VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.11.2007 - 11 S 1170/04 - asyl.net: M12297
https://www.asyl.net/rsdb/M12297
Leitsatz:

1. Die aufgrund summarischer Prüfung gewonnene gerichtliche Erkenntnis, dass die nachträgliche Fristverkürzung einer Aufenthaltserlaubnis offensichtlich rechtmäßig ist, begründet als solche kein besonderes Vollzugsinteresse. Vielmehr bedarf es darüber hinaus eines sonstigen Sofortvollzugsinteresses, das im Einzelfall und nach gegenwärtiger Sachlage einen dringenden unverzüglichen Handlungsbedarf voraussetzt (im Anschluss an VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11.2.2005 - 11 S 1170/04 -, EZAR NF 094 Nr. 2).

2. Hat ein minderjähriger Ausländer nur geringe Integrationsleistungen im Bundesgebiet aufzuweisen und ist er noch stark in seinem Heimatstaat verwurzelt, so sind diese Umstände bei der Prüfung des besonderen Vollzugsinteresses auch vor dem Hintergrund des Kindeswohls mit zu berücksichtigen.

 

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, nachträgliche Befristung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Sofortvollzug, Integration, Kindeswohl
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; VwGO § 80 Abs. 3; AufenthG § 7 Abs. 2 S. 2; AufenthG § 31
Auszüge:

1. Die aufgrund summarischer Prüfung gewonnene gerichtliche Erkenntnis, dass die nachträgliche Fristverkürzung einer Aufenthaltserlaubnis offensichtlich rechtmäßig ist, begründet als solche kein besonderes Vollzugsinteresse. Vielmehr bedarf es darüber hinaus eines sonstigen Sofortvollzugsinteresses, das im Einzelfall und nach gegenwärtiger Sachlage einen dringenden unverzüglichen Handlungsbedarf voraussetzt (im Anschluss an VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11.2.2005 - 11 S 1170/04 -, EZAR NF 094 Nr. 2).

2. Hat ein minderjähriger Ausländer nur geringe Integrationsleistungen im Bundesgebiet aufzuweisen und ist er noch stark in seinem Heimatstaat verwurzelt, so sind diese Umstände bei der Prüfung des besonderen Vollzugsinteresses auch vor dem Hintergrund des Kindeswohls mit zu berücksichtigen.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die im Rahmen der gerichtlichen Ermessensentscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO aufgrund einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage vorzunehmende Interessenabwägung ergibt, dass das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der nachträglichen Aufenthaltsbefristung das private Interesse der Antragsteller überwiegt, vorläufig bis zur endgültigen Klärung ihrer Rechtmäßigkeit von den Folgen des Vollzugs dieser Verfügung verschont zu bleiben.

1. a) Die materiellen Voraussetzungen für die nachträgliche Befristung des Aufenthalts sind gegeben.

Die eheliche Lebensgemeinschaft der Antragstellerin zu 1 mit ihrem deutschen Ehemann besteht, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, jedenfalls seit Februar 2007 nicht mehr.

b) Das der Antragsgegnerin damit nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG eröffnete Ermessen, die Befristung der erteilten Aufenthaltserlaubnisse nachträglich zu verkürzen, hat diese ermessensfehlerfrei ausgeübt (vgl. § 40 VwVfG, § 114 VwGO).

Die Antragstellerin zu 1 hat auch keinen Anspruch darauf, dass gemäß § 31 Abs. 2 Satz 1 AufenthG von der Voraussetzung des zweijährigen rechtmäßigen Bestandes der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet abgesehen wird. Denn an der dafür erforderlichen "besonderen Härte" fehlt es aller Voraussicht nach.

2. Die Sofortvollzugsanordnung erweist sich als formal beanstandungsfrei.

Die Sofortvollzugsanordnung der nachträglichen Fristverkürzung ist auch materiell nicht zu beanstanden. Für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit eines Verwaltungsaktes ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt. Der Rechtsschutzanspruch des Bürgers ist dabei umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt (vgl. BVerfGE 35, 382 <401 f.>; 69, 220 <227 f.>; BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 25.01.1996 - 2 BvR 2718/95 - AuAS 1996, 62 <63> und vom 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - NVwZ 2007, 946 = InfAuslR 2007, 275). Das besondere Vollzugsinteresse kann daher nicht damit begründet werden, dass ein besonderes öffentliches Interesse daran bestehe, Ausländer, die offensichtlich die Voraussetzungen eines Aufenthaltstitels nicht mehr erfüllen, alsbald zur Ausreise zu verpflichten. Die aufgrund summarischer Prüfung gewonnene gerichtliche Erkenntnis, dass die nachträgliche Fristverkürzung offensichtlich rechtmäßig ist, begründet daher als solche kein besonderes Vollzugsinteresse (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13.03.1997 - 13 S 1132/06 - VBlBW 1997, 390). Vielmehr bedarf es eines über die (selbst offensichtliche) Rechtmäßigkeit der nachträglichen Fristverkürzung eines Aufenthaltstitels hinausgehenden sonstigen Sofortvollzugsinteresses, das im Einzelfall und nach gegenwärtiger Sachlage einen dringenden unverzüglichen Handlungsbedarf voraussetzt (vgl. Senatsbeschluss vom 11.02.2005 - 11 S 1170/04 - EZAR NF 094 Nr. 2 - zum Widerruf eines Aufenthaltstitels).

Für die Annahme eines besonderen Vollzugsinteresses spricht weiter der bemerkenswert geringe Grad der Integration der Antragsteller im Bundesgebiet.

Auch der Antragsteller zu 2 weist nur unzureichende Integrationsleistungen auf.

Ob er in der Lage ist, die Hauptschule in Deutschland erfolgreich zu beenden, erscheint fraglich. Nachweise über die schulischen Leistungen wurden nicht vorgelegt. Letztlich kann jedoch offenbleiben, ob der Antragsteller zu 2 in der Lage wäre, einen Schulabschluss in Deutschland zu erlangen. Nachdem ihm unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt ein weiteres Aufenthaltsrecht in Deutschland zusteht, liegt es bei objektiver Betrachtung auch in seinem eigenen Interesse, die Reintegration in seinem Heimatland nicht weiter hinauszuzögern und die Schulzeit baldmöglichst in Russland zu einem Abschluss zu bringen. Aufgrund der Tatsache, dass der Antragsteller zu 2 den größten Teil seiner Schulzeit in Russland verbracht hat, erscheint ein Schulerfolg, der eine Grundlage für den Einstieg in das Berufsleben bietet, dort eher gewährleistet als in Deutschland. Die Gefahr einer weiteren Entwurzelung ist bei minderjährigen Ausländern vor dem Hintergrund des immer zu berücksichtigenden Kindeswohls durchaus in die Erwägungen einzustellen.

Unter Berücksichtigung der dargelegten Umstände des Einzelfalles ist das erforderliche besondere öffentliche Vollzugsinteresse vorliegend zu bejahen. Trägt ein Ausländer nicht oder nur unzureichend zu seiner Integration bei, so ist sein Interesse an einem vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet während des Rechtsmittelverfahrens geringer zu gewichten. Demgegenüber tritt in diesen Fällen der Gesetzeszweck der Begrenzung des Zuzugs (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) in den Vordergrund und vermag das besondere öffentliche Vollzugsinteresse zu begründen.