VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 21.01.2008 - 1 A 215/05 - asyl.net: M12366
https://www.asyl.net/rsdb/M12366
Leitsatz:
Schlagwörter: Vietnam, Folgeantrag, Änderung der Rechtslage, Anerkennungsrichtlinie, Änderung der Sachlage, exilpolitische Betätigung, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, Verfolgungsbegriff, Verfolgungshandlung, Internet, Telefonüberwachung, Hausarrest, Kumulierung, Auslandsaufenthalt, Strafrecht, Oppositionelle, Regimegegner, Menschenrechtslage, politische Entwicklung, Administrativhaft, Willkür, Buddhisten, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum, OAVD, Organisation für die Angelegenheiten der Vietnam-Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland, Mitglieder, Rückübernahmeabkommen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; AsylVfG § 28 Abs. 2; RL 2004/83/EG Art. 5; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 3 Bst. d; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 2; RL 2004/83/EG Art. 10
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet, soweit es dem Kläger um seine Anerkennung als Flüchtling geht (§ 3 AsylVfG iVm Art. 13 der Richtlinie 2004/83/EG, Amtsbl. der EU v. 30.9.2004 / L 304/12 ), also um die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG iVm Art. 33 GFK v. 28.7.1951 (BGBl. 1953 II S. 560).

2. Eine Änderung der Rechtslage (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) ist im Hinblick auf § 60 Abs. 1 AufenthG iVm der GFK, aber auch hinsichtlich der ab 10. Oktober 2006 verbindlichen Richtlinie 2004/83/ EG des Jahres 2004 gegeben (vgl. Hollmann, Asylmagazin 11/2006, S. 4). Daneben rechtfertigen die Belege für eine exilpolitische Betätigung und jene über eine Veränderung der politischen Lage in Vietnam (Sachlage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) eine Befassung mit dem Folgeantrag.

3. Sind die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen gem. den §§ 71 AsylVfG, 51 VwVfG - wie hier - erfüllt, hat das Verwaltungsgericht durchzuentscheiden (§§ 113 Abs. 5 u. 86 Abs. 1 VwGO; vgl. BVerwGE 106, 171 = DVBl. 1998, 725 = NVwZ 1998, 861 m.w.N.).

Diese Entscheidung hat sich am derzeit maßgeblichen Rechtszustand, also vor allem an der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004 (Amtsblatt der EG v. 30.9.2004, L 304/12) mit ihrem Bezug zur GFK zu orientieren, die seit Oktober 2006 die "verbindlich geltende europarechtliche Grundlage des Rechts auf Flüchtlingsanerkennung" ist (Hoffmann, Beilage z. Asylmagazin 5/2007, S. 9/ S.14).

Denn die Europäische Union wollte im Oktober 1999 in Tampere "zu ihren Verpflichtungen aus der GFK uneingeschränkt" stehen (Clodius, Beilage zum Asylmagazin 5/2007, S. 1 Fußn. 4) und ein Mindestmaß an Flüchtlingsschutz festlegen. Die nach 2-jährigen Verhandlungen verabschiedete Richtlinie ist heute in Deutschland unmittelbar geltendes Recht. Sie ist nicht etwa nur zu "berücksichtigen" (VGH Baden-W., Beschl. v. 19.12.2006 - A 3 S 1274/ 06 -), sondern "Leitstern" jeder asyl- und flüchtlingsrechtlichen Bewertung, zumal sie sehr viel konkretere Vorgaben und ausgefächertere Wertungsgesichtspunkte als § 60 AufenthG enthält, so dass sie die zu treffenden Entscheidungen auslegungs- und rechtsmethodisch entsprechend lenkt und leitet.

Soweit § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG n.F. lediglich die "ergänzende Anwendung" der gen. Richtlinie - beschränkt auf bestimmte Artikel - vorsieht, ist jedoch gerichtlich dem unmittelbaren Vorrang der gesamten Richtlinie gebührend Rechnung zu tragen, was vor allem auch für den in Art. 5 der Richtlinie geregelten Bedarf an internationalem Schutz gilt, der aus Nachfluchtgründen entstehen kann.

4. Dem Kläger droht im Falle seiner Rückführung nach Vietnam prognostisch für den Zeitpunkt des Jahres 2008 eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung iSd Kapitel II und III der Richtlinie 2004/83/EG bzw. des § 60 Abs. 1 AufenthG iVm Art. 33 GFK. Er ist schutzbedürftig und daher als Flüchtling anzuerkennen.

