OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 17.10.2007 - 2 A 177/06.A - asyl.net: M12352
https://www.asyl.net/rsdb/M12352
Leitsatz:
Schlagwörter: Iran, exilpolitische Betätigung, Nachfluchtgründe, Oppositionelle, Frauen, Frauenrechtlerin, Zeitschriften, Frauen auf dem Weg in die Freiheit, Internet, Hambastegy, Vereinigung zur Verteidigung der Menschenrechte im Iran e.V., VVM-Iran, Unterschriftensammlung, One Million Signatures Demanding Changes to Discriminatory Laws, Überwachung im Aufnahmeland, Antragstellung als Asylgrund, Auslandsaufenthalt
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die Berufung ist unbegründet.

Die Klägerin hat ein Vorfluchtgeschehen nicht glaubhaft dargelegt.

Der Klägerin steht jedoch Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG wegen ihrer politischen Nachfluchtaktivitäten zu.

Aus den Nachfluchtaktivitäten der Klägerin, insbesondere ihrem engagierten Einsatz für eine Verbesserung der rechtlichen Situation der Frauen im Iran, ergibt sich jedoch eine beachtliche Verfolgungsgefahr.

Der Senat hat in Bezug auf den Iran in Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung entschieden, dass eine Rückkehrgefährdung für solche Personen besteht, die nicht lediglich als bloße Mitläufer bei Veranstaltungen einer Oppositionsgruppe in Erscheinung getreten sind, sondern durch ihr Engagement und die von Ihnen entfalteten Aktivitäten aus der Masse oppositioneller Iraner herausgetreten sind, sich also durch ihre Exilaktivitäten exponiert haben und als ernsthafte und gefährliche Regimegegner erscheinen (vgl. Urteile vom 24.11.2004 – Az.: 2 A 275/03.A und 2 A 278/03.A und Urteile vom 08.12.2004 – 2 A 276/03.A und 2 A 277/03.A jeweils mit weiteren Nachweisen zur obergerichtlichen Rechtsprechung).

Die Klägerin hat sich mit großem Engagement in vielfältiger Weise für eine Verbesserung der rechtlichen Situation der Frauen im Iran eingesetzt und dabei das iranische Regime scharf kritisiert und dessen Beseitigung gefordert. Sie hat die Zeitung "Frauen auf dem Weg in die Freiheit" gegründet, von der seit Mai 2005 zehn Ausgaben erschienen sind. In den vorgelegten Exemplaren der Zeitschrift wird die Klägerin auf dem Deckblatt unter "Chef Redaktion" aufgeführt. Nach der von ihr eingereichten Aufstellung hat sie in jeder Ausgabe Artikel veröffentlicht. In ihren Artikeln prangert sie die rechtliche Situation der Frauen im Iran an, spricht u. a. von "Terroristen an der Spitze der Macht im Iran" und fordert die Frauen dazu auf, sich gegen das bestehende islamische Regime zu vereinigen und Aktivitäten für den Sturz des Regimes zu entfalten.

Darüber hinaus ist die Klägerin auch bei der Zeitung "Hambastegy" an maßgeblicher Stelle für Frauenfragen tätig. Sie gehört dem Redaktionsteam dieser Zeitschrift an und betreut das Ressort "Rechte der Frauen". Sie hat selbst in der Zeitschrift eine Vielzahl von Artikeln geschrieben, in denen sie das iranische Regime massiv attackiert und dessen Sturz fordert.

Auch über die Vereinigung zur Verteidigung der Menschenrechte im Iran e. V. (VVM-Iran) hat sich die Klägerin für eine Veränderung der Situation der Frauen im Iran eingesetzt.

Schließlich – und nicht zuletzt – hat die Klägerin mit großem Einsatz die Kampagne "One Million Signatures Demanding Changes to Discriminatory Laws" unterstützt. Mit dieser Kampagne sammelt die iranische Frauenbewegung weltweit eine Million Unterschriften, die sodann den Abgeordneten des iranischen Parlaments übergeben werden und diese veranlassen sollen, die Gesetze zu ändern. Die Kampagne, die ausschließlich über das Internet agiert, hat die Klägerin zur Überzeugung des Senats in Deutschland maßgeblich vorangebracht. Sie hat auf Seminaren, Konferenzen und anderen Veranstaltungen in Hannover, Dortmund, Hamburg, Essen und weiteren Städten Unterschriften gesammelt und auch in Reden für diese Kampagne geworben. Die eingesammelten Unterschriften hat sie eingescannt und an die zuständige E-Mail-Adresse in Teheran verschickt. Im Internet hat die Klägerin mit einem Bild von sich über ihre Unterschriftensammlung in Deutschland berichtet und für diese Kampagne geworben.

