OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Beschluss vom 08.02.2008 - 2 A 16/07 - asyl.net: M12575
https://www.asyl.net/rsdb/M12575
Leitsatz:

Ein genereller Abschiebungsstopp (hier: Kosovo-Minderheiten) bedeutet nicht zwingend, dass die Ausreise i.S.d. § 25 Abs. 5 AufenthG unmöglich ist; hat das Bundesamt wegen eines Abschiebungsstopps nicht geprüft, ob ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung wegen einer extremen allgemeinen Gefahrenlage besteht, ist die Ausländerbehörde ausnahmsweise zu dieser Prüfung im Rahmen der Anwendung des § 25 Abs. 5 AufenthG befugt; dabei muss sie aber die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG beachten, so dass allgemeine Gefahren in der Regel kein Abschiebungsverbot begründen.

 

Schlagwörter: Serbien, Kosovo, Berufungszulassungsantrag, ernstliche Zweifel, Ausreisehindernis, freiwillige Ausreise, Zumutbarkeit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Abschiebungsstopp, Erlasslage, Prüfungskompetenz, sachliche Zuständigkeit, Ausländerbehörde, abgelehnte Asylbewerber, Ablehnungsbescheid, Bindungswirkung, Roma, UNMIK, Versorgungslage, Wohnraum
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5; AufenthG § 60 Abs. 7; VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1; AsylVfG § 42
Auszüge:

Ein genereller Abschiebungsstopp (hier: Kosovo-Minderheiten) bedeutet nicht zwingend, dass die Ausreise i.S.d. § 25 Abs. 5 AufenthG unmöglich ist; hat das Bundesamt wegen eines Abschiebungsstopps nicht geprüft, ob ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung wegen einer extremen allgemeinen Gefahrenlage besteht, ist die Ausländerbehörde ausnahmsweise zu dieser Prüfung im Rahmen der Anwendung des § 25 Abs. 5 AufenthG befugt; dabei muss sie aber die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG beachten, so dass allgemeine Gefahren in der Regel kein Abschiebungsverbot begründen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung (§§ 124a Abs. 4, 124 Abs. 1 VwGO) gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 15.11.2006 - 10 K 103/05 -, mit dem seine Klage auf Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgewiesen wurde, muss erfolglos bleiben.

Ernstliche Richtigkeitszweifel ergeben sich zunächst nicht aus seinem Verweis auf den in einem Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes des Klägers auf Gewährung von Leistungen nach § 2 AsylbLG ergangenen Beschluss des Verwaltungsgerichts s dem Jahre 2003 (vgl. VG des Saarlandes, Beschluss vom 22.7.2003 - 4 F 98/03 -). Dieser Entscheidung kommen im vorliegenden Verfahren keinerlei Bindungswirkungen zu.

Soweit der Kläger unter Hinweis auf ein sich bereits aus derartigen Abschiebestopperlassen (§§ 60a Abs. 1, 23 Abs. 1 AufenthG, vormals § 54 AuslG) sowie auf den aus seiner Sicht daraus zu entnehmenden "Verzicht auf eine Einzelfallprüfung" die Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils in Frage stellt, kann dem ebenfalls nicht gefolgt werden. Der generelle Schluss von einem durch ministeriellen Erlass geregelten Abschiebestopp auf eine von § 25 Abs. 5 Sätze 1 und 2 AufenthG für den Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf dieser Grundlage vorausgesetzte Unmöglichkeit auch der freiwilligen Ausreise ist nicht gerechtfertigt. Eine freiwillige Ausreise ist für einen Ausländer aus rechtlichen Gründen dann im Sinne der Vorschrift unmöglich, wenn ihr inlands- oder zielstaatsbezogene rechtliche Hindernisse entgegenstehen, die seine Ausreise entweder ausschließen oder die sie ihm als unzumutbar erscheinen lassen. Insofern ist eine differenzierte Betrachtung mit Blick auf die dem jeweiligen Erlass zugrunde liegenden Gründe geboten. Die Unmöglichkeit der Abschiebung ist entgegen der Ansicht des Klägers auch bei von den obersten Landesbehörden verfügten allgemeinen Abschiebestopps nicht automatisch mit der Unmöglichkeit einer freiwilligen Ausreise gleichzusetzen. Eine solche generelle Regelung kann im Einzelfall eine Reaktion auf die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland darstellen, sie kann aber auch eine Konsequenz aus anderen, eine Abschiebung (momentan) nicht möglich erscheinen lassenden Umständen sein, die der freiwilligen Rückkehr des Ausländers in sein Heimatland unter Umständen nicht entgegenstehen. Das hat das Bundesverwaltungsgericht beispielsweise für einen auf der entsprechenden Beschlusslage der Konferenz der Innenminister beruhenden bayerischen Abschiebestopperlass für irakische Staatsangehörige entschieden. Dieser beruhte nicht auf humanitären Gründen, sondern darauf, dass es keine Flugverbindungen gab und dass zudem ein Rückübernahmeabkommen mit dem Irak fehlte, der Abschiebung also letztlich logistische Hindernisse entgegen standen (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 27.6.2006 - 1 C 14.05 -, DVBl. 2006, 1509-1512).