Hierbei sind vor allem - in Übereinstimmung mit § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG - die Verfolgungsgründe des Art. 10 Richtlinie maßgeblich, derentwegen der Verfolgerstaat die vom Flüchtling befürchteten Verfolgungsmaßnahmen iSv Art. 9 Richtlinie betreibt (vgl. Urt. d. VG Bremen v. 21.1.2008 - 4 K 1327/07.A). Insoweit können sehr umfassend sämtliche Regelungen sowie administrativen und sonstigen Maßnahmen einschließlich der dabei geübten Sanktions- und Polizeipraxis flüchtlingsrelevaten Charakter haben, wenn sie nur eine entsprechende Tendenz aufweisen (BVerwGE 71, 180 f.). Ein enger Katalog der in Betracht zu ziehenden Verfolgungshandlungen bzw. Bedrohungsmaßnahmen ist angesichts der in Vietnam praktizierten Ausgrenzungen, Verfolgungen und Demütigungen (durch Internet-Verbot, Telefon- und Mailüberwachung, Hausarrest, Aufnahme in eine schwarze Liste mit Namen derer, denen ein Reisepass versagt wird usw. - vgl. dazu Lagebericht des AA v. 31.3.06) auch sachlich verfehlt, zumal es nicht mehr darauf ankommt, ob Verfolgungshandlungen die Menschenwürde oder Kern- bzw. Randbereiche von Menschenrechten verletzen (Hollmann, Asylmagazin 11/2006, S. 5). Erst recht gebietet Art. 9 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie eine Gesamtbetrachtung und -bewertung einer Vielzahl von Einzelhandlungen, die je für sich noch nicht verfolgungsrelevant sein mögen (vgl Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen), vgl. Urt. d. VG Köln v. 12.10.2007 - 18 K 6334/05.A -. Schon die Verletzung der Freiheit des Briefverkehrs, etwa durch ständige Postkontrolle, kann so eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung sein, u.zw. unter dem Gesichtspunkt der Wiederholung, Art. 9 Abs. 1 a der Richtlinie (so auch Hollmann, aaO., S. 6; Kalkmann, Asylmagazin 9/2007, S. 5).

Eine Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG iVm Art. 9 Richtlinie ist somit - von Ausnahmen abgesehen, vgl. Hollmann, Asylmagazin 11/2006, S. 8 - schon dann beachtlich wahrscheinlich und begründet, wenn bei zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgungsfurcht sprechenden Umstände bei lebensnaher Betrachtung ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Umständen nach richterlicher Wertung überwiegen (vgl. Urteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten, UNHCR-Zeitschrift "Flüchtlinge", August Nr. 1987, S. 8 / 9; VG Bremen, Urt. v. 21.1.2008 - 4 K 1327/07.A -; so auch schon BVerfGE 54, 341/354; BVerwG, DÖV 1993, 389; OVG Lüneburg, Urt. v. 26.8. 1993 - 11 L 5666/92).

4.1 Eine solche Bedrohung ergibt sich allerdings nicht schon aus einer möglichen Bestrafung auf Grund des bloßen Aufenthaltes des Klägers in Deutschland.

4.4 § 60 Abs. 1 AufenthG ist hier anwendbar, u.zw. auch im Hinblick auf § 28 Abs. 2 AsylVfG: Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie legt nämlich fest, dass Verfolgungsfurcht auf solchen Aktivitäten des Antragstellers beruhen kann, die "seit" und nach Verlassen des Herkunftslandes unternommen wurden - vor allem in näher dargestellten Sonderfällen. Irgendwelche Einschränkungen enthält die Bestimmung nicht.

Die in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie für Folgeanträge - jedoch unbeschadet der GFK - den Mitgliedstaaten zugestandene Regelungskompetenz, eine Anerkennung als Flüchtling in der Regel auszuscheiden, wenn die Verfolgungsgefahr auf "Umständen" beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat, ist nach dem Sprachgebrauch der Richtlinie (vgl. Art. 4 Abs. 3 c) allein auf persönliche Umstände (familiärer und sozialer Hintergrund) zu beschränken (Ehe, Kinder, Arbeitslosigkeit usw.). Nur für solche Umstände ist den Mitgliedstaaten eine Regelungskompetenz zugestanden. Die in Abs. 2 genannten Aktivitäten jedoch sind von den in Abs. 3 genannten "Umständen" sprachlich wie sachlich zu unterscheiden, wie die Differenzierung in Art. 4 Abs. 3 c und d der Richtlinie aufzeigt: Zu den "Aktivitäten" ist eine Bewertung dahingehend vorzunehmen, ob ihretwegen im Falle einer Rückkehr Verfolgung (iSv Art. 9, etwa Abs. 2 b oder d der Richtlinie) stattfindet. Diese Bewertung unterliegt nach der unmittelbar geltenden Richtlinie keinerlei Beschränkungen - etwa solcher Art, wie sie § 28 Abs. 2 AsylVfG enthält (zeitlich festgelegter Regelausschluss des in § 60 Abs. 1 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbots).

