VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 27.09.2007 - M 24 K 07.50126 - asyl.net: M12271
https://www.asyl.net/rsdb/M12271
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Drei-Monats-Frist, fachärztliche Stellungnahme, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Glaubwürdigkeit, traumatisierte Flüchtlinge, Suizidgefahr, Retraumatisierung, Situation bei Rückkehr
Normen: VwVfG § 51 Abs. 3; VwVfG § 51 Abs. 5; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, weil sich ihre Krankheit ausweislich der inzwischen festgestellten Symptome derart manifestiert hat, dass sich die Sachlage zu ihren Gunsten im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG geändert hat.

a) Die formalen Voraussetzungen für das Wiederaufgreifen des Verfahrens sind erfüllt. Der entsprechende Antrag ist insbesondere nicht verspätet gestellt worden.

Zwar muss ein solcher Antrag nach § 51 Abs. 3 VwVfG innerhalb einer Frist von drei Monaten gestellt werden. Diese Frist beginnt mit dem Tag, an dem der Betroffene Kenntnis von dem Grund des Wiederaufgreifens erlangt hat.

Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass sich die für das Wiederaufgreifen des Verfahrens maßgeblichen Gesichtspunkte erstmals aus dem im damaligen Eilverfahren (M 24 E 06.60106) am 29. Mai 2006 dem Gericht vorgelegten Befundsbericht vom 22. Mai 2006 ergeben haben, der von sachverständigen Zeugin Dr. med. A. erstellt und der weiteren Mitarbeiterin von R., Dr. med. W., mitgezeichnet worden ist. Denn erst diesem Bericht ist mit der erforderlichen Deutlichkeit zu entnehmen, dass bei der Klägerin eine erhebliche und in ihrer Heimat wegen der zugrundeliegenden Ursachen nicht behandelbare posttraumatische Belastungsstörung vorliegt, die im Falle einer Rückführung der Klägerin in die Türkei zu einer massiven Verschlechterung ihres Gesundheitszustands mit einer konkreten Gefahr für Leib und Leben führen würde.

Nachdem sich die Krankheit bei der Klägerin, wie bei posttraumatischen Belastungsstörungen häufig, erst allmählich nach außen hin erkennbar manifestiert hat und der Klägerin, was typisch ist, in ihrer Bedeutung und Tragweite gar nicht bewusst geworden ist, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass es sich bei dem Befundsbericht lediglich um den Nachweis eines bereits vorher bekannten Sachverhalts handelt, der schon früher hätte geführt werden können.

Der Befundsbericht vom 22. Mai 2006 lag der Klagepartei jedenfalls im Zeitpunkt der Stellung des Eilantrags vom 29. Mai 2006 vor. Zwar ist der förmliche Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens erst am 17. Oktober 2006 beim Bundesamt gestellt worden, also mehr als drei Monate nach Kenntnis der Klagepartei von dem maßgeblichen Grund. Nachdem die Beklagte von dem Bericht und den sich daraus ergebenden Konsequenzen jedoch schon durch den klägerischen Vortrag im damaligen Eilverfahren und dem bereits (hilfsweise) auch auf die Abänderung der Feststellungen zu § 53 AuslG gerichteten Klageverfahren (M 24 K 06.50523) in Kenntnis gesetzt worden ist, wäre es rechtsmissbräuchlich, wenn sie sich nunmehr auf die Nichteinhaltung der Drei-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG berufen würde. Sinn der betreffenden Frist ist es zu verhindern, dass ein Betroffener es trotz entsprechender Kenntnis unterlässt, für ihn günstige Umstände geltend zu machen, was u.a. dazu genutzt werden könnte, das Verfahren immer wieder zu verzögern. Gerade dies ist hier aber nicht geschehen.

b) Die Klägerin erfüllt hinsichtlich der Türkei die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Die Klägerin leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die bei ihr zu einer erheblichen Beeinträchtigung ihres Gesundheitszustandes geführt hat und bei fehlender Behandlung weitere massive Störungen zur Folge. Eine Abschiebung in ihre Heimat würde zu einem Kontrollverlust mit einer ernsthaften Suizidgefahr führen. Eine Behandlung der Klägerin in der Türkei ist unabhängig davon, ob die Möglichkeiten dafür objektiv gegeben sind, auf Grund der dort erfolgten Traumatisierung und der erheblichen Gefahr einer Retraumatisierung durch die erneute Wahrnehmung der hierfür maßgeblichen Auslöser durch die Klägerin nicht erfolgversprechend und daher nicht geeignet, die ihr dort drohenden erheblichen Gefahren für ihr Leben und ihre Gesundheit zu vermeiden.

Dies steht für das Gericht auf Grund der Beweisaufnahme fest.

