VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 23.10.2007 - 24 CE 07.484 - asyl.net: M12121
https://www.asyl.net/rsdb/M12121
Leitsatz:

Amtsärztliche Stellungnahmen haben nicht immer Vorrang vor weiteren Erkenntnisquellen – etwa privatärztliche Gutachten; Stellungnahmen vom Beratungs- und Behandlungszentrum Refugio sind trotz dessen Nähe zu den Betroffenen als qualifiziert anzusehen; der pauschale Hinweis auf die Möglichkeit einer begleiteten Abschiebung kann ein krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis nicht beseitigen; erforderlich ist vielmehr ein fundierte und genaue Erfassung des Krankheitsbildes und der Gefahrenlage durch einen fachlich hierzu befähigten Arzt.

 

Schlagwörter: D (A), Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, Suizidgefahr, Amtsarzt, fachärztliche Stellungnahme, Refugio, ärztliche Begleitung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2; VwGO § 123
Auszüge:

Amtsärztliche Stellungnahmen haben nicht immer Vorrang vor weiteren Erkenntnisquellen – etwa privatärztliche Gutachten; Stellungnahmen vom Beratungs- und Behandlungszentrum Refugio sind trotz dessen Nähe zu den Betroffenen als qualifiziert anzusehen; der pauschale Hinweis auf die Möglichkeit einer begleiteten Abschiebung kann ein krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis nicht beseitigen; erforderlich ist vielmehr ein fundierte und genaue Erfassung des Krankheitsbildes und der Gefahrenlage durch einen fachlich hierzu befähigten Arzt.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Beschwerde hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht das Bestehen eines Anordnungsanspruchs verneint. Der Antragsteller hat in dem im Verfahren nach § 123 VwGO erforderlichen, aber auch ausreichenden Umfang glaubhaft gemacht, dass seine Abschiebung derzeit aus rechtlichen Gründen unmöglich ist (§ 60 a Abs. 2 AufenthG).

Der Senat sieht im Gegensatz zur Ausländerbehörde und zum Verwaltungsgericht derzeit eine Reiseunfähigkeit des Antragstellers als glaubhaft gemacht an.

Das Verwaltungsgericht hat dem nervenärztlichen Gutachten vom 22. Dezember 2006 deshalb den Vorrang gegenüber dem Bericht von Refugio vom 1. Dezember 2006 eingeräumt, weil es sich bei der amtsärztlichen Stellungnahme um eine aktuellere Beurteilung des Gesundheitszustandes des Antragstellers gehandelt und der Amtsarzt die depressive Symptomatik beim Antragsteller als deutlich rückläufig eingeschätzt hatte. Hinzu kommt, dass auch nach der Rechtsprechung des Senats einem amtsärztlichen Gutachten grundsätzlich ein höherer Beweiswert zuzuschreiben ist als einem Privatgutachten (BayVGH vom 27.2.2007 Az. 24 ZB 07.367 m.w.N.). Jedoch entbindet dieser Grundsatz das Gericht nicht, weitere Erkenntnisse - etwa eine privatärztliche Begutachtung - in seine Entscheidung einzubeziehen, sie mit der amtsärztlichen Begutachtung zu vergleichen und aus der Gesamtschau der Umstände eine sachgerechte Würdigung vorzunehmen.

Der vom Landratsamt beauftragte Nervenarzt hat in dem von ihm gefertigten Gutachten vom 22. Dezember 2006 die Diagnose "Verdacht auf posttraumatisches Belastungssyndrom" gestellt, die beim Antragsteller gemäß dem Gutachten von Refugio beschriebene depressive Symtomatik aber als "eher deutlich rückläufig" bezeichnet. Suizidabsichten habe der Antragsteller nicht geäußert. Diese Stellungnahme, die aufgrund einer persönlichen Untersuchung des Antragstellers durchaus gründlich und in sich schlüssig abgegeben wurde, steht allerdings im Widerspruch nicht nur zu den Gutachten von Refugio, sondern auch zum späteren tatsächlichen Geschehen.