Für den hier allein maßgeblichen aktuellen Erlass des Ministeriums für Inneres, Familie, Frauen und Sport betreffend die Rückführung ethnischer Minderheiten in das Kosovo vom Mai 2005 (vgl. den Erlass vom 23.5.2005 - 5 5518/1-04-11 Kosovo -) gilt nichts anderes. Darin heißt es im Abschnitt 2. unter der Überschrift "Rückführung von Roma", bei den Verhandlungen mit der UNMIK sei der deutschen Seite ein Einstieg in den Rückführungsprozess gelungen. Die UNMIK habe sich zu einer Rückübernahme zunächst zahlenmäßig begrenzter Kontingente von Roma in das Kosovo bereit erklärt, wobei erst die Rückführung von straffällig gewordenen und nicht schutzbedürftigen Personen aus der Volksgruppe geprüft werden solle. Vor dem Hintergrund ist festzuhalten, dass auch die internationale Verwaltung vor Ort eine Rückkehr von Roma in das Kosovo grundsätzlich für möglich hält. Dabei ist klarzustellen, dass die Präferenz für erheblich straffällig gewordene Roma bedeutet, dass hiermit den erheblichen Interessen der Bundesrepublik Deutschland, zunächst gegenüber diesem Personenkreis bestehende Ausreisepflichten gegebenenfalls auch zwangsweise durchzusetzen, Rechnung getragen werden soll. Die Existenz des ministeriellen Erlasses vom Mai 2005 allein rechtfertigt daher nicht die Annahme der Unmöglichkeit der freiwilligen Rückkehr aufgrund der Volkszugehörigkeit. Auf Fragen der konkreten Gefährdungssituation für in den Kosovo zurückkehrende Roma wird in anderem Zusammenhang einzugehen sein.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils ergeben sich auch nicht mit Blick auf die seitens des Klägers zutreffend wiedergegebene Rechtsprechung des Senats zum Verhältnis von derartigen Abschiebestopperlassen zu auf die Feststellung des Vorliegens von allgemeinen zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gerichteten Rechtsbehelfen des von einer solchen ministeriellen Regelung begünstigten Ausländers. Der Kläger weist richtig darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung des OVG des Saarlandes (vgl. hierzu grundlegend OVG des Saarlandes, Urteil vom 5.6.2000 - 3 R 115/99 -, SKZ 2000, 264, Leitsatz Nr. 124, damals noch zu § 53 Abs. 6 AuslG und auf der Grundlage des generellen befristeten Abschiebestopps für ethnische Minderheiten aus dem Kosovo nach Abschnitt 11.5 der so genannten Altfallregelung des Ministeriums für Inneres und Sport vom 21.5.2000 - B 5 5518/1-04-11 (Kosovo) -, seither st. Rspr., etwa Beschlüsse vom 31.10.2001 - 1 Q 54/01 -, SKZ 2002, 170, Leitsatz Nr. 78, und vom 20.3.2003 - 1 Q 27/03 -, SKZ 2003, 233, Leitsatz Nr. 97, ebenso auch BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - 1 C 2.01 -, DVBl. 2001, 1531) die für die auch vom Kläger mit dem Verweis auf die allgemeine Situation der Volkzugehörigen der Roma vorliegend reklamierten allgemeinen Gefahrenlagen im Herkunftsland zu beachtende Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG (vormals: § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG) auch dann zu berücksichtigen ist, wenn eine ausländerrechtliche Erlasslage dem Ausländer einen wirksamen Schutz vor seiner Abschiebung vermittelt. Daraus folgt, dass der durch einen Abschiebestopp-Erlass geschützte Ausländer daran gehindert ist, ein Abschiebungshindernis aus einer solchen allgemeinen Situation im Abschiebezielstaat gegenüber dem Bundesamt mit Erfolg geltend zu machen. Die gegen dessen ablehnende Entscheidung eingeleiteten Rechtsbehelfe des Ausländers müssen also - wie im konkreten Fall des Klägers auch geschehen (vgl. hierzu VG des Saarlandes, Urteil vom 16.7.2004 - 10 K 91/03.A -) erfolglos bleiben, solange nicht ein Auslaufen beziehungsweise eine negative Veränderung der Erlasslage absehbar wird. Andererseits darf die Ausländerbehörde auch in Verfahren auf Erlangung eines Aufenthaltstitels mit Blick auf die dem § 42 AsylVfG zu entnehmende Bindungswirkung den Einwand zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) bei Asylbewerbern im Grundsatz nur berücksichtigen, wenn das nach § 31 Abs. 3 AsylVfG (1993/2005) zur Entscheidung darüber berufene Bundesamt für Migration und Flüchtlinge das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift positiv festgestellt hat (vgl. zu den Bindungswirkungen der negativen Entscheidungen des Bundesamts für die mit der Durchführung der Abschiebung betrauten Ausländerbehörden nach § 42 AsylVfG etwa OVG des Saarlandes, Beschlüsse vom 26.11.2007 - 2 B 461/07 -, vom 6.12.2006 - 2 W 31/06 -, vom 26.7.2006 - 2 W 21/06 -, vom 17.5.2006 - 2 W 11/06 -, SKZ 2006, 224, Leitsatz Nr. 65, vom 15.3.2005 - 2 W 5/05 -, SKZ 2005, 299, Leitsatz Nr. 53, vom 16.6.2005 - 2 W 9/05 -, vom 18.10.2005 - 2 W 15/05 -, SKZ 2006, 59, Leitsatz Nr. 71, und vom 8.12.2005 - 2 W 35/05 -, SKZ 2006, 61 Leitsatz Nr. 78, dazu auch BVerwG, Beschluss vom 3.3.2006 - 1 B 126.05 -, NVwZ 2006, 83).