Der Senat hat bereits im Urteil vom 24.11.2004 (2 A 476/03.A) ausgeführt, dass die iranischen Stellen nach den Erkenntnisquellen einen erheblichen Aufwand betreiben, um die Aktivitäten oppositioneller Gruppen zu erfassen und dass eine intensive Überwachung stattfindet. Das hat sich nicht geändert. Auch im jüngsten Lagebericht vom 4. Juli 2007 betont das Auswärtige Amt, es sei davon auszugehen, dass iranische Stellen die im Ausland tätigen Oppositionsgruppen genau beobachten. Demnach ist anzunehmen, dass die Aktivitäten der Klägerin den iranischen Stellen bekannt sind.

Insbesondere aufgrund der Art und des Ausmaßes ihrer Aktivitäten sowie der Intensität ihres Engagements werden die iranischen Stellen die Klägerin als ernstzunehmende und gefährliche Regimegegnerin einstufen. In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, dass die Aktivitäten der Klägerin einen unmittelbaren Bezug zur inneriranischen Frauenbewegung nahe legen und nicht auf den Bereich des (westlichen) Auslands beschränkt erscheinen. Das gilt für die Kampagne zur Sammlung von einer Million Unterschriften, die von der iranischen Frauenbewegung angeführt wird. Zudem ist den Erkenntnismaterialien zu entnehmen, dass sich die Situation für Personen, die sich für die Rechte der Frauen im Iran einsetzen, in letzter Zeit erkennbar verschärft hat. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 04.07.2007 wurden im Zuge verschiedener Kundgebungen zum internationalen Frauentag am 08.03.2007 sowie im Zuge der Kampagne "One Million Signatures Demanding Changes to Discriminatory Laws" Journalistinnen und Frauenrechtsaktivistinnen verhaftet und vom Teheraner Revolutionsgericht wegen "Gefährdung der nationalen Sicherheit" zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt (S. 12). Weiter wird im Lagebericht vom 04.07.2007 mitgeteilt, dass die Polizei bei zwei Frauendemonstrationen (am Internationalen Frauentag 2006 und am 12.06.2006) gewaltsam eingegriffen habe. Bei der Demonstration am 12.06.2006 sei die Polizei mit äußerster Härte gegen die Demonstranten vorgegangen und habe rund 40 Frauen und 30 Männer festgenommen. Am 04.03.2007 hätten einige der Frauen vor Gericht gestanden. Vor dem Gericht sei es zu erneuten Demonstrationen gekommen, die von Sicherheitskräften niedergeschlagen worden seien. Zumindest vier Frauen seien zu Haftstrafen zwischen 2 und 4 Jahren verurteilt worden (S. 15).

Im Jahresbericht 2007 von ai (Zeitraum 01.01. bis 31.12.2006) ist von einer Verschlechterung der Menschenrechtslage im Iran die Rede. Die Sicherheitskräfte hätten im März und im Juni in Teheran Demonstrationen für die Beendigung der rechtlichen Diskriminierung der Frauen gewaltsam aufgelöst. Dabei hätten einige der Teilnehmerinnen Verletzungen davongetragen. Im August hätten Frauenrechtlerinnen eine Kampagne mit dem Ziel gestartet, eine Million Unterschriften unter eine Petition zu sammeln, um ihrer Forderung nach gleichen Rechten für Frauen Nachdruck zu verleihen.

Das Kompetenzzentrum Orient-Okzident, Mainz (Dr. T.) teilt in mehreren Auskünften mit, man könne prinzipiell sagen, dass die iranischen Behörden im Moment schärfer gegenüber rückkehrenden Frauen agieren als gegenüber Männern. Seit dem 19.05.2006 existiere ein vom iranischen Präsidenten Ahmandinejad eingerichteter "Höchster Rat der Kulturrevolution für Sitte und Bekleidung", der die individuelle Lebensführung auch im Exil überprüfe (Auskunft vom 30.10.2006 an VG Wiesbaden, vom 17.11.2006 an VG Hamburg und vom 20.11.2006 an VG Wiesbaden).

Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisquellen hält es der Senat für beachtlich wahrscheinlich, dass die iranischen Stellen im Falle der Klägerin nicht von einer Verfolgung absehen werden. Der Klägerin ist deshalb Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG zu gewähren.