"Sippenhaft" bei Altfallregelung gem. § 104 a Abs. 3 AufenthG ist verfassungswidrig.
"Sippenhaft" bei Altfallregelung gem. § 104 a Abs. 3 AufenthG ist verfassungswidrig.
(Leitsatz der Redaktion)
Nach den getroffenen Feststellungen hat sich der Angeklagte gemeinsam mit den ehemals Mitangeklagten ... und ... einer gefährlichen Körperverletzung gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 4, 25 II StGB strafbar gemacht.
1. Das Gericht hatte auf den zum Tatzeitpunkt 16 1/2-jährigen Angeklagten gemäß §§ 1, 3 JGG Jugendstrafrecht in Anwendung zu bringen und mit der Verurteilung des Jugendschöffengerichts vom 11.10.2006 gemäß § 31 Abs. 2 JGG einheitlich auf eine Maßnahme oder Jugendstrafe zu erkennen.
2. Soweit die Staatsanwaltschaft im Rahmen ihres Verurteilungsantrages die Verhängung einer Einheitsjugendstrafe in Höhe von 10 Monaten, ausgesetzt zur Bewährung, beantragt hat, war davon abgesehen, dass das Gericht schädliche Neigungen nicht mehr feststellen konnte, aber auch aus weiteren hilfsweise darzulegenden Gründen nicht zu entsprechen.
So hätte sich das Gericht vorliegend nicht in die Lage versetzt gesehen, gegen den Angeklagten eine Einheitsjugendstrafe gemäß § 31 Abs. 2 JGG zu verhängen. Nach dem Willen des Gesetzgebers darf eine Jugendstrafe grundsätzlich dann nicht verhängt werden, wenn sie zu schweren Schäden in der Entwicklung des jungen Menschen führen würde. Wenn aber die Verhängung einer Jugendstrafe erzieherisch begründet werden muss, dann spielt es immer eine Rolle, welche Wirkung die Verhängung derselben für den jeweiligen Angeklagten haben wird. Hierbei hätte das Gericht berücksichtigen müssen, dass der Angeklagte bereits durch die gegen ihn im Oktober 2006 verhängte Jugendstrafe eine im Verhältnis zu vergleichbaren Sanktionen bei nicht unter ausländerrechtlichen Duldung stehenden jugendlichen Straftätern außerordentliche und nach Auffassung des Gerichts verfassungswidrige Härte erlitten hat. Nach dem Erziehungsgedanken des Jugendgerichtsgesetzes muss eine jugendrichterliche Sanktion erzieherisch gestaltet werden. Die Verhängung einer Jugendstrafe, die damit verbunden ist, dass einer gesamten Familie die Möglichkeit unter die Bleiberechtsregelung zu fallen, genommen wird, kann nicht mehr als erzieherisch positiv wirksam für den Jugendlichen angesehen werden. Obwohl sie bei dem Angeklagten nicht direkt kontraproduktiv wirkte, hätte sie zur Überzeugung des Gerichts auch negative Wirkung entfalten können. Ein Jugendlicher, der damit leben muss, dass sein Verhalten seiner gesamten Familie die Möglichkeit auf Aufenthalt, Zukunftsorientierung und Arbeit für den Vater nehmen kann, ist psychisch enorm belastet. Er könnte gerade aufgrund dieser enormen psychischen Drucksituation erneut Straftaten begehen. Abgesehen hiervon wäre er nicht nur vorüber gehend psychisch belastet, sondern ein Leben lang. Die Folgen, nämlich der Umstand, dass seine gesamte Familie nicht mehr unter die Bleiberechtsregelung fällt ist so erheblich, dass eine Jugendstrafe gegen geduldete jugendliche Familienmitglieder nur noch in absoluten Ausnahmefällen mithin bei schwersten Verbrechen verhängt werden kann. Die Bleiberechtsregelung - soweit sie jugendrichterliche Verfahren berührt - hätte damit kontraproduktive Wirkung.
