VerfGH Berlin

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VerfGH Berlin, Beschluss vom 01.11.2007 - 103/07 - asyl.net: M12532
https://www.asyl.net/rsdb/M12532
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Verfassungsbeschwerde, Rechtsweggarantie, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Interessenabwägung, Folgenabwägung, Verfassungsbeschwerde, Rechtswegerschöpfung, Aufenthaltserlaubnis, Ablehnungsbescheid, Ausweisungsgründe, freiheitlich demokratische Grundordnung, Gewaltaufruf, Sicherheitsbefragung, Falschangaben
Normen: VerfGHG § 49 Abs. 2; VwGO § 80 Abs. 5; VwGO § 80 Abs. 7; VvB Art. 15 Abs. 4; AufenthG § 84 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 5 Abs. 4; AufenthG § 54 Nr. 5a; AufenthG § 54 Nr. 6; AufenthG § 10 Abs. 1
Auszüge:

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, insbesondere ist der Rechtsweg im Sinne von § 49 Abs. 2 Satz 1 VerfGHG erschöpft. Der Beschwerdeführer kann nicht auf die noch ausstehende rechtskräftige Entscheidung im Hauptsacheverfahren verwiesen werden, denn der geltend gemachte Grundrechtsverstoß beruht gerade auf der Versagung von Eilrechtsschutz (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 35, 382 <397 f.>). Bereits die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes hat die Möglichkeit einer Abschiebung des Beschwerdeführers und damit u. a. die Vereitelung des von ihm beanspruchten Rechtes auf ein ununterbrochenes familiäres Zusammenleben aus Art. 12 Abs. 1 VvB zur Folge.

Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht ebenfalls nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer nach Rücknahme seiner Asylklage – soweit bekannt – keinen erneuten Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO gestellt hat. Zwar hat das Oberverwaltungsgericht die Versagung von Eilrechtsschutz im angegriffenen Beschluss auch mit einer durch das – zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossene – Asylverfahren ausgelösten Sperrwirkung für die Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis begründet, so dass im Hinblick darauf durch die Rücknahme der Asylklage veränderte Umstände eingetreten sind. Ein erneuter Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO durch den Beschwerdeführer wäre gleichwohl offensichtlich aussichtslos, weil das Oberverwaltungsgericht seine Entscheidung unabhängig von der Annahme einer Sperrwirkung des Asylverfahrens zusätzlich und in erster Linie damit begründet hat, dass der Beschwerdeführer den Ausweisungsgrund des § 54 Nr. 5a 4. Alt. AufenthG erfüllt und ihm deshalb auch im Lichte des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG der begehrte Aufenthaltstitel versagt bleiben müsse. Für diesen maßgeblichen Grund ist die Rücknahme der Asylklage ohne Bedeutung.

Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde mutet einem Beschwerdeführer nicht zu, ersichtlich aussichtslose Rechtsbehelfe – wie hier, wenn vorangegangene Entscheidungen das Ergebnis eines möglichen Rechtsbehelfs bereits vorzeichnen – zu ergreifen (vgl. für das Bundesrecht: BVerfG, NJW 2005, 1105 <1106>; BVerfGE 38, 105 <110>; vgl. auch BVerfGE 9, 3 <7 f.>).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Das Oberverwaltungsgericht hat dem Beschwerdeführer verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz unter Verletzung seines Grundrechts auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 15 Abs. 4 VvB versagt.

b) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht.

aa) Sie lässt – auch unter Berücksichtigung des von ihr in Bezug genommenen Beschlusses vom 11. Januar 2007 – hinreichende, auf Tatsachen gestützte Erwägungen des Inhalts vermissen, es bestehe in der Zeit bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache ein besonderes öffentliches Vollzugsinteresse an der sofortigen Durchsetzung der – hier allein aus der Versagung der beantragten Aufenthaltserlaubnis abgeleiteten, kraft Gesetzes (§ 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) sofort vollziehbaren – Ausreisepflicht des Beschwerdeführers, das über dessen erhebliche private, insbesondere familiäre Interessen am – zumindest vorläufigen – Verbleib im Bundesgebiet hinausgeht. Eine solche konkrete Interessen- und Folgenabwägung für die Zeit bis zum Vorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache war nicht schon deshalb entbehrlich, weil – wie vom Oberverwaltungsgericht in den Beschlüssen vom 11. Januar und 28. Juni 2007 näher dargelegt – der Gesetzgeber durch die Regelung des § 5 Abs. 4 Satz 1 AufenthG (i. V. m. § 54 Nr. 5a 4. Alt. AufenthG) den Interessenkonflikt zwischen den Sicherheitsinteressen des Staates und den grundrechtlich geschützten familiären Belangen des Betroffenen zugunsten der Sicherheitsinteressen entschieden habe. Damit ist lediglich das allgemeine öffentliche Interesse und das (gesetzgeberische) Motiv für den Erlass entsprechender Verwaltungsakte beschrieben. Das in jedem Einzelfall konkret darzulegende besondere Vollzugsinteresse lässt sich allein hiermit nicht begründen.

bb) Eine verfassungsrechtlich tragfähige Rechtfertigung für die Aufhebung der vom Verwaltungsgericht nach § 80 Abs. 7 VwGO angeordneten Aussetzung der sofortigen Vollziehung und die damit zulasten des Beschwerdeführers verbundene Verkürzung effektiven Rechtsschutzes ist auch sonst nicht ersichtlich.

