VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Beschluss vom 03.12.2007 - 10 E 3674/07 - asyl.net: M12128
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Leitsatz:

Ermessensfehlerhafte Berücksichtigung der Bedürftigkeit von Ehemann und Kind, die gesicherten Aufenthaltsstatus innehaben, zulasten einer Ausländerin, die eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug begehrt.

 

Schlagwörter: D (A), Familienzusammenführung, Ehegattennachzug, Lebensunterhalt, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Ermessen, Familienangehörige, Bedarfsgemeinschaft, Schutz von Ehe und Familie, Verhältnismäßigkeit, Freibetrag, Grundsicherung für Arbeitssuchende, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt
Normen: AufenthG § 30 Abs. 1; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 2 Abs. 3; AufenthG § 30 Abs. 3; GG Art. 6 Abs. 1; SGB II § 11 Abs. 2; SGB II § 30; AufenthG § 27 Abs. 3; VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

Ermessensfehlerhafte Berücksichtigung der Bedürftigkeit von Ehemann und Kind, die gesicherten Aufenthaltsstatus innehaben, zulasten einer Ausländerin, die eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug begehrt.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Der Antrag auf einstweiligen gerichtlichen Rechtsschutz hat Erfolg.

Die vom Gericht im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der raschen Aufenthaltsbeendigung und den von der Antragstellerin vorgebrachten privaten Belangen am einstweiligen Verbleib in Deutschland führt hier dazu, dass das Aussetzungsinteresse das Vollziehungsinteresse überwiegt.

1. Es kann im Verfahren einstweiligen Rechtsschutzes dahinstehen, ob ein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug bereits nach § 30 Abs. 1 AufenthG besteht oder ob das Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhaltes nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG insoweit als Regelerteilungsvoraussetzung entgegensteht und auch unter Berücksichtigung des besonderen Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 GG kein atypischer Fall vorliegt.

Ob der Lebensunterhalt der Antragstellerin als gesichert nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG angesehen werden kann, dürfte dabei davon abhängen, ob zulasten der Antragstellerin eine Einkommens- und Bedarfsgemeinschaft mit dem nach § 1360 BGB unterhaltsberechtigten Ehemann und dem nach § 1601 BGB unterhaltsberechtigten Sohn gebildet werden darf (für eine Einzelbetrachtung des Unterhalts des jeweiligen Ausländers: Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., 2005, § 2 AufenthG Rn 17; für eine Gesamtbetrachtung des Unterhalts auch der unterhaltsberechtigten Familienangehörigen: VGH Kassel, Beschluss vom 14.03.2006 – 9 TG 512/06 –, ZAR 2006; Beschluss vom 22.09.2004 – 2 N 41.04 –, zit. n. juris; VG München, Beschluss vom 04.09.2007 – M 10 S 07.2852, zit. n. juris, Rn 14; VG Dresden, Beschluss vom 01.08.2007 – 3 K 1359/07 –, zit. n. juris, Rn 16; Funke-Kaiser, Gemeinschaftskommentar Aufenthaltsgesetz, Mai 2006, § 2 Rn 43.5; Hailbronner, Ausländerrecht, Januar 2005, § 2 AufenthG Rn 24).

Dabei könnte im vorliegenden Fall einer Berücksichtigung des Bedarfs von Ehemann und Sohn zulasten der Antragstellerin entgegen stehen, dass der gesicherte Aufenthaltsstatus dieser beiden Personen weder streitbefangen ist noch im Fortbestand von einer Sicherung des jeweiligen Lebensunterhalts abhängt. Allenfalls könnte durch einen (hier nicht ersichtlichen) Bezug von Sozialhilfe ein Ausweisungsgrund nach § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG gesetzt werden, auf dieser Grundlage aber nicht durch Ausweisung gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG der Aufenthaltstitel zum Erlöschen gebracht werden. Denn der Ehemann genießt aufgrund der Niederlassungserlaubnis nach § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG, der Sohn infolge seiner Einreise als Minderjähriger und mindestens fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthaltes besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG, weshalb eine Ausweisung gemäß § 56 Abs. 1 S. 2 AufenthG nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorgenommen werden kann, wozu bloße fiskalische Interessen nicht genügen dürften.

