VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 04.12.2007 - M 9 K 06.51100 - asyl.net: M12452
https://www.asyl.net/rsdb/M12452
Leitsatz:

Keine Flüchtlingsanerkennung wegen Gefahren aufgrund der schlechten Sicherheitslage oder der Situation als Rückkehrer im Irak; kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung, da gleichwertiger Schutz durch Abschiebungsstopp besteht.

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Machtwechsel, Baath, Änderung der Sachlage, Antragstellung als Asylgrund, illegale Ausreise, DKP, PUK, Sympathisanten, Sicherheitslage, Gruppenverfolgung, Situation bei Rückkehr, soziale Gruppe, Entführung, Erpressung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, menschenrechtswidrige Behandlung, allgemeine Gefahr, Abschiebungsstopp, Erlasslage
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 3; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine Flüchtlingsanerkennung wegen Gefahren aufgrund der schlechten Sicherheitslage oder der Situation als Rückkehrer im Irak; kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung, da gleichwertiger Schutz durch Abschiebungsstopp besteht.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Der angefochtene Widerrufsbescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 28. September 2006 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die hilfsweise geltend gemachte Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

Wegen seines Asylantrags und seiner illegalen Ausreise drohen dem Kläger mit hinreichender Wahrscheinlichkeit keine politischen Verfolgungsmaßnahmen (ebenso: BVerwG vom 11.02.2004 - 1 C 23.02; BayVGH vom 30.05.2005 - 23 B 05.30232, 23 B 05.30567, 23 B 05.30189, 23 B 05.30151, 23 B 05.30152, 23 B 05.30230, 23 B 05.30231; vom 19.04.2004 - 15 B 01.30384; VGH Mannheim vom 16.09.2004 - A 2 S 471/02; vom 26.04.2004 - AuAS 2004, 176; OVG Greifswald vom 02.04.2004 - 2 L 269/02; OVG Lüneburg vom 30.03.2004 - 9 LB 5/03).

Des weiteren hat der Kläger nach Überzeugung des Gerichts weder von den Koalitionstruppen noch von der derzeitigen irakischen Regierung Gefährdungen zu erwarten. Der Ausschluss von Verfolgungsmaßnahmen ihm gegenüber ist, jedenfalls für die im Zeitpunkt der Entscheidung absehbare Zukunft, als dauerhaft anzusehen. Trotz der schwierig abzuschätzenden künftigen Verhältnisse im Irak gibt es für eine Änderung der Situation zum Nachteil des Klägers keinen Anhaltspunkt. Zwar finden vermehrt Anschläge statt, die aber an der grundsätzlichen Kontrolle des Staatsgebiets auch durch alliierte Kräfte nichts ändern. Nach Überzeugung des Gerichts wird es in überschaubarer Zeit nicht mehr zur Errichtung eines irakischen Regimes ähnlich dem des früheren Machthabers Saddam Hussein, wo rechtsstaatliche Prinzipien und Menschenrechte missachtet wurden, kommen. Mit hinreichender Sicherheit ist deshalb ausgeschlossen, dass sich eine Staatsgewalt neu etablieren könnte, von der Irakern in Anknüpfung an das untergegangene Regime von Saddam Hussein Übergriffe drohen (vgl. BVerwG vom 11.02.2004 - 1 C 23.02; BayVGH vom 30.05.2005 - 23 B 05.30232, 23 B 05.30567, 23 B 05.30189, 23 B 05.30151, 23 B 05.30152, 23 B 05.30230, 23 B 05.30231; OVG Koblenz vom 11.08.2006 - 19 A 10783/05.OVG; VGH Mannheim vom 16.09.2004 - A 2 S 471/02; vom 26.04.2004 - AuAS 2004, 176). Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Kläger auch durch eine künftige Staatsgewalt keine politischen Verfolgungsmaßnahmen befürchten muss. Es ist dem Kläger daher zumutbar, eine eventuelle zu einem nicht absehbaren Zeitpunkt mögliche Veränderung der Verhältnisse zu seinem Nachteil in seinem Heimatland abzuwarten (vgl. etwa VG München vom 15.2.2005 - M 27 K 04.50914, Kammerentscheidung).

Vorstehende Ausführungen gelten in gleicher Weise, soweit sich der Kläger auf eine für ihn bestehende (angebliche) Gefahr durch die DPK beruft, weil er Sympathisant der PUK gewesen sein will. Derartige früher gefahrbegründende Verstöße haben aufgrund des Sturzes des Unrechtsregimes Saddam Husseins ihre Bedeutung verloren. Das gilt umso mehr, als DPK und PUK im irakischen Parlament nunmehr sogar eine (kurdische) Koalition eingegangen sind.

Aus der allgemein schlechten Sicherheitslage lässt sich auch keine Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG herleiten. Im Irak sind terroristische Anschläge an der Tagesordnung. Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen ist die allgemeine Sicherheitslage nach Beendigung der Hauptkampfhandlungen im Mai 2003 hochgradig instabil geworden, was auch Anfang Juli 2004 zum Erlass eines Notstandsgesetzes führte. Ziel der Anschläge einer irakischen Guerilla sind nicht nur die irakischen Regierungsorgane und die Koalitionstruppen, sondern auch alle Einrichtungen und Personen, die mit der irakischen Regierung und den von den USA geführten Koalitionstruppen zusammenarbeiten oder in den Verdacht einer solchen Zusammenarbeit geraten. Dabei werden nicht nur Mitglieder der Regierung, Provinzgouverneure, UN-Mitarbeiter und Angehörige ausländischer nichtstaatlicher Organisationen und Firmen ins Visier genommen, sondern auch Angehörige der irakischen Streitkräfte und der irakischen Polizei (Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 24.11.2005 und vom 02.11.2004). Selbst Bewerber um Arbeit bei der Verwaltung und in den Sicherheitsdiensten werden nicht verschont. Ziel dieser in ihrer Intensität zunehmenden Anschläge ist es, Furcht und Schrecken zu verbreiten, Gewalttätigkeiten verschiedener irakischer Bevölkerungsgruppen gegeneinander zu provozieren und das Land insgesamt zu destabilisieren (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 02.11.2004). Wie den genannten Informationsquellen weiter entnommen werden kann, ist gleichzeitig auch die allgemeine Kriminalität stark angestiegen und mancherorts außer Kontrolle geraten. Überfälle und Entführungen – alle Minderheiten werden dabei überdurchschnittlich Opfer von Entführungen – sind an der Tagesordnung. Dass sich aber solche Vorkommnisse gegen den Kläger wegen im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erheblicher Merkmale richten könnten, steht nicht zu erwarten, weil Anhaltspunkte für wiederholte und gezielte Anschläge gegen Personen wegen der in § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG genannten Merkmale gerade nicht bestehen (vgl. die ins Verfahren eingeführten Lageberichte des Auswärtigen Amtes).

Schließlich vermag auch die (vermeintliche) Gefahr, infolge der Flucht nach Europa, respektive in die Bundesrepublik Deutschland, Opfer einer Entführung bzw. einer Erpressung zu werden, weil von Rückkehrern aus Europa vermutet wird, dass diese über Geld verfügen, den Tatbestand des § 60 Abs. 1 Satz 1, Abs. 1 Satz 4 AufenthG nicht zu begründen. Das folgt daraus, dass nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln Geiselnahmen im Irak im Grunde genommen jeden treffen können und nicht nur die Rückkehrer aus Europa. Die Übergriffe finden wahllos statt und knüpfen dabei gerade nicht an die in § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG genannten Merkmale der Rasse, der Religion, der Staatsangehörigkeit oder der politischen Überzeugung an. Auch stellen die Rückkehrer keine bestimmte soziale Gruppe im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG dar, weil sie aus allen bisher im Irak vertretenen Volksgruppen und allen religiösen Richtungen stammen sowie beiderlei Geschlechts sind, so dass es bereits an einem gemeinsamen, sie von anderen sozialen Gruppen im Irak unterscheidenden Merkmal fehlt (vgl. etwa BVerwG vom 15.03.1988 - 9 C 278.86 - VerwGE 79, 143 = DVBl 1988, 747 = DÖV 1988, 692 = InfAuslR 1988, 230 = NVwZ 1988, 838 = Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 83: "..., weil er aufgrund unabänderlicher persönlicher Merkmale anders ist als er nach Ansicht des Verfolgers zu sein hat ..."). Fehlt es aber bereits an einer Verfolgung wegen eines Merkmals im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, so muss auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG, insbesondere dessen Buchstaben c), nicht mehr eingegangen werden (vgl. Wortlaut des § 60 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 1 AufenthG: "Eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1 kann ausgehen von ...").