Der Senat geht davon aus, dass sowohl bei Refugio als auch im Bezirkskrankenhaus die dort tätigen Ärzte ebenso wie der vom Landratsamt beauftragte Nervenarzt eine besondere Kenntnis insbesondere mit traumatisierten Personen besitzen und deshalb ebenfalls qualifizierte Stellungnahmen abgeben können. Zwar ist dem Antragsgegner nicht zu widersprechen, dass gerade Refugio als Beratungs- und Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer sich mit ihren Gutachten besonders für die von ihm behandelten Patienten einsetzt, jedoch zeichnen sich dessen Stellungnahmen durch eine tiefgehende Befunderhebung sowie eine ausführliche Diagnose und Bewertung des Krankheitszustandes des Antragstellers aus. Während das Landratsamt offensichtlich trotz der akuten Suizidalität des Antragstellers im Februar 2007 keine Anstrengungen mehr unternommen hat, den Antragsteller nochmals amtsärztlich zu untersuchen, wurde in den letzten Gutachten von Refugio nachvollziehbar dargelegt, dass beim Antragsteller wegen seiner Suizidalität und der Gefahr einer wesentlichen oder sogar lebensbedrohenden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes keine Reisefähigkeit vorliegt. Untermauert werden diese Stellungnahmen von der Äußerung des Bezirkskrankenhauses vom 15. Februar 2007, das entgegen der Stellungnahme des Nervenarztes von einer mittelgradigen bis schweren depressiven Störung beim Antragsteller ausgeht und ihm zum Zeitpunkt der Befunderhebung eine Reisefähigkeit nicht positiv bescheinigen konnte. Damit ist aber das - frühere - Gutachten des Nervenarztes vom Dezember 2006 widerlegt, das eine deutliche Rückläufigkeit der depressiven Symptomatik beim Antragstellers bescheinigt hatte. Dies war offensichtlich gerade nicht der Fall, denn ansonsten wäre keine akute Suizidalität aufgetreten und keine Aufnahme in das Bezirkskrankenhaus erfolgt sowie keine mehrere Wochen dauernde stationäre Behandlung notwendig geworden.

Ergeben sich danach insbesondere im Hinblick auf die tatsächliche akute Suizidalität des Antragstellers im Februar/März dieses Jahres und die wesentlich aktuelleren Gutachten von Refugio Zweifel an der bereits im Dezember 2006 erfolgten Begutachtung durch den beauftragten Amtsarzt, so ist diesen derzeit eine höhere Bedeutung beizumessen als dem amtsärztlichen Gutachten.

Der Antragsgegner kann sich auch nicht darauf berufen, dass unabhängig vom Gesundheitszustand des Antragstellers eine begleitete Abschiebung erfolgen kann. Zum einen ist, wie bereits oben dargelegt, von einem inlandsbezogenen Abschiebungshindernis auch dann auszugehen, wenn sich die Erkrankung des Antragstellers gerade aufgrund der zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland wesentlich verschlechtert, und nicht nur, wenn ein Suizid während der faktischen Abschiebung droht. Mit dem OVG Nordrhein-Westfalen (vgl. Beschluss vom 9.5.2007 Asylmagazin 2007, 30) ist der Senat zudem der Auffassung, dass eine solche pauschale Erklärung nicht ausreicht, um eine Abschiebung verantworten zu können. Vielmehr bedarf es der fundierten und genauen Erfassung des Krankheitsbildes und der Gefahrenlage, um beurteilen zu können, welche konkreten Maßnahmen bei der Gestaltung der Abschiebung erforderlich sind und ausreichen, um einer ernsthaften Suizidgefahr wirksam zu begegnen. Auch insofern bedarf es danach der Beurteilung eines fachlich hierzu befähigten Arztes, ob eine Abschiebung überhaupt und wenn ja, unter welchen Bedingungen diese medizinisch verantwortet werden kann. Auch hieran fehlt es im vorliegenden Fall.