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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 23.10.2007 - 1 C 10.07 - asyl.net: M12288
https://www.asyl.net/rsdb/M12288
Leitsatz:

Ein Ausnahmefall von der Regelausweisung - und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung - liegt bereits dann vor, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten (Fortentwicklung der Rspr).

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Rücknahme, Unionsbürger, Altfälle, Anwendungszeitpunkt, Beurteilungszeitpunkt, Zuwanderungsgesetz, Regelausweisung, atypischer Ausnahmefall, Privatleben, Europäische Menschenrechtskonvention, Verhältnismäßigkeit, Ermessen, Ermessensausweisung, in Deutschland geborene Kinder, Integration, besonderer Ausweisungsschutz, Deutschverheiratung, deutsche Kinder, Nachschieben von Gründen, Ermessensreduzierung auf Null, Hilfsantrag, Teilablehnung, Befristung, Wirkungen der Ausweisung
Normen: VwVfG § 48 Abs. 1; AufenthG § 102 Abs. 1; GG Art. 6; GG Art. 2 Abs. 1; EMRK Art. 8; AuslG § 47 Abs. 1 Nr. 1; AuslG § 48 Abs. 1; AuslG § 47 Abs. 3; VwGO § 114 S. 2; VwGO § 44; FreizügG/EU § 7 Abs. 2
Auszüge:

Ein Ausnahmefall von der Regelausweisung - und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung - liegt bereits dann vor, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten (Fortentwicklung der Rspr).

(Amtlicher Leitsatz)

 

1. Der Kläger hat nach § 48 Abs. 1 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes für Baden-Württemberg - LVwVfG - Anspruch auf erneute Bescheidung seines Rücknahmeantrags.

b) Die Rücknahmevoraussetzung der Rechtswidrigkeit i.S.d. § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG ist grundsätzlich dann gegeben, wenn der Verwaltungsakt, um dessen Aufhebung gestritten wird, zum Zeitpunkt seines Erlasses einer Rechtsgrundlage entbehrte (Beschluss vom 7. Juli 2004 - BVerwG 6 C 24.03 - BVerwGE 121, 226 <229 m.w.N.>). Das war hier der Fall. Da der Kläger die Ausweisung nicht angefochten hat, steht § 121 VwGO ihrer gerichtlichen Inzidentprüfung im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG nicht entgegen.

aa) Entgegen der Auffassung des Klägers war die Ausweisung allerdings nicht bereits deshalb rechtswidrig, weil ihre Wirkungen von der Ausländerbehörde nicht bereits bei Erlass befristet worden sind. Die dem System des deutschen Ausländerrechts immanente Trennung zwischen der Ausweisung und der Befristung ihrer gesetzlichen Folgen (vgl. Beschluss vom 31. März 1981 - BVerwG 1 B 853.80 - Buchholz 402.24 § 15 AuslG Nr. 3) erweist sich nicht als konventionswidrig (vgl. EGMR, Urteil vom 28. Juni 2007 - Beschwerde Nr. 31753/02 - Kaya - InfAuslR 2007, 325 <326>).

bb) Die Ausweisung vom 4. März 1998 war aber rechtswidrig, weil sie als Regelausweisung ohne die notwendige Ermessensausübung durch den Beklagten ergangen ist.

(2) Die Ausländerbehörde ist davon ausgegangen, dass an die Stelle der Ist-Ausweisung (§ 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG) wegen der Lebensgemeinschaft des Klägers mit einer Deutschen und den gemeinsamen Kindern (§ 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AuslG) gemäß § 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG die Regel-Ausweisung getreten ist. Auch nach der Auffassung des Berufungsgerichts lag tatbestandlich ein Fall der Regelausweisung vor (BU S. 11). Dem folgt der Senat nicht.

Nach ständiger Rechtsprechung beziehen sich die Worte "in der Regel" im System der Rechtsgrundlagen für Aufenthaltstitel sowie der Ausweisungstatbestände auf Regelfälle, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleich liegender Fälle unterscheiden. Ausnahmefälle sind demgegenüber durch atypische Umstände gekennzeichnet, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigen. Bei der uneingeschränkter gerichtlicher Kontrolle unterliegenden Prüfung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, sind alle Umstände einer evtl. strafgerichtlichen Verurteilung sowie die sonstigen Verhältnisse des Betroffenen zu berücksichtigen, die in § 45 Abs. 2 AuslG (jetzt: § 55 Abs. 3 AufenthG) nicht abschließend (Urteil vom 19. November 1999 - BVerwG 1 C 6.95 - BVerwGE 102, 249 <253>) genannt werden (Urteile vom 26. Februar 2002 - BVerwG 1 C 21.00 - BVerwGE 116, 55 <64 f.> und vom 29. September 1998 - BVerwG 1 C 8.96 - Buchholz 402.240 § 45 AuslG 1990 Nr. 16 S. 48 m.w.N.).

