OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 08.01.2008 - 2 M 332/07 - asyl.net: M12345
https://www.asyl.net/rsdb/M12345
Leitsatz:

Ist unklar, ob ein Ausländer seine Mitwirkungspflichten verletzt hat und ob daher die Einweisung in eine Aufnahmeeinrichtung rechtmäßig ist, fällt die Interessenabwägung im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Wohnsitzauflage zugunsten des Ausländers aus.

 

Schlagwörter: D (A), Ausreiseeinrichtung, Duldung, Auflage, Wohnsitzauflage, Ermessen, Beweislast, Sachaufklärung, Gemeinschaftsunterkünfte, Mitwirkungspflichten, Passersatzbeschaffung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Folgenabwägung
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; AufenthG § 61 Abs. 1 S. 2; AufenthG § 61 Abs. 2
Auszüge:

Ist unklar, ob ein Ausländer seine Mitwirkungspflichten verletzt hat und ob daher die Einweisung in eine Aufnahmeeinrichtung rechtmäßig ist, fällt die Interessenabwägung im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Wohnsitzauflage zugunsten des Ausländers aus.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Beschwerde hat Erfolg.

Das Interesse des Antragstellers, vom Vollzug der Verpflichtung zur Wohnsitznahme in der Ausreiseeinrichtung der Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber in Halberstadt (GU-ZASt) bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache verschont zu bleiben, überwiegt das öffentliche Interesse am Sofortvollzug dieser Zuweisungsentscheidung. Nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung ist offen, ob sich die Verfügung der Antragsgegnerin im Hauptsacheverfahren als rechtmäßig erweisen wird. Die danach im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung fällt zu Gunsten des Antragstellers aus.

Nach § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist der Aufenthalt eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers - wie dem Antragsteller - räumlich auf das Gebiet des Landes beschränkt. Nach § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG können weitere Bedingungen und Auflagen angeordnet werden. Daraus folgt insbesondere die Befugnis der Ausländerbehörden, vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer in Gemeinschaftsunterkünften, insbesondere Ausreiseeinrichtungen nach § 61 Abs. 2 AufenthG unterzubringen (vgl. Beschl. des Senats v. 27.07.2005 - 2 M 107105 -). Die Unterbringung in einer Ausreiseeinrichtung soll nach dem Willen des Gesetzgebers eine intensive, auf eine Lebensperspektive außerhalb des Bundesgebiets gerichtete psycho-soziale Betreuung ermöglichen, die zur Förderung der Bereitschaft zur freiwilligen Ausreise oder zur notwendigen Mitwirkung bei der Beschaffung von Heimreisedokumenten beitragen soll; darüber hinaus soll eine gezielte Beratung über die bestehenden Programme zur Förderung der freiwilligen Rückkehr stattfinden; zudem soll die Erreichbarkeit für Behörden und Gerichte vereinfacht und die Durchführung der Ausreise besser sichergestellt werden (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 15/420, S. 92). Die Verpflichtung zur Wohnsitznahme in einer derartigen zentralen Unterkunft findet dort ihre Grenzen, wo diese keinen sinnvollen Bezug mehr zu dem aufgezeigten Verfahrenszweck aufweist, in Schikane mit strafähnlichem Charakter ausartet, auf eine unzulässige Beugung des Willens hinausläuft oder den Betreffenden im Einzelfall unverhältnismäßig trifft (vgl. OVG RP, Beschl. v. 19. 11.2003 - 10 B 11432103 -, InfAuslR 2004, 255).

Die Antragsgegnerin hat die - in ihrem pflichtgemäßen Ermessen stehende - Zuweisungsentscheidung darauf gestützt, dass der Antragsteller seiner Pflicht zur Mitwirkung bei der Beschaffung eines Passes bzw. von Heimreisedokumenten ungenügend nachgekommen sei und auch die behördlichen Bemühungen zur Feststellung seiner Identität keinen Erfolg gehabt hätten, weil der Antragsteller behaupte, ugandischer Staatsangehöriger zu sein, was eindeutig durch die Botschaft Ugandas widerlegt worden sei.