Vor dem Hintergrund erscheint der Einwand der Möglichkeit einer materiellen Schutzlücke infolge der "Sperrung des Folge- beziehungsweise Wiederaufgreifensantrags" gegenüber dem Bundesamt hinsichtlich der im Falle ihres Vorliegens unter anderem bei Erlassen nach § 60a Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigenden allgemeinen Gefährdungslagen zunächst plausibel. Die von ihm gezogene Konsequenz für die Beurteilung des Tatbestandsmerkmals der Unmöglichkeit der (auch freiwilligen) Ausreise in § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG, wonach der Verweis des betroffenen Personenkreises auf die Möglichkeit eines freiwilligen Verlassens der Bundesrepublik Deutschland einen Verstoß gegen allgemeine Rechtsgrundsätze (§§ 242, 138 BGB entspr.) darstellen soll, kann indes nicht nachvollzogen werden. Verfassungsrechtlichen Anforderungen insbesondere im Hinblick auf die individuellen Grundrechte der Betroffenen ist vielmehr dadurch Rechnung zu tragen, dass speziell für diese Fallkonstellation ausnahmsweise eine durch das Fehlen einer positiven Entscheidung des Bundesamts zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht ausgeschlossene zielstaatsbezogene Prüfungszuständigkeit der Ausländerbehörde, gegebenenfalls nach Beteiligung des "sachnäheren" Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (§ 72 Abs. 2 AufenthG), bejaht wird (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 27.6.2006 - 1 C 14.05 -, DVBl. 2006, 1509-1512, wobei die Frage der Prüfungszuständigkeit dort allerdings letztlich wohl vom Prüfungsergebnis abhängig gemacht und unter Verweis auf das Nichtvorliegen einer entsprechenden Gefährdung im Irak letztlich offen gelassen worden ist).

Auch dies rechtfertigt indes keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die der Ausländerbehörde in Fallkonstellationen der vorliegenden Art ausnahmsweise zustehende eigene Prüfungskompetenz hinsichtlich eines von dem Ausländer ihr gegenüber reklamierten zielstaatsbezogenen Hindernisses für eine Rückkehr kann nicht weiter reichen als die dem Bundesamt zustehenden Befugnisse. Zu beachten ist insbesondere auch insoweit die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, wenn es sich - wie hier - um eine Geltendmachung einer so genannten Allgemeingefahr handelt, die nach Ansicht des Ausländers einer ganzen Bevölkerungsgruppe, der er angehört, hier den Roma im Kosovo, drohen soll. Insofern reicht also die Feststellung einer "erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit" im Verständnis des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, der individuelle Gefährdungen betrifft, nicht aus. Aus verfassungsrechtlichen Gründen ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vielmehr eine Einzelfallentscheidung des Bundesamtes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AuslG mit Blick auf die Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nur ausnahmsweise bei Vorliegen einer extremen allgemeinen Gefahrenlage zu verlangen, die jeden einzelnen betroffenen Ausländer aus der Bevölkerungsgruppe im Falle seiner Abschiebung oder - hier - seiner Rückkehr alsbald, das heißt zeitlich unmittelbar, "landesweit" und "sehenden Auges" dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde (vgl. dazu bereits OVG des Saarlandes, Urteile vom 21.9.2004 - 1 R 8/04 und 1 R 15/04 -, SKZ 2005, 100, Leitsatz Nr. 50, eingehend zu den insoweit strengen Anforderungen die zu den Bürgerkriegsfolgen in Afghanistan und Liberia ergangenen Urteile des BVerwG vom 17.10.1995 - 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 199, und vom 29.3.1996 - 9 C 116.95 -, DVBl. 1996, 1257; allgemein zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des früheren § 54 AuslG BVerfG, Beschluss vom 21.12.1994 - 2 BvL 81, 82/92 - VwZ 1995, 781). Eine solche Ausnahmesituation besteht für die Roma im Kosovo nicht.