Exilpolitische Aktivitäten iSv Art. 4 Abs. 3 d Richtlinie gehören damit nicht zu den (persönlichen) "Umständen" im Sinne des Art. 5 Abs. 3. Sie sind von diesen abzuschichten.

4.5 Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor Bedrohung hat der Kläger für den Fall seiner Abschiebung oder sonstigen Rückführung (§ 13 AsylVfG) nach Vietnam hier in einer Weise geltend gemacht, dass sie beachtlich wahrscheinlich ist.

4.5.1 Als "Verfolgungs"- bzw. Bedrohungshandlungen des vietnamesischen Staates, die eine nachvollziehbar begründete Bedrohungsfurcht erzeugen können, so dass der Kläger verständlicherweise "wegen dieser Furcht" den Schutz des vietnamesischen Staates nicht in Anspruch nehmen will (Art. 2 c der Qualifikationsrichtlinie), kommen hier nachfolgende Gesichts- und Anhaltspunkte in Betracht:

Zunächst existieren zahlreiche politische Strafvorschriften Vietnams (vgl. dazu Thür. OVG, Urt. v. 6. 3. 2002, NVwZ 2003, Beilage Nr. I 3, 19 = EZAR 212 Nr. 13), welche im Wesentlichen dem Zweck dienten und dienen, die politische Herrschaft des kommunistischen Systems in Vietnam abzusichern. Zugleich ist eine verschärfte Praxis vietnamesischer Behörden bei der Handhabung dieser politischen Vorschriften zu beobachten (VG Meiningen, InfAuslR 2006, 159). Dem vietnamesischen Staat geht es bei der Absicherung seiner politischen Herrschaft um eine möglichst umfassende Gesinnungskontrolle.

Weiterhin stellt sich die Lage in Vietnam im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung - im Januar 2008 - gegenüber dem 1994 abgeschlossenen Erstverfahren so dar, dass sich die Verhältnisse in Vietnam in der Zwischenzeit deutlich verschärft haben.

Es reicht methodisch nicht aus, für eine Gesamtschau lediglich die Lageberichte des Auswärtigen Amtes in den Blick zu nehmen. Denn "Vietnam gehört zu den Schwerpunktländern der deutschen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit (EZ)", "Deutschland ist einer der größten bilateralen Geber Vietnams" (so die Darstellung des Auswärt. Amtes zu den deutsch-vietnamesischen Beziehungen/Stand: Juli 2005). Hiervon abgesehen berücksichtigt z.B. der Lagebericht des AA vom 3.5.2007 nach eigener Darstellung weder den ai-Jahresbericht 2006 (Länderkapitel Vietnam, S. 496) noch den ai-Jahresbericht 2007 (Vietnam S. 480). Vielmehr wird anstelle der aktuellen Berichte nur der des Jahres 2005 einbezogen. Der Menschenrechtsreport 38 der "Gesellschaft für bedrohte Völker" - GfbV - v. 28. April 2005 wird ebenso wenig erwähnt oder verwertet wie der IGFM-Jahresbericht 2004. Damit ist die Aussagekraft der Lageberichte eingeschränkt.

Somit müssen auch andere Erkenntnisse in eine richterlich ausgewogene Bewertung einbezogen werden.

Selbst nach den aktuellen Lageberichten des AA (v. 3.5.2007 und v. 31.3.2006) ist es aber so, dass regierungskritische Aktivitäten nicht nur mit "größter Aufmerksamkeit", sondern ggf. sogar eben auch mit polizeilich-justiziellen Maßnahmen "verfolgt", öffentliche Kritik an Partei und Regierung und die Wahrnehmung von Grundrechten nicht toleriert werden.

Als weitere Verfolgungs- bzw. Bedrohungsmaßnahme sind die sog. "administrativen Haftstrafen" auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2.1999) zu nennen. Diese stehen eindeutig im Widerspruch zu Art. 9 Abs. 2 b und d der Qualifikationsrichtlinie. Auch das ist in Urteilen der Kammer dargestellt worden, so dass darauf verwiesen werden kann (vgl. z.B. Urt. v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -).