Ein Ausnahmefall i.S.d. § 47 Abs. 1 Satz 3 AuslG (nunmehr: § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG) wurde ferner dann angenommen, wenn der Ausweisung auch unter Berücksichtigung des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 48 Abs. 1 AuslG (nunmehr: § 56 Abs. 1 AufenthG) höherrangiges Recht entgegensteht, sie sich insbesondere mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (z.B. Art. 6 Abs. 1 GG) als nicht vereinbar erweist (Urteil vom 29. September 1998 - BVerwG 1 C 8.96 - a.a.O. m.w.N.). Der Senat nimmt die sowohl in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil vom 22. März 2007 - Nr. 1638/03 - Maslov - InfAuslR 2007, 221; Urteil vom 28. Juni 2007 - Nr. 31753/02 - Kaya - InfAuslR 2007, 325) als auch des Bundesverfassungsgerichts (Kammerbeschlüsse vom 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 - NVwZ 2007, 946 und vom 10. August 2007 - 2 BvR 535/06) erkennbar gewachsene Bedeutung des Rechts auf Achtung des Privatlebens im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung zum Anlass, diese Voraussetzung weiter zu fassen: Ein Ausnahmefall von der Regelausweisung - und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung - liegt bereits dann vor, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten.

Der bisherige Maßstab, der ergebnisbezogen auf die Unvereinbarkeit der Ausweisung mit höherrangigem Recht abstellt, reicht nach den Erfahrungen des Senats nicht aus, um den von Art. 6, Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belangen in der Praxis zu einer ausreichenden Berücksichtigung zu verhelfen. Vielmehr besteht die Gefahr, dass schutzwürdige, von den Tatbeständen des § 48 Abs. 1 AuslG bzw. § 56 Abs. 1 AufenthG nicht (voll) erfasste Belange des Betroffenen im Verwaltungsvollzug schematisierend ausgeblendet werden (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 - a.a.O. S. 946 <948>). Insbesondere bei der im Laufe der Zeit angewachsenen Gruppe im Bundesgebiet geborener und aufgewachsener Ausländer bedarf es bei der Entscheidung über eine Ausweisung einer individuellen Würdigung, inwieweit der Ausländer im Bundesgebiet verwurzelt ist und dies angesichts der konkreten Ausweisungsgründe bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalles einer Ausweisung entgegensteht. Aber auch in anderen Fällen erweist sich der schematische Blick der Verwaltung auf die Ist- und Regelausweisung als wenig hilfreich, um das gesamte Spektrum betroffener Belange in den Blick nehmen zu können. Die Ermessensentscheidung als der dritte vom Gesetzgeber vorgesehene Entscheidungsmodus bietet demgegenüber in der Verwaltungspraxis höhere Gewähr für eine Berücksichtigung aller Aspekte des jeweiligen Einzelfalles und die angemessene Gewichtung anlässlich der Entscheidung über den Erlass einer Ausweisung.

Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass diese Auslegung unter Umständen dazu führe, dass es mehr Ausnahmefälle als Regelfälle gebe und dies dem Willen des Gesetzgebers widerspreche. Denn für die Abgrenzung von Regel- und Ausnahmefall kommt es nicht auf das quantitative Verhältnis der Fallgruppen an, sondern auf eine wertende Betrachtung unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Vorgaben.

Mit der Absenkung der Schwelle für das Vorliegen eines Ausnahmefalles ist die Ermessensentscheidung über die Ausweisung aber nicht etwa negativ präjudiziert. Bei Annahme eines von der Regel abweichenden Falles fehlt den Ausweisungsgründen nur das von vornherein ausschlaggebende Gewicht, das ihnen der Gesetzgeber im Regelfall zugemessen hat. Liegt ein Ausnahmefall vor, sind die Ausweisungsgründe mit dem Gewicht, das in dem gestuften System der Ausweisungstatbestände zum Ausdruck kommt, in die Ermessensentscheidung einzubeziehen. Aus der Annahme eines Ausnahmefalles folgt mithin nicht, dass zwingend von der Ausweisung abzusehen wäre; sofern der Ausweisung nicht höherrangiges Recht entgegensteht und damit das Ermessen ohnehin auf Null reduziert ist, erlangt die Ausländerbehörde durch den Übergang in die Ermessensentscheidung lediglich mehr Flexibilität, um den besonderen Umständen des konkreten Falles ausreichend Rechnung tragen zu können (vgl. Urteile vom 29. Juli 1993 - BVerwG 1 C 25.93 - BVerwGE 94, 35 <44 f.> und 27. August 1996 - BVerwG 1 C 8.94 - BVerwGE 102, 12 <17> zu § 7 Abs. 2 AuslG 1990). Im Zweifel ist einer Behörde anzuraten, von einem Ausnahmefall auszugehen oder zumindest hilfsweise nach Ermessen zu entscheiden. Diese Vorgehensweise macht eine Ausweisungsverfügung nicht rechtsfehlerhaft, auch wenn die spätere Prüfung ergeben sollte, dass ein Regelfall vorlag (vgl. die Urteile vom 19. November 1996 - BVerwG 1 C 25.94 - Buchholz 402.240 § 47 AuslG 1990 Nr. 11 S. 11 <17 f.> und vom 7. Dezember 1999 - BVerwG 1 C 13.99 - BVerwGE 110, 140 <144>).

