VG Freiburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 07.11.2007 - A 1 K 600/06 - asyl.net: M12523
https://www.asyl.net/rsdb/M12523
Leitsatz:
Schlagwörter: Nigeria, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, HIV/Aids, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die zulässige Klage ist teilweise begründet, weil der Kläger den von ihm geltend gemachten Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses zwar nicht aus § 60 Abs. 2 bis Abs. 6 AufenthG, subsidiär jedoch wenigstens aus § 60 Abs. 7 AufenthG hat (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Denn er ist, wie sich aus sämtlichen bislang vorgelegten Attesten des Universitätsklinikums Freiburg (zuletzt dasjenige vom 5.11.2007) ergibt, in einer Weise an HIV erkrankt, dass ein im Falle der Abschiebung nach Nigeria drohender Abbruch der die Krankheit zur Zeit erfolgreich stabilisierenden antiretroviralen Kombinationstherapie (Dreifachkombination) zwangsläufig zum Eintreten von typischen HIV-assoziierten Folgeerkrankungen führt, die dann – ohne entsprechende Behandlung – innerhalb eines überschaubaren Zeitraums zum Siechtum und Tode des Klägers führen (vgl. zum Folgenden bereits ausführlich: VG Freiburg, Urt. v. 18.9.2007 - A 1 K 822/06).

Dabei hat der Kläger aufgrund seiner persönlichen Situation auch keine Möglichkeit, in Nigeria die Fortsetzung der – allein lebenserhaltenden – antiretroviralen Therapie dauerhaft sicherzustellen. Zwar ist nach Auskünften der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Lagos an das VG Stuttgart vom 27.4.2006 und einem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 12.7.2006 zu den Behandlungsmöglichkeiten für Personen mit HIV/AIDS davon auszugehen, dass in Nigeria die für die Fortsetzung der antiretroviralen Behandlung notwendigen Laboreinrichtungen und Medikamente vorhanden sind und jedenfalls die Medikamente in allen Bundesstaaten Nigerias teilweise kostenlos an bedürftige Kranke abgegeben werden. Allerdings ergibt sich aus diesen Auskünften auch, dass die Laboruntersuchungen und die Medikamente in der weit überwiegenden Zahl der Fälle selbst bezahlt werden müssen, da die kostenlose Versorgung mit Medikamenten auf landesweit 40.000 Personen beschränkt war, während die Anzahl der bedürftigen Patienten bei 520.000 liegt. Zudem ergibt sich aus den Auskünften, dass die Kosten für die Medikamente sehr teuer sind und selbst bei einer Behandlung in öffentlichen Krankenhäusern monatlich sechs Euro für das antiretrovirale Medikament sowie ca. 10 Euro monatlich für die Laboruntersuchung bezahlt werden müssen, so dass die meisten Patienten die Behandlung aus Geldmangel unterbrechen müssen oder erst gar nicht antreten können, wenn sie nicht im Umkreis der Familie über einen ausreichenden finanziellen Rückhalt verfügen.

Beim Kläger ist zur Überzeugung des Gerichts im Falle einer Rückkehr nach Nigeria eine Lebenssituation gegeben, die es ihm nicht möglich macht, die in seinem Fall notwendige antiretrovirale Kombinationstherapie zu erhalten. Ein wesentliches Hindernis würde beim Kläger schon darin bestehen, dass er an weiteren (nicht HIV-assoziierten) Erkrankungen wie latentem Diabetes mellitus sowie arterieller Hypertonie leidet. Aus diesem Grund ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er, der ohnehin schon geschwächt ist, nicht in der Lage wäre, den bestehenden Verteilungskampf unter den mittellosen HIV-Kranken in Nigeria um die äußerst begrenzten kostenlosen Medikamente aufzunehmen und zu bestehen. Auch ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger in Nigeria über keinen familiären oder anderweitigen Rückhalt verfügt, der es ihm ermöglichen würde, seine Behandlung dort faktisch und finanziell zu organisieren. Seine Einreise im Jahr 2003 war mit finanzieller Unterstützung seiner deutschen Ehefrau möglich, von der er mittlerweile jedoch getrennt bzw. geschieden ist. Es liegt auf der Hand, dass ein etwaiger nachehelicher Unterhalt, sollte er überhaupt geschuldet sein, letztlich rein tatsächlich nicht würde erbracht werden können. Das Gericht glaubt dem Kläger schließlich auch, dass sein Bruder nicht in der Lage ist, mit dem Einkommen eines Händlers eine solch außergewöhnliche Lebenssituation, wie sie in einer HIV-Erkrankung begründet liegt, aufzufangen. Glaubhaft ist schließlich, dass der Bruder nichts von der Erkrankung des Klägers weiß. Selbst im Falle einer Offenbarung wäre in keiner Weise sicher, ob die Familie helfen oder den Kläger nicht viel mehr – weil stigmatisiert durch seine Erkrankung – verstoßen würde.

Da in Nigeria schätzungsweise zwischen 12 und 24 Mill. Einwohner an HIV infiziert sind und immerhin 520.000 Personen einer antiretroviralen Therapie bedürfen, ist die beim behandlungsbedürftigen Kläger gegebene Gefahr, ohne weitere Behandlung in Nigeria an einer HIV-assoziierten Folgeerkrankung zu versterben, als eine allgemeine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG anzusehen (so auch OVG Sachsen, Urt. v. 06.06.2005 A 5 B 281/04 ). Allerdings stellt sich die dem Kläger drohende Entwicklung im Falle einer Abschiebung nach Nigeria mit einer solchen Zwangsläufigkeit, dass das Gericht – ungeachtet der möglichen Bandbreite des zeitlichen Eintritts des Todes – eine extreme Todesgefahr annimmt, die trotz der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zugunsten einer politischen Abschiebeschutzentscheidung nach § 60a AufenthG die Annahme eines individuellen Abschiebehindernisses rechtfertigt und fordert. Denn das Gericht ist, wie oben näher ausgeführt, überzeugt, dass der Kläger mit höchster Wahrscheinlichkeit in Nigeria keine Maßnahmen ergreifen kann, um die lebenserhaltende Therapie fortzuführen, so dass mit der Abschiebung und dem damit gegebenen Abbruch der Therapie eine Kausalkette in Gang gesetzt wird, die dann zwangsläufig zu einer Erkrankung des Klägers mit einer tödlichen HIV-assoziierten Folgeerkrankung in Nigeria führt. Dies kann wegen des grundrechtlichen Schutzes aus Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 2 GG auch über die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht mehr gerechtfertigt sein. Schließlich bedurfte es deshalb, um untragbare Ergebnisse zu vermeiden, einer Abänderung der ursprünglich negativen Bundesamtsentscheidung.