Auch die in Vietnam verbreitete Unberechenbarkeit behördlichen Vorgehens ist unter dem Gesichtspunkt des Art. 9 Abs. 2 b der Qualifikationsrichtlinie hinreichender Anlass, die vom Kläger vorgetragene Furcht zu belegen. Denn eine verlässliche Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden ist nicht abzugeben - zumal ein politisch begründeter Entscheidungsspielraum einschließlich offener Willkür gegenüber unangepassten Andersdenkenden oder Oppositionellen bzw. solchen, die dafür nur gehalten werden, gerade bei Justizakten zum Staats- und Selbstverständnis Vietnams gehört. "An der Tatsache, dass die Justiz faktisch Partei und Staat unterstellt ist, hat die Reform jedoch nichts geändert" (Lagebericht v. 28.8. 2005).

Demgemäß hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 22. Nov. 2005 - 2 BvR 1090/05 - den Vortrag der vietnamesischen Beschwerdeführerin zu einem gravierenden Mangel an Rechtsstaatlichkeit in Vietnam als entscheidungserheblich bewertet.

Zudem fällt ins Gewicht, dass der Kläger buddhistischen Glaubens ist (vgl. Niederschrift v. 23.12.2004).

Verfolgungsmaßnahmen könnten dem Kläger somit auch deshalb drohen, weil er sich zum buddhistischen Glauben bekennt (vgl. Protokoll vom 21.1.2008; Bescheinigung v. 6.11.2004, Bl. 31 der GA). Die lokalen Behörden in Vietnam empfinden die Tendenzen religiöser Orientierung "als bedrohlich und reagieren darauf mit Medienkampagnen, Einschüchterung und teilweise sogar mit Verhaftungen" (so schon Lagebericht des AA v. Mai 2001, S. 6). Die Religionsausübung wird "von den Behörden weiterhin streng überwacht" (so ai-Jahresbericht 2006, S. 497).

4.5.2 Bei solchen potentiellen Verfolgungsmaßnahmen und -handlungen kommen folgende Verfolgungs- bzw. Bedrohungsgründe (§ 60 Abs. 1 AufenthG iVm Art. 10 Richtlinie) zu Gunsten des Klägers in den Blick, die hier vorgetragen worden sind:

Gem. Art. 10 Abs. 1 e) der Richtlinie ist nicht nur eine missliebige Überzeugung in politischen Fragen als Grund für Verfolgungsmaßnahmen und für eine hieraus resultierende Bedrohung in Betracht zu ziehen, sondern auch eine bloße "Meinung" oder auch nur "Grundhaltung", die in Bezug gesetzt ist zu "Angelegenheiten", welche die in Art. 6 Richtlinie genannten "potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren" betreffen. Hiernach kommt für den vietnamesischen Staat, der von der kommunistischen Partei doktrinär beherrscht wird (vgl. Art. 6 b der Richtlinie), schon eine Grundhaltung des Klägers als Bedrohungsgrund in Betracht, die den Vorgehensweisen, Verfahren oder Maßnahmen der herrschenden kommunistischen Partei kritisch gegenüber steht bzw. die vom Kläger diesbezüglich nur "vertreten" wird - wobei es ganz ausdrücklich völlig "unerheblich" ist, ob er im Sinne seiner Meinung auch noch "tätig" geworden ist (Art. 10 Abs. 1 e) und etwa demonstriert hat.

Der Kläger hat ganz offenkundig "eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung", welche die in Art. 6 der Richtlinie genannten "potenziellen Verfolger" - hier den Staat bzw. die kommunistische Partei Vietnams mit ihren Gliederungen - betrifft: Er hat sich als langjähriges Mitglied des OAVD eine feste Meinung über das vietnamesische Regierungssystem gebildet: Er stuft das System als "korrupt" und "menschenrechtsfeindlich" ein, das weder Freiheits- noch Menschenrechte kennt (Protokoll v. 21.1.2008, S. 2/3). Er "hasst" es nach seinen Erfahrungen dort. Er hat demgemäß "sehr viel gegen das vietnamesische System demonstriert" und war "sehr aktiv".

Dem Kläger als einem Staatsbürger Vietnams, der schon seit vielen Jahren in Europa und Deutschland lebt, dürfte der Verfolgungsgrund gem. Art. 10 Abs. 1 e) von der kommunistischen Partei Vietnams bzw. vom vietnamesischen Staat zudem auch unabhängig davon zugeschrieben werden, ob und in welchem Maße sich der Kläger tatsächlich exilpolitisch engagiert hat und inwieweit er aktiv gewesen ist (Art. 10 Abs. 2 Qualifikationsrichtlinie).

