VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 20.11.2007 - M 4 K 07.50913 - asyl.net: M12491
https://www.asyl.net/rsdb/M12491
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung von Schiiten im Irak; kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung, da gleichwertiger Schutz durch Abschiebungsstopp besteht.

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Antragstellung als Asylgrund, Auslandsaufenthalt, Änderung der Sachlage, Machtwechsel, Baath, Sicherheitslage, Gruppenverfolgung, Schiiten, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Straftäter, Nordirak
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine Gruppenverfolgung von Schiiten im Irak; kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung, da gleichwertiger Schutz durch Abschiebungsstopp besteht.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg.

1. DieWiderruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG in der Person des Klägers bezüglich Irak ist durch § 73 Abs. 1 AsylVfG gedeckt.

a) Wegen seines Asylantrags und seiner illegalen Ausreise drohen dem Kläger mit hinreichender Wahrscheinlichkeit keine politischen Verfolgungsmaßnahmen (ebenso: BVerwG v. 11.2.2004, Az.: 1 C 23.02; BayVGH v. 30.5.2005, Az.: 23 B 05.30232; BayVGH v. 30.5.2005, Az.: 23 B 05.30567; BayVGH v. 30.5.2005, Az.: 23 B 05.30189; BayVGH v. 30.5.2005, Az.: 23 B 05.30151 BayVGH v. 30.5.2005, Az.: 23 B 05.30152; BayVGH v. 30.5.2005, Az.: 23 B 05.30230; BayVGH v. 30.5.2005, Az.: 23 B 05.30231; VGH Mannheim v. 16.9.2004, Az.: A 2 S 471/02; VGH Mannheim v. 26.4.2004, AuAS 2004, 176; BayVGH v. 19.4.2004, Az.: 15 B 01.30384; OVG Greifswald v. 2.4.2004, Az.: 2 L 269/02; OVG Lüneburg v. 30.3.2004, Az.: 9 LB 5/03).

Des weiteren hat der Kläger nach Überzeugung des Gerichts weder von den Koalitionstruppen noch von der derzeitigen irakischen Regierung Gefährdungen zu erwarten.

b) Aus der allgemein schlechten Sicherheitslage lässt sich auch keine Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG herleiten. Im Irak sind terroristische Anschläge an der Tagesordnung. Wie den genannten Informationsquellen weiter entnommen werden kann, ist gleichzeitig auch die allgemeine Kriminalität stark angestiegen und mancherorts außer Kontrolle geraten. Überfälle und Entführungen – alle Minderheiten werden dabei überdurchschnittlich Opfer von Entführungen – sind an der Tagesordnung. Dass sich aber solche Vorkommnisse gegen den Kläger wegen im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erheblicher Merkmale richten könnten, steht nicht zu erwarten, weil Anhaltspunkte für wiederholte und gezielte Anschläge gegen Personen wegen der in § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG genannten Merkmale gerade nicht bestehen (vgl. die ins Verfahren eingeführten Lageberichte des Auswärtigen Amtes).

c) Schließlich vermag auch die (vermeintliche) Gefahr, infolge der Flucht nach Europa, respektive in die Bundesrepublik Deutschland, Opfer einer Entführung bzw. einer Erpressung zu werden, weil von Rückkehrern aus Europa vermutet wird, dass diese über Geld verfügen, den Tatbestand des § 60 Abs. 1 Satz 1, Abs. 1 Satz 4 AufenthG nicht zu begründen. Das folgt daraus, dass nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln Geiselnahmen im Irak im Grunde genommen jeden treffen können und nicht nur die Rückkehrer aus Europa. Die Übergriffe finden wahllos statt und knüpfen dabei gerade nicht an die in § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG genannten Merkmale der Rasse, der Religion, der Staatsangehörigkeit oder der politischen Überzeugung an. Auch stellen die Rückkehrer keine bestimmte soziale Gruppe i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG dar, weil sie aus allen bisher im Irak vertretenen Volksgruppen und allen religiösen Richtungen stammen und beiderlei Geschlechts sind, so dass es bereits an einem gemeinsamen sie von anderen sozialen Gruppen im Irak unterscheidenden Merkmal fehlt (vgl. etwa BVerwG v. 15.3.1988, BVerwGE 79, 143: "..., weil er aufgrund unabänderlicher persönlicher Merkmale anders ist als er nach Ansicht des Verfolgers zu sein hat ...".). Fehlt es aber bereits an einer Verfolgung wegen eines Merkmals i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, so muss auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG, insbesondere dessen Buchst. c), nicht mehr eingegangen werden (vgl. Wortlaut des § 60 Abs. 1 Satz 4 HS. 1 AufenthG: "Eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1 kann ausgehen von ...").

f) Auch aus dem Urteil des BayVGH vom 14. November 2007 (Az.: 23 B 07.30496) ergibt sich nichts anderes. Unabhängig davon, dass dieses Urteil noch nicht rechtskräftig ist, ist es vorliegend schon deshalb nicht einschlägig, weil der Kläger schiitischer Religionszugehörigkeit ist und der BayVGH in der besagten Entscheidung von einer Gruppenverfolgung der Sunniten aus dem Zentralirak ausgeht.

2. Zutreffend hat das Bundesamt ferner festgestellt, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen.

§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hindert die Abschiebung nicht, da diese Regelung von § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG verdrängt wird (vgl. zum Verhältnis von § 53 Abs. 6 Satz 1 zu Satz 2 AuslG etwa BVerwG v. 17.10.1995, BVerwGE 99, 324 [327]; BVerwG v. 17.12.1996, NVwZRR 1997, 740; BVerwG v. 29.11.1997, NVwZ 1998, 524 = DVBl. 1998, 284; BayVGH v. 9.11.2004, Az.: 15 ZB 04.30650).

Das Bayerische Staatsministerium des Innern hat im Erlasswege mit Rundschreiben vom 18. Dezember 2003 (Az.: Nr. IA2-2084.20-13) zur "ausländerrechtlichen Behandlung irakischer Staatsangehöriger" verfügt, dass irakische Staatsangehörige, die Nicht-Straftäter oder unter Sicherheitsaspekten vordringlich abzuschieben sind, nicht abgeschoben werden bzw. der genannte Personenkreis eine (auf sechs Monate befristete) Duldung erhält und dass auslaufende Duldungen bis auf weiteres um sechs Monate zu verlängern sind.

Das gilt grundsätzlich auch für Straftäter. Zwar hat das Bayerische Staatsministerium des Innern mit Schreiben vom 17. April 2007 den bisher bestehenden Abschiebestopp eingeschränkt. Danach werden ab sofort

– aus den autonomen Kurdengebieten stammende straffällig gewordene Iraker sowie

– aus den autonomen Kurdengebieten stammende Sicherheitsgefährder

dorthin abgeschoben. Die autonomen Kurdengebiete umfassen dabei im Wesentlichen die drei nordirakischen Provinzen Dohuk, Erbil (Arbil) und Sulaimaniya, wobei zur Bestimmung der Herkunft der jeweilige Eintrag zum Geburtsort im irakischen Reisepass maßgeblich sein soll. Der Kläger fällt nicht unter den vorgenannten Personenkreis, weil er schon nicht aus den autonomen Kurdengebieten stammt.

Folglich bedarf der Kläger keines zusätzlichen Schutzes vor der Durchführung der Abschiebung etwa in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. BVerwG v. 12.7.2001, NVwZ 2001, 1420 = DVBl 2001, 1531 = lnfAuslR 2002, 48 zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG).