von welchen Gesichtspunkten sie sich bei der Ausübung des Ermessens hat leiten lassen. Diesem Zweck dient auch die Pflicht zur Begründung von Verwaltungsakten. Die Rücknahme einer Aufenthaltserlaubnis kann nur Bestand haben, wenn die Behörde die erforderliche Abwägung öffentlicher Interessen und schutzwürdiger privater Belange vorgenommen und dabei die wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalles berücksichtigt hat. Der Umstand, dass eine Aufenthaltserlaubnis durch falsche Angaben erschlichen worden ist, schließt zwar eine Berufung auf Vertrauensschutz aus (§ 48 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 und 2 VwVfG NRW), ändert aber nichts an dem Erfordernis einer derartigen Abwägung. Es bestehen auch keine ermessenslenkenden Vorgaben, die für den Fall der Rücknahme einer Aufenthaltserlaubnis auf ein sogenanntes intendiertes Ermessen hinweisen.

Ungeachtet der Frage, ob dem angefochtenen Bescheid vom 28. August 2006, der eine klare Trennung von Feststellungen zur Tatbestands- und zur Rechtsfolgenseite vermissen lässt, mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen ist, dass sich die Antragsgegnerin des Erfordernisses einer Ermessensentscheidung bei der Rücknahme auch einer erschlichenen Aufenthaltserlaubnis überhaupt bewusst war, ist nicht hinreichend erkennbar, dass die Antragsgegnerin eine alle wesentlichen Aspekte des Falles berücksichtigende Entscheidung hierüber getroffen hat. Selbst wenn man jedoch die im Rahmen der Frage, ob die Antragsteller sich auf schutzwürdiges Vertrauen berufen können, gemachten Ausführungen dazu, dass sich die Antragsteller mit ihren Kindern schon seit 1989 in Deutschland aufhalten und sie hier einer Erwerbstätigkeit nachgehen, sowie weitere Ausführungen, die allerdings im Rahmen der Darlegungen zur Rechtmäßigkeit der Ausweisung gemacht werden, als Ermessenserwägungen auch im Rahmen der Rücknahmeentscheidung auffassen wollte, dürften damit nicht alle wesentlichen Gesichtspunkte des Falls erfasst sein.

Im Übrigen dürften die knappen Erwägungen, die sich dem angegriffenen Bescheid insgesamt entnehmen lassen, den Gegebenheiten des Falles der Antragsteller nicht gerecht werden. So ist zwar die lange Dauer des Aufenthalts der Antragsteller in Deutschland angesprochen. Nicht oder nur unzureichend gewürdigt ist indessen etwa, dass der Antragsteller zu 2. schon seit mindestens 1996 und damit seit rund 10 Jahren durchgängig erwerbstätig ist, auch die Antragstellerin zu 1. jedenfalls zeitweise gearbeitet hat, die Antragsteller seit 1996 offenbar keine Sozialleistungen mehr beziehen, dass die Kinder in Deutschland - wiederum soweit hier bekannt - ordentlich zur Schule gegangen sind und die Schule sowie eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, zwei der drei Kinder gleichfalls erwerbstätig sind und über eine Straffälligkeit der Familienmitglieder (von derjenigen nach § 95 Abs. 1 AufenthG abgesehen) nichts bekannt ist. Keine Feststellungen finden sich auch zum (Nicht-)Vorliegen anderweitiger Integration der Antragsteller.

2. Die Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO fällt in ähnlicher Weise auch im Hinblick auf die Ausweisung unter Ziffer II des angegriffenen Bescheides zu Lasten der Antragsgegnerin aus.

Hinsichtlich der Ausweisungsentscheidung spricht zwar der mit dem Satz "Ihr privates Interesse an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet hat der vorstehenden Entscheidung zurückzustehen" eingeleitete Abschnitt dafür, dass sich die Behörde ihres Entscheidungsspielraums bewusst war und ein Ermessensausfall nicht gegeben ist. Allerdings begegnet auch hier die Ermessensausübung den oben bereits dargestellten Bedenken. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Vorgaben des § 55 Abs. 3 AufenthG (vgl. zu den Anforderungen auch Senatsbeschluss vom 2. Mai 2002 - 18 B 776 /01 - mit weiteren Nachweisen).

Hinzu kommt, dass die Antragsgegnerin zugrunde gelegt hat, den Antragstellern stehe besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG nicht zu; diese Einschätzung erweist sich indessen auf der Grundlage der oben getroffenen Feststellungen als nicht tragfähig. Die Rechtswidrigkeit der Regelung unter Ziffer 1. des angegriffenen Verwaltungsakts vorausgesetzt, ist - s.o. - insoweit die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller wiederherzustellen, so dass nach allgemeinen Regeln aus Gründen effektiven Rechtsschutzes die Antragsteller so zu behandeln wären, als sei die ihnen erteilte Niederlassungserlaubnis nicht zurückgenommen, was zu besonderem Ausweisungsschutz gemäß § 56 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG führte. Dem steht nicht entgegen, dass gemäß § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG Widerspruch und Klage die Wirksamkeit der Rücknahmeentscheidung unberührt lassen. Wegen der hier gegebenen Verschränkung der Maßnahmen hat die Antragsgegnerin mindestens im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung wesentliche Gesichtspunkte verfehlt, weil sie die - hier in Betracht zu ziehende - Ermessensfehlerhaftigkeit der Rücknahmeentscheidung nicht berücksichtigt hat.

3. Erweist sich somit die angefochtene Ordnungsverfügung nicht als offensichtlich rechtmäßig, so überwiegt hier das Interesse der Antragsteller, von der Vollziehung dieser Verfügung vorerst verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung.