VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 30.11.2007 - 2 A 128/07 - asyl.net: M12305
https://www.asyl.net/rsdb/M12305
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für armenischen Christen aus der Provinz Dohuk, Nordirak.

 

Schlagwörter: Irak, Folgeantrag, Änderung der Sachlage, Armenier, Christen (armenisch-orthodoxe), Nordirak, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Existenzminimum, interne Fluchtalternative
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für armenischen Christen aus der Provinz Dohuk, Nordirak.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger haben einen Anspruch auf eine Verpflichtung der Beklagte zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Staates Irak (§ 113 Abs. 5 VwGO).

Die Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 VwVfG für die Durchführung eines Asylfolgeverfahrens liegen vor. Die Sachlage hat sich zugunsten der Kläger geändert, da sich die Situation der Christen und der armenischen Minderheit nach der Sturz Saddam Husseins im April 2003 stetig verschlechtert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG). Diese Umstände konnten die Kläger in ihrem schon vor dem Machtwechsel beendeten Asylerstverfahren nicht geltend machen (§ 51 Abs. 2 VwVfG). Der Folgeantrag ist auch innerhalb der Frist von drei Monaten nach § 51 Abs. 3 Satz 1 VwVfG gestellt worden, da sich die Lage der Christen und Armenier durch eine stetige Auswanderung bzw. Flucht dieser Minderheiten seit April 2003 kontinuierlich zugespitzt hat, weshalb den Kläger nicht vorgehalten werden kann, nicht beispielsweise schon drei, sechs oder zwölf Monate eher um eine Überprüfung der Rechtslage aufgrund objektiver Nachfluchtgründe in einem weiteren Asylverfahren gebeten zu haben. Jedenfalls waren sie dazu berechtigt, nachdem die Beklagte im Mai 2007 ihre Entscheidungspraxis bzgl. der religiösen Minderheiten geändert hatte.

Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG besteht, weil die Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in den Irak wegen ihrer armenischen Volkszugehörigkeit lebensbedrohlichen Gefahren durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt sind.

Zu der Lage der Armenier im Nordirak äußert sich das Institut für Nahost-Studien in dem Gutachten für das Verwaltungsgericht Köln vom 12.03.2007. Der Gutachter führt zwar zunächst aus, eine Verfolgung von Armeniern lasse sich in dem ihnen vorliegenden Material im Nordirak nicht darstellen. Er verweist dann aber darauf hin, es gebe im Nordirak nur sehr wenige Armenier, die "sehr allein" seien. In so einer isolierten Situation könne die Versuchung der "Mehrheitskurden", Übergriffe durchzuführen, größer sein als etwa im Rahmen einer städtisch-gemeindlichen Situation, in der eine bestimmte Familie nicht ganz allein dastehe. Armenier, die Angehörige "amerikanischer" Missionskirchen seien, hätten den Nordirak ohnehin schon verlassen. In diesem Sinne gab das Europäische Zentrum für kurdische Studien bereits in einem Gutachten für das VG Köln vom 07.03.2005 an, die armenische Gemeinschaft im kurdischen verwalteten Teil des Irak sei sehr klein. Die Kläger haben vorgetragen, in ihrem Dorf, das früher gemischt-ethnisch bewohnt gewesen sei, lebten jetzt keine Armenier mehr. Sie seien von den Kurden vertrieben worden. Das Gericht hält diese Angabe für realistisch. Für die Kläger, die früher von der Landwirtschaft (im wesentlichen Schafhaltung) und der Tätigkeit des Klägers zu 1. als LKW-Fahrer lebten, dürfte es unmöglich sein, in ihrem Heimatort mehr als neuneinhalb Jahre nach der Ausreise wieder Fuß zu fassen und sich eine Existenz aufzubauen. Der Druck der kurdischen Mehrheitsbevölkerung, dieses notfalls auch mit Gewalt zu verhindern, dürfte so groß sein, dass mit dem hier anzulegenden Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit von einem Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auszugehen ist. Aus dem gleichen Grund stehen andere Orte im Nordirak für eine "Ansiedlung" ebenfalls nicht zur Verfügung.