2. Zumindest ist der Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 30 Abs. 3 AufenthG verletzt.

Das auf der Rechtsfolgenseite durch § 30 Abs. 3 AufenthG eingeräumte Ermessen ist nach summarischer Prüfung nicht fehlerfrei ausgeübt.

a) Die Versagung konnte nicht auf § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG gestützt werden. Dieser Versagungsgrund ist nicht gegeben. Es ist nicht ersichtlich, dass der Ausweisungsgrund eines tatsächlichen Bezugs von Sozialhilfe durch die Antragstellerin für sich oder ihre Haushaltsangehörigen vorläge.

b) Ebenso wenig trägt der Versagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG den angefochtenen Versagungsbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids.

aa) Die Antragsgegnerin nahm im – erstmals Ermessenserwägungen enthaltenden – Widerspruchsbescheid zu Unrecht an, der Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis stehe Art. 6 GG nur dann entgegen, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft nur im Bundesgebiet verwirklicht werden könne. Richtigerweise ist die Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis einer Verhältnismäßigkeitsprüfung am Maßstab des besonderen Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 GG zu unterziehen. Nicht die familiäre Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet muss erforderlich sein, sondern die Unterbindung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet muss zum verfolgten Zweck geeignet, erforderlich und auch angemessen sein. Durch Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG als wertentscheidender Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, ist die Ausländerbehörde verpflichtet, bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – zit. n. juris).

bb) Die Antragsgegnerin hätte beachten müssen, dass zu dem augenscheinlich verfolgten fiskalischen Zweck des Schutzes öffentlicher Kassen vor Inanspruchnahme die Versagung der von der Antragstellerin begehrten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ungeeignet erscheint. Eine Ausreise der Antragstellerin unter Zurücklassung von Ehemann und Sohn, deren Aufenthaltsstatus gesichert ist, führte zu einer Mehrbelastung öffentlicher Kassen in Höhe von schätzungsweise 456,61 EUR im Monat.

Im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes soll dabei zugunsten der Antragstellerin angenommen werden, ihr Erwerbseinkommen sei dauerhaft. Dabei kommt es für die Sicherung des Lebensunterhalts auf eine Prognose dauerhafter Einkünfte an (vgl. OVG Berlin, Urteil vom 24.09.2002 – 8 B 3.02 –, zu § 17 Abs. 2 Nr. 3 AuslG).

Der Begriff der Sicherung des Lebensunterhalts ist durch § 2 Abs. 3 AufenthG dahingehend bestimmt, dass der Ausländer ihn ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann, wobei insbesondere das Kindergeld außer Betracht bleibt. Ob der Ausländer den Lebensunterhalt im aufenthaltsrechtlichen Sinne bestreiten kann, ist wiederum in Anlehnung an die Regelungen des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch zu beantworten. In § 11 SGB II ist das dem Bedarf zur Deckung des Lebensunterhalts entgegenzusetzende zu berücksichtigende Einkommen bestimmt. Nach dem Grundsatz des § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II sind alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert zu berücksichtigen. Ausgenommen davon sind insbesondere die nach § 11 Abs. 2 SGB II abzusetzenden Beträge, darunter die Abzugsbeträge für Erwerbstätige.

Der pauschale Abzugsbetrag für Vorsorgebeiträge und Werbungskosten in Höhe von 100 EUR nach § 11 Abs. 2 S. 2 SGB II ist dabei Ausdruck der nicht in voller Höhe des Nominaleinkommens bestehenden tatsächlichen Leistungsfähigkeit des Erwerbstätigen. Diese Pauschale mag die im Einzelfall tatsächlich anfallenden Vorsorgebeiträge und Werbungskosten überschreiten, das Gericht sieht jedoch, zumal aus Gründen praktischer Handhabung, von einer Einzelfallbetrachtung ab. Der pauschale Abzugsbetrag kann auch bei Bestimmung des aufenthaltsrechtlichen Begriffs des Bestreitenkönnens berücksichtigt werden.