Entgegen der Auffassung des Beklagten und des Berufungsgerichts waren aber die Voraussetzungen eines Ausnahmefalles gegeben, weil der Kläger als Unionsbürger im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen ist und im Zeitpunkt der Ausweisung mit einer Deutschen und den gemeinsamen Kindern zusammenlebte. Diese von den Tatbeständen des besonderen Ausweisungsschutzes in § 48 Abs. 1 AuslG nicht vollumfänglich abgedeckten Umstände begründen das Vorliegen eines Ausnahmefalles, ohne dass bei der Abgrenzung von Regel- und Ausnahmefall eine Kompensation mit dem öffentlichen Interesse an der Ausweisung des Klägers zulässig wäre. Diese Abwägung der gegenläufigen Interessen ist vielmehr Gegenstand der der Ausländerbehörde obliegenden Ermessensentscheidung, die in der Ausweisungsverfügung vom 4. März 1998 fehlt. Wegen des Ermessensausfalls erweist sich daher die Ausweisung von Anfang an als rechtswidrig; damit sind die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG erfüllt.

c) Das Berufungsgericht ist im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass der Anspruch des Klägers auf eine (fehlerfreie) Ermessensentscheidung über sein Rücknahmebegehren noch nicht erfüllt worden ist. Das Regierungspräsidium hat in dem Bescheid vom 29. September 2004 kein Rücknahmeermessen ausgeübt. Die bei der Ablehnung des Rücknahmeantrags erforderlichen Ermessenserwägungen konnten auch nicht im Berufungsverfahren nachgeschoben werden. § 114 Satz 2 VwGO schafft die prozessualen Voraussetzungen lediglich für eine Ergänzung defizitärer Ermessenserwägungen im Verwaltungsprozess, nicht aber für die erstmalige Ausübung des Ermessens (Urteil vom 5. Mai 1998 - BVerwG 1 C 17.97 - BVerwGE 106, 351 <365>).

2. Der Kläger hat über das subjektiv-öffentliche Recht auf (fehlerfreie) Ausübung des Rücknahmeermessens hinaus keinen Rücknahmeanspruch. Der Senat folgt der Auffassung des Berufungsgerichts, dass sich das Rücknahmeermessen im vorliegenden Fall nicht derart verdichtet hat, dass nur die Rücknahme der Ausweisung ermessensfehlerfrei wäre.

Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit besteht aber ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts, wenn dessen Aufrechterhaltung "schlechthin unerträglich" erscheint, was von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt (Urteil vom 17. Januar 2007 - BVerwG 6 C 32.06 - a.a.O. m.w.N.).

b) Diese Grundsätze werden - die Freizügigkeitsberechtigung des Klägers und einen Verstoß der Ausweisung gegen Gemeinschaftsrecht zu seinen Gunsten unterstellt - durch Gemeinschaftsrecht nicht modifiziert. Der Europäische Gerichtshof respektiert die Bestandskraft eines Verwaltungsakts als Ausprägung der Rechtssicherheit, die zu den im Gemeinschaftsrecht anerkannten Grundsätzen zählt (EuGH, Urteil vom 13. Januar 2004 - C-453/00 - Kühne & Heitz - NVwZ 2004, 459 Rn. 24).

Über den auf Befristung der Ausweisungswirkungen gerichteten Hilfsantrag des Klägers hat das Berufungsgericht bewusst nicht entschieden.

Bei der eventuellen Klagehäufung (§ 44 VwGO) werden die als Haupt- und Hilfsantrag erhobenen prozessualen Ansprüche durch eine innerprozessuale Bedingung miteinander verknüpft. Ob das Gericht sich mit dem Hilfsantrag erst bei Abweisung des Hauptantrags zu befassen hat (Urteil vom 13. Dezember 1979 - BVerwG 7 C 43.78 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 124) oder die Rechtshängigkeit des Hilfsantrags nur bei Zuerkennung des Hauptanspruchs rückwirkend entfällt (Urteil vom 15. April 1997 - BVerwG 9 C 19.86 - BVerwGE 104, 260 <263>), obliegt der Bestimmung des Klägers im Rahmen der Dispositionsmaxime. Hat der Kläger - wie hier - für den Fall einer Teilstattgabe keine ausdrückliche Anordnung getroffen, ist sein Antrag mit Blick auf das von ihm verfolgte Rechtsschutzziel sachdienlich auszulegen.

Hier ergibt die Auslegung des Rechtsschutzbegehrens, dass der Hilfsantrag auch für den Fall der Teilstattgabe des Hauptantrags zur gerichtlichen Entscheidung gestellt worden ist. Andernfalls hätte der Kläger mit dem Bescheidungsurteil die nur relativ schwache Position der Zuerkennung eines Anspruchs auf Neubescheidung seines Rücknahmebegehrens gemäß § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO, ohne dass über das Befristungsbegehren gerichtlich entschieden worden wäre. Gleichzeitig wäre aber der Ablehnungsbescheid insoweit in Bestandskraft erwachsen.