Ob diese Ermessenserwägungen fehlerfrei sind, ist nach gegenwärtigem Sach- und Streitstand offen. Anders als die Antragsgegnerin und das Verwaltungsgericht es angenommen haben, steht bislang nicht fest, dass der Antragsteller nicht ugandischer Staatsangehöriger ist und er insoweit falsche Angaben in den beiden an die Botschaften von Kenia und Tansania gerichteten Anträgen auf Erteilung von Passersatzpapieren gemacht hat. Die Antragsgegnerin stützt sich auf das Ergebnis zweier Vorführungen des Antragstellers in der Botschaft Ugandas im Jahr 1996 und am 17.08.2004, bei denen Botschaftsvertreter angegeben hätten, dass der Antragsteller nicht ugandischer Staatsangehöriger sei. Der entsprechende Bearbeitungsvermerk der Grenzschutzdirektion Koblenz vom 20.08.2004 über den Verlauf der Befragung (Bl. 172 der Beiakte A) sowie das nachfolgend erstellte Sprachgutachten werfen allerdings - wie der Antragsteller zu Recht einwendet - Zweifel an der Verwertbarkeit des Ergebnisses der Vorführung vom 17.08.2004 auf.

Es obliegt nunmehr der Widerspruchsbehörde, im Widerspruchsverfahren diese Ungereimtheiten auszuräumen und ggfs. weitere Ermittlungen anzustellen.

Die hiernach im Rahmen des § 30 Abs. 5 VwGO zu treffende Interessenabwägung fällt zu Gunsten des Antragstellers aus; denn die Folgen, die er bei einem für ihn ungünstigen Ausgang des Eilverfahrens und späterem Obsiegen im Verfahren der Hauptsache zu gewärtigen hätte, wiegen schwerer als die Folgen, die eintreten, wenn ihm vorläufiger Rechtsschutz gewährt wird, sein Rechtsbehelf in der Hauptsache aber letztlich keinen Erfolg haben sollte. Dem Antragsteller wäre mit einer ihm günstigen Hauptsacheentscheidung möglicherweise nicht mehr gedient, da die Unterbringung eines Ausländers in einer Ausreiseeinrichtung in der Regel zeitlich befristet ist. Die Ausländerbehörden müssen in gewissen Zeitabständen prüfen, ob die Wohnsitzauflage aufgrund Zeitablaufs und/oder zwischenzeitlich veränderter Umstände noch einen sinnvollen Bezug zu einem zulässigen Verfahrenszweck, insbesondere dem der Identitätsfeststellung und Passbeschaffung aufweist (vgl. Urt. d. Senats v. 29.11.2007 - 2 L 223/06 -, m.w. Nachw.). So sieht auch Nr. 2.6 Satz 2 des Erlasses des Ministeriums des Innern des Landes Sachsen-Anhalt vom 16.02.2005 (Az.: 42.32-12231-64) vor, dass das Landesverwaltungsamt nach einem Jahr seit dem Zeitpunkt der Unterbringung in der Ausreiseeinrichtung in jedem Fall zu prüfen hat, ob die sonstigen in diesem Erlass aufgeführten Voraussetzungen noch vorliegen und - sollte dies nicht mehr der Fall sein - die zuständige Ausländerbehörde aufzufordern hat, die Wohnsitzverpflichtung in der Ausreiseverpflichtung unverzüglich zu beenden und die Rücknahme (anderweitige Unterbringung) zu veranlassen. Zumindest könnten die bis zu einer Hauptsacheentscheidung eingetretenen Folgen im persönlichen Umfeld des Antragstellers nicht mehr ohne weiteres rückgängig gemacht werden. Dem gegenüber können die Ausländerbehörden im Zeitraum bis zur Hauptsacheentscheidung weitere Ermittlungen zur Staatsangehörigkeit des Antragstellers auch dann vornehmen, wenn dieser sich wie bisher in der Gemeinschaftsunterkunft in Magdeburg aufhält. Abgesehen von dem - bislang nicht nachgewiesenen - fehlerhaften Ausfüllen der Passersatzanträge hat der Antragsteller die von der Antragsgegnerin geforderten Mitwirkungshandlungen zur Feststellung seiner Identität (Teilnahme an Botschaftsvorführungen und an der Sprachanalyse) - letztlich - vorgenommen.