VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 01.11.2007 - 5 E 1619/07.A - asyl.net: M12179
https://www.asyl.net/rsdb/M12179
Leitsatz:

Art. 10 Abs. 1 Bst. b der Qualifikationsrichtlinie hat keinen Einfluss auf das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG wegen Verletzung der Religionsfreiheit gem. Art. 9 EMRK.

 

Schlagwörter: Pakistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Religion, Religionsfreiheit, Ahmadiyya, Folgeantrag, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Drei-Monats-Frist, Anerkennungsrichtlinie, Änderung der Rechtslage, religiöses Existenzminimum
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 3; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; VwVfG § 51 Abs. 5; AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 9; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b
Auszüge:

Art. 10 Abs. 1 Bst. b der Qualifikationsrichtlinie hat keinen Einfluss auf das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG wegen Verletzung der Religionsfreiheit gem. Art. 9 EMRK.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Den Klägern steht in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 2. HS. AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung der allein noch geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht zu.

Nach § 71 Abs. 1 AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 3 Satz 1 VwVfG muss der Antrag aufWiederaufgreifen des Verfahrens binnen drei Monaten gestellt werden. Nach Satz 2 der letztgenannten Vorschrift beginnt die Frist mit dem Tage, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erhalten hat. Diese Frist haben die Kläger nicht gewahrt. Die Richtlinie 2004/83 EG ist, soweit sie unbedingte und hinreichend bestimmte Vorschriften enthält (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 14.07.1994 - Rs. C-91/92 -, NJW 1994, 2473) in der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar anzuwenden (gewesen), nachdem die in Artikel 38 Abs. 1 Satz 1 festgesetzte Umsetzungsfrist am 10.10.2006 abgelaufen war. Wie dem Gericht aus zahlreichen Asylklageverfahren von in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Angehörigen der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft bekannt ist, waren diese Personen schon lange vor Ablauf der genannten Umsetzungsfrist durch Publikationen ihrer Gemeinde oder Presseveröffentlichungen über den für sie wesentlichen Inhalt der Richtlinie, also insbesondere den erweiterten Schutzumfang des Verfolgungsmerkmals Religion, informiert. Die Kläger haben keine Tatsachen vorgetragen, warum sie entgegen diesem allgemeinen Kenntnisstand innerhalb ihrer Gemeinde tatsächlich erst zu einem späteren Zeitpunkt Kenntnis über den Inhalt der Richtlinie 2004/83/EG erlangt und sodann innerhalb von drei Monaten ihren Folgeantrag gestellt haben. Sollten die Ausführungen in der Klageschrift vom 25.07.2007 dahingehend zu verstehen sein, die Kläger hätten erstmals zum Zeitpunkt der Erteilung des Mandates an ihren Prozessbevollmächtigten von der dargestellten Rechtsänderung erfahren, wäre dieses Vorbringen zu vage und unsubstantiiert.

Den Klägerin steht auch kein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung des Bundesamtes über ihren Wiederaufgreifensantrag nach § 51 Abs. 5 VwVfG i.V. m. §§ 48, 49 VwVfG zu.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 24.05.2000 - 9 C 34.99 -, BVerwGE 111, 223) ist die Abschiebung eines Ausländers in Nicht-Vertragsstaaten nicht nur unzulässig, wenn diesem dort unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Vielmehr komme ein Abschiebungsverbot auch dann in Betracht, wenn im Einzelfall andere in der EMRK verbürgte, von allen Vertragsstaaten als grundlegend anerkannte Menschenrechtsgarantien in ihrem Kern bedroht seien. Auch bei Eingriffen in den Kernbereich der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK sei eine Abschiebung allerdings nur in krassen Fällen unzulässig, wenn nämlich die drohenden Beeinträchtigungen von ihrer Schwere her dem vergleichbar seien, was nach der bisherigen Rechtsprechung wegen menschenunwürdiger Behandlung zu einem Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK geführt habe. Zu dem menschenrechtlichen Mindeststandard, der auch in einem Abschiebezielstaat, der nicht Vertragsstaat der EMRK sei, gewahrt sein müsse, gehöre der unveräußerliche Kern der Religionsfreiheit. Der damit gewährte Schutz entspreche dem des "religiösen Existenzminimums" im Asylrecht, das die Religionsausübung im privaten Bereich umfasse (forum internum). Diese Rechtslage besteht unverändert fort.

Die Erweiterung des Schutzbereichs des Verfolgungsmerkmals "Religion" bleibt, wie sich aus der Systematik der Richtlinie ergibt, auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG ohne Einfluss (ebenso: Sächs. OVG, Urteil vom 24.04.2007 - A 2 B 832/05 -). Der genannte Artikel ist Bestandteil des Kapitels III, der nach seiner amtlichen Überschrift die "Anerkennung als Flüchtling" betrifft. Diese Vorgabe hat der Gesetzgeber durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union Rechnung getragen, indem nunmehr gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG hinsichtlich der Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, u. a. Art. 10 Abs. 1 lit. b) der Richtlinie 2004/83/EG "ergänzend anzuwenden" ist. Demgegenüber gilt Art. 10 Abs. 1 lit. b) der Richtlinie 2004/83/EG nicht für den subsidiären Schutz, der sich im nationalen Recht der Bundesrepublik Deutschland in den Abschiebungsverboten des § 60 Absätze 2 bis 7 AufenthG widerspiegelt. Gemäß Art. 18 der Richtlinie 2004/83/EG erkennen die Mitgliedstaaten einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen den subsidiären Schutzstatus zu, wenn er die Voraussetzungen der Kapitel II und V erfüllt. Wie bereits ausgeführt, ist Art. 10 der Richtlinie Bestandteil des Kapitels III ("Anerkennung als Flüchtling"). Das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union weicht von diesen Vorgaben nicht ab.