VG München

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Zitieren als:
VG München, Beschluss vom 27.09.2007 - M 21 K 07.60160 - asyl.net: M12268
https://www.asyl.net/rsdb/M12268
Leitsatz:
Schlagwörter: Nigeria, Genitalverstümmelung, geschlechtsspezifische Verfolgung, Flüchtlingsfrauen, Esan, offensichtlich unbegründet, Glaubwürdigkeit, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), ernstliche Zweifel
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; VwGO § 80 Abs. 5; AsylVfG § 36 Abs. 4
Auszüge:

Der Antrag, die kraft Gesetzes (§ 75 AsylVfG) ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes nach § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen, ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

Die Aussetzung der Abschiebung darf gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Das ist dann der Fall, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass das Offensichtlichkeitsurteil hinsichtlich der Entscheidung über den Asylantrag oder die Feststellung zum Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG einer rechtlichen Überprüfung wahrscheinlich nicht standhält.

Das Bundesamt hat die Offensichtlichkeitsentscheidung darauf gestützt, dass das Vorbringen der Antragstellerin, ihr drohe eine Genitalverstümmelung – zur Asylrelevanz einer solchen Gefahrenlage vgl. Hessischer Verwaltungsgerichtshof vom 23.03.2005 - NVwZ-RR 2006, 504 –, vage und unsubstantiiert sei und nicht den Eindruck erwecke, dass die Antragstellerin von Selbsterlebtem berichtet habe.

Auf der Grundlage der Niederschrift über die Anhörung der Antragstellerin ergeben sich auch für das Gericht Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Einlassung der Antragstellerin. Das Gericht ist aber nicht der Auffassung, dass der Vortrag in einem solch gravierenden Maße unsubstantiiert wäre, dass dies nicht nur eine Ablehnung als einfach unbegründet, sondern darüber hinaus eine Offensichtlichkeitsentscheidung rechtfertigen würde.

Mit in Betracht zu ziehen ist dabei auch die Erkenntnislage zur Praxis der Genitalverstümmelung in Nigeria. Danach ist die Beschneidung von Mädchen und Frauen in Nigeria außerordentlich weit verbreitet. Das Lebensalter, in dem diese erfolgt, unterscheidet sich nach der Art der Beschneidung, den jeweiligen ethnischen oder religiösen Bräuchen sowie den individuellen Verhältnissen. Am häufigsten ist die weibliche Beschneidung kurz nach der Geburt. Es ist aber auch üblich, diese aus Anlass von Pubertätsriten vorzunehmen und es liegen auch Berichte vor, wonach Beschneidungen auch noch im Erwachsenenalter, etwa vor der Heirat oder während bzw. nach der ersten Schwangerschaft, durchgeführt werden. Weiter ist festzustellen, dass Frauen, die sich nicht beschneiden lassen wollen, unter Umständen damit rechnen müssen, dass auf sie sozialer Druck ausgeübt wird und es kommt zumindest teilweise auch zu Missbilligung bis hin zum Verstoß aus der Gemeinschaft (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 06.05.2006, S. 27; ACCORD, Nigeria – Länderbericht 2004, S. 78 ff.)

Die Antragstellerin hat angegeben, sie stamme aus dem Edo-State, einem Gebiet, in dem die Genitalverstümmelung weit verbreitet ist. Weiter hat sie vorgetragen, sie spreche neben Englisch auch "Isaan". Damit ist wohl Esan oder Ishan gemeint, die Sprache der gleichnamigen Ethnie, die überwiegend im Edo-State siedelt. Es ist daher wohl davon auszugehen, dass die Antragstellerin zur Volksgruppe der Esan gehört. Nach den vorliegenden Informationen ist auch bei dieser Volksgruppe die Genitalverstümmelung an Mädchen und Frauen üblich und insbesondere soll es bei den Esan Praxis sein, die Genitalverstümmelung an Frauen während der ersten Schwangerschaft vorzunehmen (vgl. dazu Vanguard vom 14.08.2007 "Female circumcision: The good, the bad and the ugly?" von der Website www.vanguardngr.com).

Vor diesem Hintergrund – insbesondere im Hinblick darauf, dass die Antragstellerin nach ihren Angaben mit ihrem ersten Kind schwanger ist und bei den Esan augenscheinlich Genitalverstümmelungen auch an Schwangeren vorgenommen werden – wiegen die Substantiierungsmängel in ihrem Vortrag nicht so schwer, dass sie ein Ablehnen des Asylantrages als offensichtlich unbegründet rechtfertigen könnten.