Der Kläger kann sich auch nicht mit Erfolg auf ein ihm heute zuzuerkennendes Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG berufen.

Vorstehende Voraussetzungen sind im Irak nicht mehr erfüllt, da eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ein vorsätzliches, auf eine bestimmte Person zielendes staatliches Handeln erfordert, an der es im Fall des Klägers fehlt. Auf die oben zu § 60 Abs. 1 AufenthG gemachten Ausführungen, die hier sinngemäß gelten, wird verwiesen.

Schließlich liegen auch Abschiebungshindernisse im Sinne von § 60 Abs. 7 AufenthG nicht vor. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hindert die Abschiebung nicht, da diese Regelung von § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG verdrängt wird (vgl. zum Verhältnis von § 53 Abs. 6 Satz 1 zu Satz 2 AuslG etwa BVerwG vom 17.10.1995 - BVerwGE 99, 324; vom 17.12.1996 NVwZ-RR 1997, 740; vom 29.11.1997 - NVwZ 1998, 524 = DVBl 1998, 284; BayVGH vom 09.11.2004 - 15 ZB 04.30650).

Das Bayerische Staatsministerium des Innern hat im Erlasswege mit Rundschreiben vom 18. Dezember 2003 Nr. IA2-2084.20-13 zur "ausländerrechtlichen Behandlung irakischer Staatsangehöriger" verfügt, dass irakische Staatsangehörige, die Nicht-Straftäter oder unter Sicherheitsaspekten vordringlich abzuschieben sind, nicht abgeschoben werden bzw. der genannte Personenkreis eine (auf sechs Monate befristete) Duldung erhält und dass auslaufende Duldungen bis auf weiteres um sechs Monate zu verlängern sind. Straftäter erhalten nach den genannten Weisungen dagegen nur auf drei Monate befristete Duldungen, die ggf. zu verlängern sind; diese Duldungen werden zudem unter der auflösenden Bedingung erteilt, die das Erlöschen der Duldung vorsieht, sobald eine Rückführung in den Irak möglich ist. Die Konferenz der Länderinnenminister hat wiederholt (zuletzt am 16./17. November 2006) die Einschätzung des Bundes geteilt, dass ein Beginn von zwangsweisen Rückführungen in den Irak jedenfalls von solchen Personen, die in der Bundesrepublik Deutschland nicht straffällig geworden sind, nicht möglich ist. Dementsprechend wurde auch in Bayern die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger (weiterhin) ausgesetzt (vgl. Schreiben des Bayer. Staatsministeriums des Innern vom 30. April 2004 und vom 10. Februar 2005). Das Gericht geht unter Zugrundelegung der ständigen Rechtsprechung des BayVGH (vgl. z. B. BayVGH vom 05.07.2004 - 23 B 04.30174; vom 09.09.2004 - 15 ZB 04.30699; vom 07.10.2004 - 13a ZB 04.30844; vom 14.10.2004 - 13a ZB 04.30842; vom 30.05.2005 - 23 B 05.30232, 23 B 05.30151, 23 B 05.30185 u.a.; ebenso für die Erlasslage in Baden-Württemberg: VGH Mannheim vom 16.09.2004 - A 2 S 471/02) davon aus, dass diese Weisungen des Bayerischen Staatsministeriums des Innern Anordnungen im Sinne von § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG darstellen. Hierdurch ist eine Erlasslage geschaffen worden, die den Anforderungen des § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG entspricht, weil sie dem betroffenen Ausländer derzeit einen wirksamen Schutz vor Abschiebung vermittelt.