Insofern ist zu berücksichtigen, dass die Kläger als Armenier keine Kurden sind, weshalb ethnische Verfolgungsmotive in Betracht kommen (so allg. UNHCR, Hintergrundinformation zur Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten im Irak, Oktober 2005). Die Muttersprache der Kläger ist armenisch: sie sind als armenisch-orthodoxe Christen auch nicht Mitglieder der Kirchen der Chaldäer oder Assyrer, die im Nordirak keine Probleme haben (vgl. Institut für Nahost-Studien, Gutachten für VG Köln v. 12.03.2007, Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten für VG Köln v. 07.03.2005 u. VGH Mannheim v. 15.11.2006, UNHCR, Gutachten für VG Köln v. 07.04.2007 u. 28.07.2007). Die Armenier gehören nicht zu der alteingesessenen Bevölkerung im (Nord-) Irak, sondern sind überwiegend nach den Massakern und Vertreibungen in der Türkei 1915 - 1921 dorthin geflüchtet (Institut für Nahost-Studien, Gutachten für VG Köln v. 12.03.2007).

Die Kläger können voraussichtlich auch deshalb nicht ohne weiteres in den Nordirak zurückkehren, weil die Region Kurdistan-Irak durch neue Vorschriften den Zuzug aus dem übrigen Irak stark eingeschränkt hat. Zuwanderer müssen "kurdische Bürger" sein (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 19.10.2007). Daher sind mittlerweile verwandtschaftliche Beziehungen notwendig, um in die Kurdengebiete zu flüchten. Zehn irakische Provinzen, u.a. die Provinz Dohuk, haben ihre Grenzen für Binnenflüchtlinge geschlossen (Lagebericht a.a.O.). Diese Regelungen stehen vermutlich auch einer Rückkehr der Kläger aus dem Ausland entgegen, da sie nicht über verwandtschaftliche Beziehungen zum Nordirak verfügen (vgl. das Anhörungsprotokoll des Klägers zu 1. vom 27.09.2006 sowie zu den Möglichkeiten Einreisender aus dem Zentral- und Südirak, im Nordirak Wohnraum, Beschäftigung und Versorgung zu finden, UNHCR, Hinweise zu den Schutzbedürfnissen und Möglichkeiten der Rückkehr von Irakern, die sich außerhalb des Irak aufhalten v. 2.6.04.2007, B. 5. (i)). Ein Wohnsitzwechsel innerhalb des Irak oder des Nordirak ist ohne familiäre Anknüpfungspunkte nicht möglich (Institut für Nahost-Studien, damals Deutsches Orient-Institut, Gutachten für BayVG München v. 03.05.2006).

Im übrigen Gebiet des Irak, also im Zentral- und Südirak, steht den Klägern keine Fluchtalternative zur Verfügung, weil sie als Christen eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure befürchten müssen. Nach Auswertung von Berichten verschiedener Menschenrechtsorganisationen, dem UNHCR und kirchlicher Quellen geht das Auswärtige Amt in dem Lagebericht vom 19.10.2007 davon aus, die Situation der Christen im Zentral- und Südirak habe sich seit April 2003 gravierend verschlechtert. Die auf die Religionszugehörigkeit zielenden Übergriffe führten zu einer Flucht zahlloser Christen. Ursache sei die fortschreitende Islamisierung des Gesellschaft mit einer wachsenden Ausgrenzung von Angehörigen nicht unter dem Schutz der islamischen Religion stehender Glaubensrichtungen (s. im Einzelnen Lagebericht S. 21 f. sowie UNHCR, Hintergrundinformation zur Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten im Irak, Oktober 2005, Institut für Nahost-Studien v. 03.05.2006, a.a.O.).