Dies gilt nicht für den darüber hinausgehenden Freibetrag für Erwerbstätige nach § 11 Abs. 2 S. 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II (gegen einen Abzug VGH Kassel, Beschluss vom 14.03.2006 – 9 TG 512/06 –, ZAR 2006, 145; Funke-Kaiser, Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, § 2 Rn 46, Mai 2006; abweichend OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25.04.2007 – 12 B 16.07 –, InfAuslR 2007, 340). Bei dem Erwerbstätigenfreibetrag handelt es sich um einen fiktiven Abzugsbetrag, der im Sinne der vom Gesetzgeber eingeführten Anreize und Sanktionen nach §§ 29 ff. SGB II, die Erwerbsbereitschaft fördern soll. Die tatsächliche Leistungsfähigkeit des Erwerbstätigen bleibt hiervon unberührt. Die demgemäß den tatsächlichen Mehrbedarf überschreitende Fürsorgeleistung hat der Gesetzgeber aus sozialpolitischen Lenkungszwecken hingenommen. Der Zweck der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG kann über das bloße fiskalische Interesse an der Schonung öffentlicher Kassen hinaus darin gesehen werden, im sozialpolitischen Interesse ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Integration des Ausländers zu gewährleisten und die Funktionsfähigkeit der Solidargemeinschaft zu schützen. Diese Zielsetzung des Gesetzgebers kommt beispielsweise zum Ausdruck in der Regelung des § 2 Abs. 3 S. 2 AufenthG, nach der auf Beitragsleistungen beruhende öffentliche Mittel nicht zum Nachteil des Ausländers in Betracht kommen. Es widerspräche dem Solidargedanken, Beiträge einzufordern, an die Leistung der dadurch mitfinanzierten öffentlichen Mittel aber Rechtsnachteile zu knüpfen. Es erscheint angemessen, dass die an die eigene Arbeitsleistung des Betreffenden anknüpfenden Erwerbstätigenfreibeträge als Anreiz nach § 30 SGB II diesem auch im Aufenthaltsrecht nicht zum Nachteil gereichen sollen. Dies gilt zumal deshalb, weil die Erwirtschaftung dieser Freibeträge durch eigene Erwerbstätigkeit Ausdruck der (beginnenden) wirtschaftlichen Integration des Betreffenden ist.

Hielte sich die Antragstellerin im Iran auf, würde sie aller Voraussicht nach keinen Beitrag mehr zum Unterhalt von Ehemann und Sohn in Deutschland leisten.

cc) Die Antragsgegnerin hätte in ihre Ermessenserwägungen als wesentlichen Gesichtspunkt das private Interesse von Ehemann und Sohn am Fortbestand der familiären Lebensgemeinschaft im Inland einstellen müssen. Es erscheint unzumutbar, die seit sechs Jahren im Inland gepflegte eheliche und familiäre Lebensgemeinschaft aufzugeben und im Iran neu zu begründen.

Nach der Wertung des Gesetzgebers (vgl. BT-Drs. 15/210 S. 82) kommt dem Gesichtspunkt der Aufrechterhaltung der familiären Lebensgemeinschaft, die rechtmäßig im Bundesgebiet geführt wird, ein besonderes Gewicht zu. Dies hat den Gesetzgeber veranlasst, von dem Grundsatz des § 8 Abs. 1 AufenthG abzuweichen und die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 30 Abs. 3 AufenthG gegenüber der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu privilegieren. Eine weitere Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis unterliegt dabei zwar gemäß § 30 Abs. 3 AufenthG denselben gesetzlichen Voraussetzungen wie eine erstmalige Verlängerung. Doch hängt es von den jeweiligen tatsächlichen Verhältnissen ab, welche Wertigkeit den beteiligten Belangen beizumessen ist. Die Antragstellerin pflegt seit über sechs Jahren rechtmäßig in Deutschland mit Ehemann und Sohn die familiäre Lebensgemeinschaft.

dd) Dahinstehen kann, ob ein Absehen von dem Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts vorliegend bereits gleichheitsrechtlich geboten ist.