Die in der so genannten Altfallregelung unter § 104 a Abs. 3 durch den Gesetzgeber eingeführte und bereits in der Verwaltungspraxis praktizierte Mithaftung weiterer Familienmitglieder bei Verurteilung zu Jugendstrafe, hat jedes Gericht zu beachten. Ebenso den sich aus dem Strafgesetzbuch ergebenden Grundsatz, dass bei jeder Strafzumessung die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters zu erwarten sind, Berücksichtigung finden müssen (§ 46 Abs. 1 StGB). Es entspricht allgemeiner Strafzumessungslehre, dass auch immer die Folgen einer Strafe für das Umfeld des Angeklagten mit zu berücksichtigen sind. Jugendgerichte, die diese Grundsätze ernst zu nehmen haben, dürften tatsächlich in Zukunft nur noch bei schwersten strafrechtlichen Verhalten von unter Duldung stehenden Jugendlichen das schärfste Mittel des Jugendgerichtsgesetzes, nämlich die Jugendstrafe, verhängen.
Der Gesetzgeber hätte mithin durch die Einführung der Haftung der Familie und der Absicht junge Menschen, die unter Duldung stehen, letztlich strenger zu sanktionieren, eine kontraproduktive Regelung herbeigeführt. Der bisweilen frühzeitige Schutz der Bevölkerung eben auch durch Verhängung von Jugendstrafen gegen jugendliche Ausländer könnte hierdurch in sein Gegenteil verkehrt werden. Dem Jugendschöffengericht Bernau erscheint es insoweit denkbar, dass der Gesetzgeber die hier aufgeworfene Frage jedenfalls im Zusammenhang mit der Arbeit Jugendgerichte nicht gesehen hat.
3. Sofern das Gericht die Auffassung der Staatsanwaltschaft geteilt hätte, dass eine Einheitsjugendstrafe zu verhängen gewesen wäre, hätte das Gericht vorliegend gemäß Artikel 100 Grundgesetz das Verfahren aussetzen und dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorlegen müssen.
Denn das Gericht hätte sich außerstande gesehen gegen den Angeklagten selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen eine Jugendstrafe zu verhängen. Von einem Jugendgericht zu erwarten, dass es letztlich eine Vorentscheidung zur Abschiebung einer gesamten Familie trifft, die nicht einmal vor Gericht steht, die letztlich keinerlei Schuld auf sich geladen hat, dürfte gegen elementare Grundsätze der Verfassung verstoßen.
Das Gericht hält die Altfallregelung hinsichtlich der mit ihr gewollten Auswirkungen auf sämtliche weiteren Mitglieder der Familie für verfassungswidrig und hätte nur dann eine Jugendstrafe verhängen können, sofern das Bundesverfassungsgericht diese Regelung nach einer Vorlage gleichfalls für verfassungswidrig oder verfassungsgemäß erklärt hätte. Dann nämlich hätte sich das Gericht nicht mehr an den nach hiesiger Auffassung dargestellten verfassungswidrigen Folgen für den Angeklagten und seiner Familie orientieren müssen.
Das Amtsgericht Bernau - Jugendschöffengericht - ist überzeugt von der Verfassungswidrigkeit der so genannten Altfallregelung gem. § 104 a Abs. 3 soweit bei Verhängung von Jugendstrafe hierdurch ein Ausschlusstatbestand für sämtliche weitere Familienmitglieder des Angeklagten herbei geführt werden soll. Diese Regelung verstößt zur sicheren Überzeugung des Gerichts gegen das Grundrecht auf Menschenwürde gemäß Artikel 1 GG, das Differenzierungsverbot gemäß Artikel 3 Abs. 3 Satz 1 GG und stellt darüber hinaus einen Verstoß gegen Artikel 97 Grundgesetz dar.
