VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 14.01.2008 - A 11 K 4866/07 - asyl.net: M12363
https://www.asyl.net/rsdb/M12363
Leitsatz:

Keine nachhaltige Verbesserung der Menschenrechtslage in der Türkei, die den Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung rechtfertigen würde (hier: Verdacht der Unterstützung der PKK).

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Verdacht der Unterstützung, PKK, Kurden, Änderung der Sachlage, Menschenrechtslage, Reformen, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Grenzkontrollen, Folter, Misshandlungen, Situation bei Rückkehr, Rechtskraft, Bindungswirkung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; VwGO § 121
Auszüge:

Keine nachhaltige Verbesserung der Menschenrechtslage in der Türkei, die den Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung rechtfertigen würde (hier: Verdacht der Unterstützung der PKK).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Nach diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf der Flüchtlingseigenschaft nicht vor. Seit dem rechtskräftigen Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 20.07.1998 sind keine Änderungen der maßgeblichen Verhältnisse in der Weise eingetreten, dass Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können.

Dem Kläger wurde die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, da ihm wegen des Verdachts der PKK-Unterstützung unmittelbare politische Verfolgung gedroht hat.

Das Bundesamt hat in dem angefochtenen Widerrufsbescheid ausgeführt, die Sachlage in der Türkei habe sich grundlegend geändert; die Türkei habe erhebliche Fortschritte hinsichtlich der Wahrung der Menschenrechte gemacht. Konkrete Bezüge auf den Fall des Klägers in seiner speziellen Situation enthält die Begründung des angefochtenen Widerrufsbescheids jedoch nicht.

Eine durch Umsturz hervorgerufene Verbesserung der politischen Verhältnisse im Sinne eines Systemwechsels - eine solche Veränderung hatte dem Gesetzgeber in erster Linie vor Augen gestanden (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.07.2006 a.a.O.) - ist in der Türkei unzweifelhaft nicht eingetreten.

Zwar haben sich die Verhältnisse in der Türkei seit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verändert. Im Zuge der Bemühungen, der Europäischen Union beizutreten, hat das türkische Parlament bislang acht Gesetzespakete verabschiedet (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 25.10.2007).

Auch wenn mit Inkrafttreten des achten Gesetzespakets am 01.06.2005 die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt hat, hat der Mentalitätswandel in Verwaltung und Justiz mit dem gesetzgeberischen Tempo jedoch nicht Schritt halten können (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.01.2007). So sind im Hinblick auf rechtsstaatliche Strukturen und die Einhaltung von Menschenrechten nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen. Minderheitenschutz, Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit sind nur eingeschränkt gewährleistet. Ein allgemeiner gesellschaftlicher Bewusstseinswandel und eine praktische Umsetzung der Reformen in der Türkei ist noch nicht in einer Weise erfolgt, die es rechtfertigen könnte, von einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage - auch im Hinblick auf das Verhalten der Sicherheitsorgane - auszugehen. Dies führt dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den rechtlichen Rahmenbedingungen zurückbleibt. Trotz der von der türkischen Regierung proklamierten "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter und menschenrechtswidrigen Maßnahmen in Polizeihaft kommt es nach wie vor zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, insbesondere in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams, ohne dass es dem türkischen Staat bislang gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007; Kaya, Gutachten vom 25.10.2004 an OVG Münster; Gutachten vom 10.09.2005 an VG Magdeburg und vom 08.08.2005 an VG Sigmaringen; Oberdiek, Gutachten vom 02.08.2005 an VG Sigmaringen; Aydin, Gutachten vom 25.06.2005 an VG Sigmaringen; ai, Stellungnahme vom 20.09.2005 an VG Sigmaringen; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Zur aktuellen Situation - Mai 2006 und Oktober 2007). Zwar ist die Zahl der Fälle schwerer Folter auf Polizeiwachen im Vergleich zur Situation in den Jahren vor 2001 deutlich zurückgegangen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Im Jahr 2007 wurde jedoch im Vergleich zum Vorjahr erneut ein Anstieg um 40 Prozent der gemeldeten Fälle von Folter und Misshandlung festgestellt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Zur aktuellen Situation - Oktober 2007). Der EU-Fortschrittsbericht der Kommission vom 09.11.2006 attestiert der Türkei zwar Fortschritte auch im Bereich der Justiz und der Menschenrechte. Die Türkei müsse aber in einigen Bereichen die Menschenrechtslage wesentlich verbessern. Noch immer werde - insbesondere außerhalb regulärer Haft - in der Türkei gefoltert. Die Einhaltung der Menschen- und Minderheitenrechte besonders in den Kurdengebieten werde nach wie vor nicht europäischen Maßstäben gerecht.