Der Verfolgungsgrund des Art. 10 Abs. 1 b) Richtlinie jedoch kommt hier zu Gunsten des gläubigen Klägers auch unter dem Aspekt einer Teilnahme an religiösen (buddhistischen) Riten im "öffentlichen Bereich" in Betracht: Die aufgezeigten Verfolgungsmaßnahmen gegen Gläubige in Vietnam richten sich gerade gegen Glaubensbekundungen in der Gesellschaft und in öffentlich wahrnehmbaren Bereichen. Die Religionsausübung wird in Vietnam extrem streng überwacht und letztlich unterdrückt (ai-Jahresbericht 2006, S. 497). "Hart durchgegriffen" wird bei religiösen Organisationen, die sich außerhalb des staatlich vorgegebenen Rahmens bewegen (so 7. Bericht der Bundesregierung 2005, aaO., S. 358). Mit den Hinweisen des BMI v. 13.10. 2006 ist deshalb davon auszugehen, dass es auf eine Religionsausübung nur im forum internum heute - unter der Geltung der jetzt maßgeblichen Qualifikationsrichtlinie - nicht mehr ankommt (S. 9 der Hinweise). Vielmehr ist Religionsfreiheit im Lichte der Qualifikationsrichtlinie neu zu definieren (VG Düsseldorf, Asylmagazin 10/2006, S. 23 m.w.N.).

Angesichts der hier anzunehmenden Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen schon hinsichtlich der politischen Überzeugung des Klägers (Art. 9 Abs. 1 b Richtlinie) bedarf es keiner weiteren Ausführungen dazu, ob es beim Verfolgungsgrund der Religion in Vietnam um Beeinträchtigungen "des unabdingbaren Kernbereichs" (vgl. BMI-Hinweise, S. 9) religiöser Überzeugung des Klägers geht. Solche Beeinträchtigungen des Kernbereichs sind bei Kumulierungen nicht erforderlich, da diese bei einer Gesamtschau zusammen mit anderen Maßnahmen bereits eine "ähnliche Betroffenheit" iSv Art. 9 Abs. 1 b Richtlinie erzeugen.

5. Soweit die Beklagte daran festhält, dass erst ab einer qualifizierten Tätigkeitsschwelle mit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bei einer Rückkehr nach Vietnam zu rechnen sei, steht das eindeutig im Widerspruch zu Art. 10 Abs. 1 e) der Richtlinie 2004/83/EG, derzufolge es gerade "unerheblich" ist, "ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist."

6. Die Rückführungsabkommen aus den 90er-Jahren sind heute - im Jahre 2008 - irrelevant: Der Sachverständige Dr. Will hält daran fest, dass Rückkehrer nach öffentlicher Kritik am vietnamesischen Regierungssystem in aller Regel auch mit Verfolgung rechnen müssen (vgl. Dr. Will im Gutachten v. 11.2.2003; vgl. auch Dr. Will v. 14.9. 2000, S. 1; ebenso 7. Bericht der Bundesregierung, aaO., S. 358: "Eine öffentliche Diskussion der Machtstrukturen wird nicht geduldet"). Auch der Sachverständige Dr. Weggel (Stellungn. v. 10.8. 2003 an VG Darmstadt) ist der Ansicht, dass das Rückübernahmeabkommen von 1995 (nebst Briefwechsel) sich "als Schlag ins Wasser erwiesen" und die "vietnamesische Regierung der Rückführung jedes nur mögliche Hindernis in den Weg" gelegt habe. Diese Auffassungen stimmen mit der SWP-Studie "Chancen und Risiken deutscher Politik in Vietnam" (Berlin, März 2002) überein, in der dargelegt ist, dass Vietnam an einer Repatriierung seiner Staatsbürger schon Ende der 90er-Jahre kein Interesse mehr hatte und die Abkommen trotz Interventionen des damaligen Außenministers Kinkel (absichtlich) hat leer laufen lassen.

Es mag zwar sein, dass eine Bestrafung "wegen ungenehmigter Ausreise" in Vietnam nicht stattfindet, so wie das den Abkommen der 90er-Jahre zugrunde liegt. Die Abkommen geben aber nichts dafür her, ob speziell wegen (exil-)politischer Betätigungen eben doch Bestrafungen erfolgen (so richtig VG Meiningen, InfAuslR 2006, 159).