a) Verstoß gegen Artikel 1 GG (Menschenwürde)
Das Amtsgericht Bernau - Jugendschöffengericht - ist davon überzeugt, dass die hier in Frage stehende Altfallregelung zunächst den Angeklagten bereits zum bloßen Objekt degradiert und damit seine Menschenwürde, die selbstverständlich auch ein unter Duldung stehender Jugendlicher hat, verletzt. Denn sofern das Gericht gegen den Angeklagten eine Jugendstrafe verhängt hätte, hätte dies für den Angeklagten die Wirkung zeitigen können, dass seine Familie nicht der Altfallregelung unterfällt und damit aus der Bundesrepublik Deutschland ggf. hätte abgeschoben werden können. Er wäre damit als zum Tatzeitpunkt 16-jähriger dafür verantwortlich gemacht worden, dass seinen jüngeren Geschwistern wie auch seinen Eltern Rechte in der Bundesrepublik Deutschland genommen worden wären. Seinen hier integrierten Geschwistern hätte er darüber hinaus bei Verhängung einer Jugendstrafe die Möglichkeit auf eine Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland genommen. Nach Auffassung des Gerichts hat dies nichts mehr mit einer schuldangemessenen Strafe im Sinne eines Schuldstrafrechtes zu tun. Vielmehr sieht das Gericht die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze, dass eine verhängte Strafe nicht unmenschlich oder erniedrigend sein darf, vorliegend im Falle der Verhängung einer Jugendstrafe für verletzt an. Denn die Verhängung der Jugendstrafe gegen den hier Angeklagten kann immer nur im Zusammenhang mit der sich hieraus resultierenden Folge, nämlich des Ausschlussgrundes im Rahmen der Altfallregelung gem § 104 a Abs. 3 gesehen werden. Einem 16-jährigen aufzuerlegen, diese Verantwortung für das Schicksal seiner Eltern und Geschwister zu tragen, verstößt gegen Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz, da es zur Auffassung des Gerichts unmenschlich und auch erniedrigend ist. Soweit darüber hinaus durch die Verhängung einer Jugendstrafe mittelbar eben nicht nur der Angeklagte - wie zuvor beschrieben - sondern eben auch seine Eltern und Geschwister betroffen sind, würde die Verhängung einer Jugendstrafe auch gegen deren Recht auf Menschenwürde verstoßen. Denn das Gericht würde mittelbar über das Wohl und Wehe von Menschen urteilen, die nicht vor Gericht gestanden, keine Schuld auf sich geladen und darüber hinaus hinsichtlich der Geschwister noch nicht einmal das elementare Recht gehabt hätten, angehört zu werden.
Würde das Gericht bei Vorliegen der Voraussetzungen eine Jugendstrafe gegen den Angeklagten verhängen, würde es, da es von der Verfassungswidrigkeit der Altfallregelung überzeugt ist, gleichfalls gegen Artikel 1 Nr. 1 GG verstoßen. Denn die Menschenwürde zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt, mithin auch Verpflichtung des Jugendschöffengerichts Bernau.
b) Verstoß gegen Artikel 3 Abs. 3 (Diskriminierungsverbot)
Artikel 3 Abs. 3 GG verbietet dem Gesetzgeber, Gesichtspunkte wie Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiöse oder politische Anschauung als Differenzierungskriterien zu verwenden. Hierbei bezieht sich der Begriff der Abstammung einfach auf die biologische Beziehung zu den Vorfahren. Mithin zeichnet der Begriff der Abstammung letztlich Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Menschen. So bedeutet das Diskriminierungsverbot im Hinblick auf die Abstammung, dass Kinder von Protestanten, Katholiken, Sinti und Roma, Juden, politischen Gegnern, Nationalsozialisten, Kommunisten oder von Straftätern, wie auch von Flüchtlingen eben wegen dieser Abstammung bzw. wegen dieses Verwandtschaftsverhältnisses keine Benachteiligungen erdulden dürfen (vgl. v. Mangold-Klein-Stark, Kommentar zum Grundgesetz Band 1, 5. Aufl. 2005, zu Artikel 3 Abs. 3 Rd. 385). Im Umkehrschluss dürfen auch umgekehrt Eltern oder Geschwister lediglich aufgrund ihres Verwandtschaftsverhältnisses keine Nachteile erdulden. In den Kommentaren zum Grundgesetz wie zum Beispiel bei Maunz-Dürig zu Artikel 3 wird eine Differenzierung im Hinblick auf die Abstammung regelmäßig als so genannte "Sippenhaft" bezeichnet (vgl. u.a. Maunz-Dürig Kommentar zum Grundgesetz, 2007 zu Artikel 3 Abs. 3 GG Rd. 46).
Soweit der Gesetzgeber mithin lediglich aufgrund der Abstammung ungleiche Folgen herbeiführt, so verstößt dies nach Auffassung des Gerichts gegen das Diskriminierungsverbot des Artikel 3 Abs. 3 Grundgesetz. So wird zunächst der Angeklagte im Falle einer Verhängung einer Jugendstrafe gegen ihn aufgrund der mittelbaren Folge durch die dargestellte Altfallregelung ungleich härter sanktioniert als vergleichbare Täter aus deutschen Familien oder mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis versehener ausländischer Familien. Eine Jugendstrafe bedeutet für ihn - wie oben dargelegt - seine engsten Familienmitglieder enorm in Mitleidenschaft zu ziehen. Es bedeutet weiter, einem 16-jährigen die Verantwortung für das Schicksal seiner gesamten Familie aufzuerlegen. Dies alleine aufgrund des Umstandes, dass er in eine Familie hinein geboren wurde, die seit über 12 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland lediglich geduldet wird. Weswegen der Gesetzgeber vorliegend zwischen unter Duldung stehenden jugendlichen Delinquenten und deutschen jugendlichen Delinquenten unterscheidet, vermag das Gericht nicht zu erkennen. Da diese Ungleichbehandlung einzig und allein auf der Abstammung beruht, ist sie damit als verfassungswidrig im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot zu werten.