Seit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK im Juni 2004 kam es vermehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen türkischem Militär und der PKK-Guerilla, die seit Mai 2005 weiter eskaliert sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Eine weitere Verschärfung der Situation im Südosten der Türkei wurde durch ein von Gendarmerie-Angehörigen verübtes Bombenattentat auf einen kurdischen Buchladen in der Stadt Semdinli am 09.11.2005 ausgelöst (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Im Anschluss daran kam es zu zahlreichen gewaltsamen Protesten der kurdischen Bevölkerung in der Region (vgl. SZ vom 22.11.2005). Ein vorläufiger Höhepunkt der jüngsten Spannungen wurde nach den friedlich verlaufenen Newroz-Feierlichkeiten erreicht, als es zwischen dem 28. und 31.03.2006 in Diyarbakir und anderen Orten im Südosten der Türkei zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen oft mehreren Tausend meist jugendlichen Demonstranten sowie türkischen Sicherheitskräften kam (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007).

In Reaktion auf diese Zunahme von Spannungen im Südosten der Türkei hat das türkische Parlament am 29.06.2006 das Anti-Terror-Gesetz verschärft.

Dementsprechend hat sich das Reformtempo seit Anfang 2005 deutlich verlangsamt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). In einem Memorandum des Generalstabsamtes vom 24.04.2007 haben sich die türkischen Streitkräfte gegenüber dem EU-Beitritt der Türkei negativ positioniert; dies und die intensivierten militärischen Auseinandersetzungen in der Türkei haben die Sicherheitskräfte ermutigt, die Reformgesetze zu missachten (vgl. Kaya, Gutachten vom 20.06.2007 an OVG Bautzen). Angesichts dieser Entwicklung ist völlig offen, ob der begonnene legislative Reformprozess, der sich im Wesentlichen auf die bisherigen Bemühungen der Türkei auf Aufnahme in die Europäische Union stützt, in Zukunft konsequent fortgeführt und insbesondere auch umgesetzt wird.

Es kann auch nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Kläger aufgrund des Verdachts, die PKK unterstützt zu haben, bei einer Einreise in die Türkei einem intensiven Verhör unterzogen wird und dabei Gefahr läuft, misshandelt oder gefoltert zu werden (vgl. Kaya, Gutachten vom 08.08.2005 an VG Sigmaringen und vom 09.08.2006 an VG Berlin). Diese Gefährdungssituation wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass dem Auswärtigen Amt seit Jahren kein Fall bekannt geworden ist, in dem ein aus der Bundesrepublik in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Für die Einschätzung der Gefährdung von vorverfolgt ausgereisten Personen ist diese Feststellung des Auswärtigen Amtes nicht aussagekräftig, da unter den abgeschobenen oder zurückgekehrten Personen sich kein Mensch befand, der der Zugehörigkeit zur PKK oder einer anderen illegalen Organisation verdächtigt wurde (vgl. Kaya, Gutachten vom 08.08.2005 an VG Sigmaringen). Im Übrigen ist nicht auszuschließen, dass Personen, auf die ein Verdacht der Unterstützung der PKK gefallen ist, nach wie vor im Innern der Türkei einer Folter in Form von physischen und psychischen Zwängen unterzogen werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 23.02.2006; Taylan, Gutachten vom 29.05.2006 an VG Wiesbaden; Kaya, Gutachten vom 10.09.2005 an VG Magdeburg).

Nach allem ist noch keine erhebliche und dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei eingetreten, so dass die Voraussetzungen für die seinerzeit erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht weggefallen sind (ebenso die in den letzten Monaten bekanntgewordenen Gerichtsentscheidungen: u.a. OVG Bautzen, Urt. v. 23.03.2007 - A 3 B 372/05 -; VG Ansbach, Urt. v. 24.07.2007 - AN 1 K 07.30135 - Juris - und Urt. v. 20.03.2007 - AN 1 K 06.30862 - Juris -; VG Münster, Urt. v. 08.03.2007 - 3 K 2492/05.A - Juris -; VG Düsseldorf, Urt. v. 22.03.2007 - 4 K 172/07.A - Juris - und Urt. v. 05.09.2007 - 17 K 3754/07.A -; VG Oldenburg, Urt. v. 04.10.2007 - 5 A 4386/06 - Juris -; VG Lüneburg, Urt. v. 06.12.2006 - 5 A 34/06 -; VG Hamburg, Urt. v. 21.11.2006 - 15 A 429/06 - und Urt. v. 25.10.2007 - 15 A 387/07 - Juris -; VG Berlin, Urt. v. 13.10.2006, Asylmagazin 1-2/2007, 32; VG Karlsruhe, Urt. v. 25.09.2007, Asylmagazin 11/2007, 17; VG München, Urt. v. 14.09.2007 - M 24 K 07.50342 - Juris -).