BFH

Merkliste
Zitieren als:
BFH, Urteil vom 22.11.2007 - III R 54/02 - asyl.net: M12486
https://www.asyl.net/rsdb/M12486
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Kindergeld, Altfälle, Rückwirkung, Aufenthaltserlaubnis, Duldung, Verfassungsmäßigkeit, Gleichheitsgrundsatz, Jugoslawen, Erwerbstätigkeit
Normen: EStG § 62 Abs. 2 Nr. 2; EStG § 52 Abs. 61a S. 2; GG Art. 3 Abs. 1
Auszüge:

II. 1. Das Revisionsverfahren war nicht im Hinblick auf den Beschluss des FG Köln vom 9. Mai 2007 - 10 K 1690/07 (EFG 2007, 1247), mit dem dieses dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Frage der Vereinbarkeit des § 62 Abs. 2 EStG n. F. mit dem Grundgesetz (GG) vorgelegt hat, auszusetzen. Zwar ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) die Aussetzung eines Klageverfahrens entsprechend § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) geboten, wenn vor dem BVerfG bereits ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, den FG und dem BFH zahlreiche Parallelverfahren (Massenverfahren) vorliegen und keiner der Beteiligten ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat (z. B. Senatsbeschluss vom 7. Februar 1992 - III B 24, 25/91, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408). Ein derartiges Interesse ist im Streitfall jedoch zu bejahen, da erstmals nach Ergehen des zitierten Vorlagebeschlusses eine Entscheidung des BFH zur Verfassungsmäßigkeit des § 62 Abs. 2 Nr. 3 EStG n.F. herbeigeführt werden soll (vgl. Senatsbeschluss in BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408, unter 3. e).

2. Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Die Familienkasse hat zu Recht die Festsetzung von Kindergeld für die Zeit ab September 1999 aufgehoben.

Der Senat hat mit Urteilen vom 15. März 2007 III R 93/03 (BFH/NV 2007, 1234, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt) sowie III R 54/05 (BFH/NV 2007, 1298) zur Kindergeldberechtigung geduldeter Ausländer entschieden, dass die vom Gesetzgeber getroffene Differenzierung sachlich gerechtfertigt und mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, da keine langfristige Integration geduldeter Ausländer und ihrer Familien in der Bundesrepublik beabsichtigt ist. An diesen Grundsätzen hält der Senat fest.

3. Der Senat teilt nicht die im Vorlagebeschluss des FG Köln in EFG in 2007, 1247 geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Neufassung des § 62 Abs. 2 EStG.

a) Art. 3 Abs. 1 GG gebietet es nicht, in Fällen, in denen ein Ausländer rechtmäßig oder rechtswidrig in die Bundesrepublik einreist und – z.B. wegen eines tatsächlichen Abschiebungshindernisses – damit zu rechnen ist, dass er auf absehbare Zeit nicht mehr ausreist, von Anfang an oder nach einer gewissen Zeit Kindergeld zu gewähren, weil von einem Daueraufenthalt auszugehen sei. Vielmehr kann bei der nach dem BVerfG-Beschluss in BVerfGE 111, 160, BFH/NV 2005, Beilage 2, 114 anzustellenden Prognose über die Dauer des Aufenthalts zunächst erwartet werden, dass sich ein Ausländer, dessen Aufenthalt lediglich geduldet ist, rechtstreu verhält und wieder ausreist oder dass ein Ausländer, der wegen eines Krieges in seinem Heimatland eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG oder eine Erlaubnis nach §§ 23a, 24, 25 Abs. 3 bis 5 AufenthG erhalten hat, nach Wegfall der Gründe, die einer Rückkehr in sein Herkunftsland entgegengestanden waren, wieder heimkehrt. Der Gesetzgeber handelte verfassungskonform und im Rahmen des ihm zustehenden Gestaltungsspielraums, als er typisierend gemäß § 62 Abs. 2 Nr. 3 EStG einen Daueraufenthalt erst bei einem mindestens dreijährigen Aufenthalt im Bundesgebiet und bei Integration in den Arbeitsmarkt unterstellte. Nach der nicht zu beanstandenden Einschätzung des Gesetzgebers bietet eine derartige Integration eine Perspektive für einen dauerhaften Aufenthalt in der Bundesrepublik.

b) Entgegen der im Vorlagebeschluss in EFG 2007, 1247 geäußerten Ansicht des FG Köln ist das in § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG verwendete Abgrenzungskriterium der Erwerbstätigkeit nicht derart unbestimmt, dass es gegen das Rechtsstaatsprinzip verstößt (Art. 20 Abs. 3 GG). Es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der auslegungsbedürftig ist. Dies allein steht dem rechtsstaatlichen Erfordernis nach Normenbestimmtheit nicht entgegen (z. B. BVerfG-Beschluss vom 14. März 1967 - 1 BvR 334/61, BVerfGE 21, 209, BStBl III 1967, 357, unter B. I.). Unüberwindliche Auslegungsprobleme sind für den Senat nicht ersichtlich.

c) Der Senat ist auch nicht der Ansicht, die in § 52 Abs. 61a Satz 2 EStG angeordnete Rückwirkung der Neufassung des § 62 Abs. 2 EStG auf noch nicht bestandskräftig entschiedene Fälle sei verfassungswidrig, weil der Gesetzgeber den bis zum 1. Januar 2006 befristeten Regelungsauftrag bis zu diesem Zeitpunkt nicht erfüllt habe (so FG Köln, Urteil vom 9. Mai 2007 10 K 983/04, EFG 2007, 1254). Der Fall, der dem Beschluss des BVerfG in BVerfGE 111, 160, BFH/NV 2005, Beilage 2, 114 zugrunde lag, betraf § 1 Abs. 3 BKGG 1993. Die vom BVerfG getroffene Anordnung, wonach das bis zum 31. Dezember 1993 geltende Recht anzuwenden sei (§ 1 Abs. 3 BKGG i.d.F. des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990, BGBl I 1990, 1354), falls der Gesetzgeber bis zum 1. Januar 2006 die verfassungswidrige Norm nicht durch eine Neuregelung ersetzen sollte, gilt nur für § 1 Abs. 3 BKKG 1993, nicht aber für das ab 1996 nach §§ 62 ff. EStG zu gewährende Kindergeld. Auch wenn § 1 Abs. 3 BKGG 1993 und § 62 Abs. 2 EStG 1996 nahezu wortgleich waren, folgt daraus nicht, dass die vom BVerfG angeordnete Sanktion des Wieder-In-Kraft-Setzens der bis zum 31. Dezember 1993 geltenden kindergeldrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen auch für das steuerrechtliche Kindergeld gilt. § 1 Abs. 3 BKGG in der bis zum 31. Dezember 1993 geltenden Fassung kann im steuerlichen Kindergeldrecht keine (Wieder-)Geltung erlangen.