VG München

Merkliste
Zitieren als:
VG München, Urteil vom 27.09.2007 - M 10 K 06.1564 - asyl.net: M12269
https://www.asyl.net/rsdb/M12269
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Unionsbürger, Bescheinigung, Familienangehörige, Aufenthaltskarte, ausreichende Existenzmittel, Lebensunterhalt, Erwerbstätigkeit
Normen: FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 5; FreizügG/EU § 5 Abs. 1; FreizügG/EU § 5 Abs. 2; FreizügG/EU § 4; RL 2004/38/EG Art. 7 Abs. 1 Bst. b; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1; FreizügG/EU § 3
Auszüge:

Streitgegenstand ist die Frage, ob den Klägerinnen ein gemeinschaftsrechtliches Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU zusteht. Sie begehren die Ausstellung einer Bescheinigung über das Aufenthaltsrecht und einer Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU. Zugleich wird die Aufhebung der im Bescheid des Landratsamts F. vom ... April 2006 getroffenen, entgegenstehenden Feststellung sowie der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung begehrt.

Die Klägerin zu 2), die unstreitig portugiesische Staatsangehörige und damit Unionsbürgerin ist, genießt Freizügigkeit nach Art. 18 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV).

Der Klägerin zu 2) steht jedoch das Freizügigkeitsrecht nicht erwerbstätiger Unionsbürger nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU (n.F.) zu.

Sie verfügt auch, entgegen der Auffassung des Beklagten, über ausreichende Existenzmittel i.S.v. § 4 FreizügG/EU. Die Prüfung dieser Frage erfordert eine ausländerbehördliche Prognose, ob voraussichtlich keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedsstaats in Anspruch genommen werden müssen. Dies wird in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG, die nach dem Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts heranzuziehen ist, ausdrücklich so bestimmt. Gemäß den der Richtlinie vorangestellten Erwägungen des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union soll verhindert werden, dass die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedsstaats unangemessen in Anspruch genommen werden; nur in diesem Falle sei auch eine Ausweisung zulässig (Erwägungen Nr. 10 und 16). Daraus folgt nach Auffassung des Gerichts, dass ausreichende Existenzmittel auch dann vorliegen, wenn diese nur im Wesentlichen den voraussichtlichen Lebensbedarf des Unionsbürgers decken, wobei eine geringfügige oder vorübergehende Inanspruchnahme von Sozialhilfe unschädlich ist.

Im vorliegenden Fall ist zunächst festzustellen, dass während des fast vierjährigen Aufenthalts der Klägerin zu 2) in Deutschland unstreitig keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch genommen wurden. Die Forderung der Beklagten nach Vorlage eines Nachweises über die Leistungsfähigkeit des unterhaltspflichtigen Kindsvaters erscheint daher nicht berechtigt.

Entscheidend ist, dass bei der anzustellenden Prognose neben den aktuellen Unterhaltsleistungen des Kindsvaters auch die künftig möglichen Unterhaltsleistungen der Klägerin zu 1) aus eigenem Arbeitseinkommen zu berücksichtigen sind. Da die Klägerin zu 1) weiterhin über eine Einstellungszusage der Firma M. verfügt und es keinen Anhaltspunkt dafür gibt, dass sie diese Stelle nicht auch tatsächlich antreten möchte, sobald ihr ausländerrechtlicher Status dies zulässt, ist auch der hieraus zu erwartende Beitrag zum Lebensunterhalt der Klägerin zu 2) mit zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Ausländerbehörde die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit durch die Klägerin zu 1) in unzulässiger Weise erschwert hat. Solange deren Freizügigkeitsrecht noch nicht geklärt war, konnte sie sich zwar noch nicht darauf berufen, dass sie keiner Erlaubnis der Erwerbstätigkeit nach dem Aufenthaltsgesetz (§ 4 Abs. 2 AufenthG) bedürfe. Jedoch ist nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2004/38/EG dem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers unverzüglich eine Bescheinigung über die Einreichung des Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte auszustellen. Die vor Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie erlassenen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern vom 22. Dezember 2004, die auch dazu dienen, den Vorgaben der Richtlinie schon vor ihrer Umsetzung im Rahmen des geltenden nationalen Rechts gerecht zu werden, weisen auf die vorgeschriebene Ausstellung einer derartigen Bescheinigung hin (AH-AufenthG Nr. 5.3.1.2.2). Als Inhaberin einer solchen Bescheinigung hätte die Klägerin zu 1) nicht schlechter gestellt sein dürfen als der Inhaber einer förmlichen Duldungsbescheinigung nach § 60 a Abs. 4 AufenthG. Damit hätte ihr nach Ablauf eines Jahres mit Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit die Ausübung einer unselbständigen Beschäftigung erlaubt werden können (§ 10 BeschVerfV). Da keine Versagungsgründe ersichtlich sind, bedeutet dies, dass die Klägerin zu 1) spätestens ab November 2006 in der Lage gewesen wäre, die ihr angebotene Beschäftigung bei der Firma M. aufzunehmen.