Der in dem streitgegenständlichen Bescheid auf Seite 5 in Absatz 3 vertretene Auffassung der Beklagten, dass die Diagnose der sachverständigen Zeugin in deren Befundberichten vom 22. Mai und 11. Juli 2007 nicht durch den "aktuelleren" Befundbericht des Oberarztes am Zentrum für psychische Gesundheit im Klinikum I. (vom 8. Dezember 2006) belegt werde, kann nicht gefolgt werden. Zwar wird in diesem Bericht lediglich das Vorliegen einer "schweren depressiven Episode mit psychotischen Inhalten" festgestellt. Hierzu hat die sachverständige Zeugin in der mündlichen Verhandlung jedoch überzeugend dargelegt, dass dies nicht ihrer Diagnose widerspricht, wonach bei der Klägerin darüber hinaus eine posttraumatische Belastungsstörung sowie eine Somatisierungsstörung vorliegt. Bei der Befundserhebung in psychiatrischen Kliniken wird schon aus Kostengründen nicht in jeder Richtung der gesamte Krankheitszustand ermittelt, wenn der aktuelle Krankheitsbefund für eine Therapie ausreicht, die im Falle der Klägerin in der Verabreichung des Medikaments Cipralex in höchster Dosierung während eines längeren stationären Aufenthalts bestand. Es wird daher keine Untersuchung durchgeführt, um etwa eine posttraumatische Belastungsstörung festzustellen, wenn dies für die Behandlung der aktuellen Symptome nicht notwendig ist. Denn die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung setzt eine zeit- und kostenintensive Exploration voraus, die bei Ausländern, die – wie die Klägerin – die deutschen Sprache nicht oder nur unvollkommen beherrschen, außerdem den Einsatz von Sprachmittlern erfordert. Ein derartiger Aufwand wird nicht betrieben, wenn dies für den Behandlungserfolg nicht unumgänglich ist.

Nach den Ausführungen der sachverständigen Zeugin können die erheblichen gesundheitlichen Störungen der Klägerin auf Grund ihrer persönlichen Situation nicht in der Türkei behandelt werden. Ausweislich der bisherigen Krankheitsgeschichte hat bereits die als ernsthaft wahrgenommene Gefahr einer Abschiebung den Gesundheitszustand der Klägerin massiv verschlechtert. Eine Rückführung der Klägerin in die Türkei würde die dort erlittenen traumatisierenden Erlebnisse wieder verstärkt in den Vordergrund rücken und weitere Auslöser für eine Verschlimmerung der Traumatisierung zur Folge haben.

Dass die Klägerin in ihrer Heimat wiederholt Dinge erlebt hat, die zu ihrer Erkrankung geführt haben, sieht das Gericht auf Grund des von der sachverständigen Zeugin geschilderten Krankheitsbildes und der "Trigger", die auch in Deutschland zu einer Verschlimmerung der Zustandes geführt haben – so etwa die Vorgänge während der Abschiebehaft und die Vorsprache beim Türkischen Generalkonsulat in München –, als erwiesen an.

Die ohne gesonderte Begründung getroffene Feststellung im Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 18. März 1998, dass der Vortrag der Klägerin nichts enthalte, was darauf schließen ließe, dass sie ihre Heimat wegen bereits erlittener oder ihr drohender Verfolgung oder aus einer latent vorhanden Gefährdungslage verlassen musste, steht einer Verwertung dieser Erkenntnisse nicht entgegen. Abgesehen davon, dass Bundesamt und Gericht bei einem zulässigen Folgeantrag unabhängig von der Reichweite der Bestands- bzw. Rechtskraft der vorausgegangenen Entscheidungen nicht an die dort getroffenen Feststellungen gebunden sind, sind dort keine Gesichtspunkte dargelegt, die Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Klägerin bei den Explorationen durch die sachverständige Zeugin rechtfertigen würden. Vielmehr hat sich das Verwaltungsgericht Regensburg ebenso wenig wie zuvor das Bundesamt mit der Glaubwürdigkeit der Klägerin auseinandergesetzt, also deren tatsächliches Vorbringen gar nicht in Frage gestellt.

Im Übrigen ist es geradezu typisch für eine posttraumatische Belastungsstörung, dass der Betroffene Erlebnisse zu verdrängen oder wenigstens zu relativieren versucht, um überhaupt damit leben zu können. Die Erinnerung daran äußert sich oft erst nach längerer Zeit, z.T. erst nach Jahren, in Form von Flashbacks oder auf Grund einer Retraumatisierung und führt bei fehlender Bewältigung zu den geschilderten Symptomen. Der Klägerin kann schon aus diesem Grund nicht vorgehalten werden, dass sie in ihrem (ersten) Asylverfahren ihre Erlebnisse nicht mit der gleichen Intensität und den Details geschildert hat, wie gegenüber der sachverständigen Zeugin. Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Klägerin bei den Explorationen wahrheitsgemäß über ihre Erlebnisse berichtet hat. Nach den Feststellungen der sachverständigen Zeugin haben die körperlichen und psychischen Reaktionen der Klägerin während der Untersuchungen ein Bild ergeben, nach dem auszuschließen ist, dass sie ihre Erlebnisse vorgetäuscht hat. So hat sie körperliche und psychische Reaktionen gezeigt, die nicht steuerbar sind. Auch die Art und Weise, in der sie über das Erlebte berichtet hat, entsprachen dem typischen Bild, das sich bei Traumatisierten ergibt.