(1) Eine solche lässt sich nicht daraus herleiten, dass es sich vorliegend um eine Entscheidung nach § 80 Abs. 7 VwGO handelt. Zwar mag im Falle des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO – wie der Beteiligte zu 1. in seiner Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde ausgeführt hat – eine erneute umfassende Interessenabwägung entbehrlich sein, wenn bereits die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Änderungsantrag fehlen. Ersichtlich haben jedoch sowohl das Verwaltungsgericht als auch das Oberverwaltungsgericht eine Änderung des ursprünglichen Beschlusses vom 11. Januar 2007 auch gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO, also von Amts wegen, geprüft. Der Maßstab einer solchen Prüfung entspricht dem einer erstmaligen Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO (vgl. BVerwGE 96, 239 <240>), d. h. die Einschränkungen des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO gelten insofern nicht. Das Oberverwaltungsgericht hätte deshalb in dem angefochtenen Beschluss eine umfassende Prüfung und Interessenabwägung – im oben dargestellten Sinn – vornehmen müssen. Daran fehlt es.

(2) Außerdem durfte das Oberverwaltungsgericht die erforderliche Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses mit den privaten Belangen des Beschwerdeführers nicht auf den von ihm offenbar für allein maßgeblich erachteten Gesichtspunkt fehlender Erfolgsaussichten der Verpflichtungsklage auf Erteilung der beantragten Aufenthaltserlaubnis zur Fortführung der ehelichen (und inzwischen auch familiären) Lebensgemeinschaft reduzieren, zumal sich die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Ablehnung und Abschiebungsandrohung – jedenfalls nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand – nicht ohne weiteres erschließt.

Ob und ggf. unter welchen Umständen die Prognose offensichtlicher Aussichtslosigkeit von Rechtsmitteln gegen aufenthaltsbeendende Maßnahmen allein – ohne die regelmäßig erforderliche Abwägung im Einzelfall unter Berücksichtigung etwaiger Gefährdungen bis zum Abschluss des Verfahrens in der Hauptsache – den Sofortvollzug der Abschiebung des Ausländers rechtfertigen kann, bedarf aus Anlass des vorliegenden Falles keiner weiteren Erörterung und Entscheidung. Weder hat das Oberverwaltungsgericht die offensichtliche Rechtmäßigkeit der angefochtenen Ablehnung einer weiteren Aufenthaltsgenehmigung und der Abschiebungsandrohung ausdrücklich festgestellt noch hat es eine – wie der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Beschluss zum Erlass der einstweiligen Anordnung vom 27. September 2007 (VerfGH 103 A/07) angeführt hat – aktuelle, vom Beschwerdeführer ausgehende islamistische oder gar terroristische Bedrohung, die sich bereits während des anhängigen Hauptsacheverfahrens verwirklichen könnte, angenommen oder auch nur unterstellt.

Jedenfalls fehlt für eine tragfähige Prognose der Erfolgsaussichten der Klage (im Hinblick auf den eine Aufenthaltserlaubnis ausschließenden Ausweisungsgrund des öffentlichen Gewaltaufrufs nach § 54 Nr. 5a 4. Alt. i. V. m. § 5 Abs. 4 AufenthG) durch das Oberverwaltungsgericht die Auseinandersetzung mit den Einlassungen des Beschwerdeführers zum "Pharao-Vergleich" vor dem Verwaltungsgericht und zu dessen Schlussfolgerungen hinsichtlich des Kreises der Zuhörer.

(3) Auch soweit das Oberverwaltungsgericht die Annahme fehlender Erfolgsaussichten der Klage zusätzlich auf den Versagungsgrund des § 10 Abs. 1 AufenthG wegen Vorliegens eines Ausweisungsgrundes gemäß § 54 Nr. 6 AufenthG gestützt hat, ist es schon nicht – oder jedenfalls nicht erkennbar – von einer daraus folgenden offensichtlichen Rechtmäßigkeit der Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis und Androhung der Abschiebung ausgegangen.

Obwohl sich die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der Klage im vorläufigen Rechtsschutzverfahren naturgemäß am "Ist"-Zustand, also an der gegenwärtigen Sach- und Rechtslage orientieren muss, dürfen jedoch, weil eine Prognoseeinschätzung über den wahrscheinlichen Ausgang des Hauptsacheverfahrens getroffen werden soll, zur Wahrung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz bereits absehbare oder wahrscheinliche Änderungen der Sach- oder Rechtslage nicht ausgeblendet werden (vgl. etwa OVG Berlin, DÖV 1999, 169 zu einer baurechtlichen Nachbarklage; ferner Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, Rn. 147 und 158 zu § 80). Die Möglichkeit, dass das Hindernis des § 10 Abs. 1 AufenthG bis zur Berufungsentscheidung wegfallen konnte, entweder durch rechtskräftiges Asylurteil oder durch Rücknahme der Asylklage, war jedenfalls nahe liegend.

Das Oberverwaltungsgericht hat mit dem Unterlassen einer (erneuten und) umfassenden Interessen- und Folgenabwägung im Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO, unter Berücksichtigung namentlich des grundrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie aus Art. 12 Abs. 1 VvB, das Recht des Beschwerdeführers auf wirkungsvollen Rechtsschutz aus Art. 15 Abs. 4 VvB verletzt.