Soweit das Gericht schließlich unabhängig von der Folgenbetrachtung für den Angeklagten Jugendstrafe verhängt hätte, würde es mittelbar dafür verantwortlich zeichnen, dass eine mit dem Diskriminierungsverbot aus Artikel 3 Abs. 3 Satz 1 GG verfassungswidrige Folge herbeigeführt würde. So hätte das Gericht mittelbar auch über völlig unschuldige Geschwister des Angeklagten und seine Eltern und deren Zukunft zu entscheiden. Dies alleine aufgrund der Abstammung bzw. des Verwandtschaftsverhältnisses der zuvor genannten Personen. Es würde die Eltern und Geschwister des Angeklagten faktisch mittelbar diskriminieren.
c) Verstoß gegen Artikel 97 Grundgesetz (richterliche Unabhängigkeit)
Die vorstehend angeführten Teile der Bleiberechtsregelung verletzen das Gericht in seiner durch Artikel 97 Abs. 1 GG garantierten sachlichen Unabhängigkeit.
Die grundgesetzlich garantierte Freiheit des Gerichts, von Einflüssen außerhalb der Umstände des abzuurteilenden Sachverhalts freigestellt zu werden, wird jedoch dann verletzt, wenn Exekutive und Legislative Regelungen treffen, die geeignet sind, rechts- und verfassungswidrige Wirkungen zu erzielen, die das Gericht darin beschränken oder daran hindern, eine dem einzelnen Sachverhalt angemessene Rechtsfolge zu setzen. Solche Wirkungen liegen regelmäßig dann vor, wenn gesetzgeberisches oder verwaltungsrechtliches Handeln dazu führt, dass Schuldspruch und Strafe quasi automatisch nicht nur bezogen auf den konkreten Angeklagten, sondern darüber hinaus bei an der abzuurteilenden Tat unbeteiligten Dritten zusätzliche, rechts- und verfassungswidrige Rechtsfolgen, die in keiner Beziehung zum Angeklagten und seiner Tat stehen, hervor rufen. Das Gericht ist dann nicht mehr frei, eine allein auf die Tat bezogene angemessene Entscheidung zu treffen. Jedoch wird das Gericht nicht umhin kommen und ist darüber hinaus dazu verpflichtet, dabei stets auch die weiteren Rechtsfolgen außerhalb des abzuurteilenden Sachverhalts zu beachten. Es kann keine tat- und schuldangemessene Entscheidung mehr getroffen werden, um eine rechts- und verfassungswidrige Rechtsfolge zu vermeiden. Dies ist im Falle der vorstehend in dieses Verfahren hinein wirkenden angeführten Altfallregelung gegeben. Selbst wenn - wie von der Staatsanwaltschaft vorliegend beantragt, die Verhängung von Jugendstrafe angemessen erscheinen würde, so könnte das Gericht diese nicht aussprechen, ohne dass damit die übrigen Familienmitglieder gleichzeitig mit bestraft würden. Diese mit den Prinzipien des Diskriminierungsverbotes und der Menschenwürde nicht in Einklang zu bringende mittelbare Rechtsfolge einer Entscheidung führt zur Auffassung des Jugendschöffengerichts Bernau dazu, dass das Gericht, selbst wenn es wollte und müsste, an einer unabhängigen Rechtsprechung, die von Tat- und Schuldunrecht geprägt ist, gehindert würde.
Obwohl das Gericht, wie oben ausgeführt, die auch in dieses Verfahren hinein wirkende Altfallregelung im dargestellten Teil für verfassungswidrig erachtet, hat es sich allerdings vorliegend nicht für befugt angesehen, das Verfahren zuvor gemäß Artikel 100 GG dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen. Denn vorliegend kam es zunächst jedenfalls in diesem Verfahren nicht auf die Frage der Verfassungswidrigkeit an, da das Gericht die Voraussetzungen für Verhängung von Jugendstrafe nicht feststellen konnte und bereits deshalb die Verhängung derselben nicht erforderlich war.