Dem Beklagten ist zwar insoweit zuzustimmen, als der vorliegende Fall anders gelagert ist als der dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. Oktober 2004 (Rs. C-200/02, InfAuslR 2004, 413) zu Grunde liegende Sachverhalt. In jenem Fall war es so, dass dem Kleinkind mit Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedsstaats tatsächlich von seinem Vater, einem wohlhabenden chinesischen Staatsangehörigen, Unterhalt in einem Umfang geleistet wurde, der ohne weiteres zur Deckung des Lebensbedarfs ausreichte. Zugleich betont jedoch der EuGH, dass es auf die Herkunft der Existenzmittel nicht ankommt (a.a.O. RdNr. 33), so dass im vorliegenden Fall auch die Gewährung von Naturalunterhalt durch die Tante der Klägerin zu 2) bzw. Schwester der Klägerin zu 1) zu berücksichtigen ist. Bereits in seiner früheren Rechtsprechung zur Ausübung der Freizügigkeit nach Art. 18 EGV und den hierfür in der Richtlinie 90/364 festgelegten Beschränkungen und Bedingungen hat der EuGH auf die besondere Bedeutung des gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit hingewiesen (Urt. v. 17.9.2002, Rs. C-413/99, RdNr. 91, Urt. v. 7.9.2004, Rs. C-456/02, RdNr. 34) und betont, dass es dem Aufnahmemitgliedsstaat unbenommen bleibe, festzustellen, dass ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedsstaats, der Sozialhilfe in Anspruch genommen hat, die Voraussetzungen für sein Aufenthaltsrecht nicht mehr erfüllt (Urt. v. 7.9.2004 RdNr. 45). Dem Gericht erscheint es daher unverhältnismäßig und mit einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des § 4 Satz 1 FreizügG/EU nicht vereinbar, wenn der Beklagte zulasten der Klägerin zu 2) unterstellt, diese werde ungeachtet des bisherigen Geschehensablaufs, insbesondere der Nichtinanspruchnahme öffentlicher Mittel über nahezu vier Jahre, in Zukunft in unangemessenem Umfang auf Sozialhilfeleistungen angewiesen sein. Eine derartige Rechtsanwendung stellt eine unverhältnismäßige, weil zurWahrung der berechtigten Interessen des Aufnahmemitgliedsstaats nicht erforderliche Hürde für die Ausübung der Freizügigkeit nach Art. 18 EGV dar.

Die Klägerin zu 1) ist freizügigkeitsberechtigt als Familienangehörige der Klägerin zu 2). Auch wenn letztere in Deutschland geboren wurde, handelt es sich bei der Klägerin zu 1) um einen "begleitenden" Familienangehörigen i.S.v. § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU (n.F.). Allerdings erfüllt sie nicht die weiteren Voraussetzungen des § 3 FreizügG/EU für Familienangehörige. Für Familienangehörige nicht erwerbstätiger Unionsbürger wird das Freizügigkeitsrecht nur nach Maßgabe des § 4 FreizügG/EU gewährt (§ 3 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU). Dies bedeutet, dass der Familienangehörige sowohl über ausreichenden Krankenversicherungsschutz als auch ausreichende Existenzmittel verfügen muss. Auch Verwandte in aufsteigender Linie können Familienangehörige i.S.v. § 3 FreizügG/EU sein, jedoch nur, wenn ihnen seitens des stammberechtigten Unionsbürgers oder dessen Ehegatten Unterhalt gewährt wird (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU). Dies ist hier nicht der Fall. Insoweit wird also § 4 Satz 1 FreizügG/EU eingeengt, als die Existenzmittel nicht aus anderer Quelle stammen dürfen.

Diese nationalen Vorschriften stimmen mit den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben des Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der Richtlinie 2004/38/EG überein. Gegenüber der früheren Rechtslage nach Art. 1 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 90/364/EWG hat sich diesbezüglich nichts geändert. Hieraus folgt aber zugleich, dass die zur Anwendung der letztgenannten Richtlinie ergangene Rechtsprechung des EuGH weiterhin Geltung beansprucht. Unter Durchbrechung der Voraussetzungen des Art. 1 der Richtlinie 90/364/EWG ermöglicht der EuGH auch dem für das Kleinkind tatsächlich sorgenden Elternteil unmittelbar aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes der praktischen Wirksamkeit ein Aufenthaltsrecht.