VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 06.02.2008 - A 11 K 503/07 - asyl.net: M12628
https://www.asyl.net/rsdb/M12628
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Versorgungslage, alleinstehende Personen, soziale Bindungen, Situation bei Rückkehr, Wohnraum, Kabul, IOM, RANA-Programm, Überbrückungsgeld
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

3. Des Weiteren droht dem Kläger keine den Anforderungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG genügende individuelle Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit.

3.1. Von einer extremen Gefahrenlage i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG kann im Falle des Klägers nicht ausgegangen werden. Die allgemeine Sicherheitslage und die Gefahr, Opfer einer der zahlreichen, in afghanischem Boden liegenden Minen zu werden, rechtfertigen keine landesweite Gefahr (3.1.1.). Die aus der unzureichenden Versorgung unter bestimmten Voraussetzungen ableitbare extreme Gefahr ist hier infolge der Zusage finanzieller Mittel nicht gegeben (3.1.2.).

3.1.1. Zur Sicherheitslage hat das Verwaltungsgericht Karlsruhe im Urteil vom 08.01.2008 (A 11 K 242/06 ) Folgendes ausgeführt: ...

3.1.2. Nach der Rechtsprechung des VG Karlsruhe ist derzeit (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) eine extreme Gefahr aufgrund der allgemeinen unzureichenden Versorgungslage zu bejahen für die Bevölkerungsgruppe der langjährig in Europa ansässigen, nicht freiwillig zurückkehrenden Flüchtlinge, die nicht auf den Rückhalt von Verwandten oder Bekannten/Freunden in Afghanistan und/oder dortigen erreichbaren Grundbesitz zurückgreifen können und/oder über für ein Leben am Existenzminimum ausreichende Ersparnisse verfügen und die deshalb außer Stande sind, aus eigener Kraft für ihre Existenz zu sorgen (VG Karlsruhe, Urteile v. 08.01.2008 - A 11 K 242/06 - u. - A 11 K 970/06 - u. Urt. v. 13.11.2007 - A 11 K 517/06 -, Urt. v. 07.12.2007 - A 11 K 432/07 -, Urt. v. 29.03.2006 - A 10 K 10740/04 u. Urt. v. 21.12.2005 - A 10 K 12651/02 -; i. Erg. ebenso OVG Berlin-Brandenburg, Urteile v. 05.05.2006 - 12 B 11.05 - u. - OVG 12 B 9.05 -; VG München, Urt. v. 26.09.2007 - M 23 K 07.50548 - m.w.N. u. Urt. v. 09.03.2007 - M 23 K 07.50194 - u. - Urt. v. 12.03.2007 - M 23 K 04.51881 jeweils in <juris>; VG Frankfurt, Urt. v. 06.06.2007 - 3 E 4744/05.A - für alleinstehende junge Männer <juris> u. VG Frankfurt, Urt. v. 30.05.2007 - 3 E 614/04.A - für Frauen <juris>; a.A. OVG Sachsen, Urt. v. 23.08.2006 - A 1 B 58/06 - <juris>; OVG NW, Urt. v. 02.01.2007 - 20 A 424/05.A - u. - Urt. v. 21.03.2007 - 20 A 5164/04.A - in besonders gelagerten Einzelfällen u. Urt. v. 05.04.2006 - 20 A 5161/04.A - jeweils in <juris>; Bay. VGH, Beschl. v. 21.09.2007 - 6 ZB 06.31140 <juris>).

Auch wenn der Kläger in Afghanistan nicht auf Familienmitglieder zurückgreifen kann, droht ihm trotz der geschilderten schlechten Versorgungslage aufgrund der Zusage finanzieller Mittel im Falle seiner Abschiebung keine extreme Gefahrenlage i. S. d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG.

Ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu den Voraussetzungen einer extremen Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG (Beschl. v. 16.09.2004 1 - 132/04 , a.a.O., m.w.N. zu § 53 Abs. 6 S. 1 u. 2 AuslG 1990) ist eine solche aufgrund der schlechten Versorgungslage in Afghanistan dann nicht gegeben, wenn im Einzelfall mit hinreichender Sicherheit angenommen werden kann, dass mit der Gewährung finanzieller Mittel der Entstehung einer extremen Gefahrenlage entgegengewirkt wird und deshalb die von der Rechtsprechung geforderte erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Annahme einer extremen Gefahrenlage zu verneinen ist. Die Zusage einer finanziellen Unterstützung muss, wenn sie rechtserheblich sein soll, rechtlich und tatsächlich geeignet sein, die Versorgungslage für den Betroffenen bei seiner Rückkehr in sein Heimatland so günstig zu verändern, dass keine extreme Gefahr droht, und sie muss es ihm ermöglichen, dass er sich "alsbald" eine Lebensgrundlage verschaffen kann. Für diese zeitliche Komponente hat das Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 17.10.2006 , DVBl. 2007, 254 ff.) im Zusammenhang mit einem Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen Erkrankungen gefordert, erforderlich sei die Würdigung der Wahrscheinlichkeit „innerhalb eines überschaubaren Zeitraums nach der Rückkehr“. Damit ist kein fester Zeitraum in dem Sinne gemeint, dass Gefahren, die nach Ablauf von zwei Jahren zu erwarten sind, nicht mehr als konkret angesehen werden könnten. Es ist aber rechtsfehlerfrei, einen Zeitraum von zwei Jahren zugrunde zu legen, wenn es darum geht, die die extreme Gefahr abwendende Kostenzusage darauf zu überprüfen, ob sie rechterheblich ist. Denn eine in diesem Zeitraum eintretende Gefahr wäre „alsbald“ entstanden.

Die Zusage des Regierungspräsidiums Karlsruhe erfüllt diese Anforderungen, sie ist tatsächlich und rechtlich geeignet, eine extreme Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG im Falle des Klägers zu verhindern. Das Regierungspräsidiums Karlsruhe hat wie in der mündlichen Verhandlung am 08.01.2008 angekündigt mit Schriftsatz vom 09.01.2008 zugesagt, dass der Kläger "bei einer Abschiebung die vom Landkreis Freudenstadt zugesagte Leistung der Kosten des notwendigen Lebensunterhalts für zwei Jahre in Afghanistan in Höhe von insgesamt 2.400,– EUR in der vom Gericht gewünschten Form und Stückelung (z.B. in Form eines größeren Anfangsbetrages in Höhe von 1.000,– EUR und anschließender Zahlung des Restbetrags in monatlichen Raten) in Afghanistan zur Verfügung stehen wird. Das Regierungspräsidium Karlsruhe wird den Betrag in der vom Verwaltungsgericht Karlsruhe gewünschten Form übermittelt (z.B. durch Überweisung auf ein vor der Abschiebung für den Kläger eingerichtetes Bankkonto bei einer in Kabul ansässigen Bank)" dem Kläger "in Afghanistan im Falle der Abschiebung übermitteln und intern mit dem Landratsamt verrechnen." Bei dieser Kostenzusage handelt es sich gegenüber dem Kläger um einen Verwaltungsakt (§ 35 VwVfG), der nicht auf den Erlass eines Verwaltungsakts gerichtet ist, sondern auf ein Handeln bzw. eine Leistung. Ob hierfür § 38 VwVfG anwendbar ist (VGH Bad.-Württ. Urt. v. 02.07.1990 - 8 S 524/90 -, VBlBW 1991,18 ff. m.w.N.; s. BVerwGE 97,323 ff.; zum Ganzen: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 6. Aufl., § 38 Rdnr. 10 ff. m.w.N.), und wenn ja, in welchem Umfang, kann hier offen bleiben. Das Regierungspräsidium Karlsruhe ist als die für die Abschiebung zuständige Behörde (§ 6 AAZuVO) ermächtigt, für das Land Baden-Württemberg die Übernahme von Kosten zuzusagen, die es intern mit einem Kostenträger (hier dem Landkreis Freudenstadt) ausgleichen wird. Die Zusage ist gegenüber dem Bundesamt wirksam. Unerheblich ist ferner, dass die Zusage für den Gesamtbetrag von 2.400,– EUR nur für den Fall der "Abschiebung", nicht auch für die freiwillige Ausreise gilt. Denn bei der Frage, ob die extreme Gefahr besteht oder beseitigt werden kann, sind alle im Einzelfall gegebenen besonderen Umstände zu berücksichtigen. Ist die extreme Gefahr dadurch abwendbar, dass der Kläger eine angemessene finanzielle Zuwendung erhält, müssen und dürfen auch die mit ihr verbundenen und für den Kläger zumutbaren Bedingungen bei der Prognose bezüglich des Eintritts der erhöhten Wahrscheinlichkeit berücksichtigt werden. Dass die Inanspruchnahme einer finanziellen Hilfe in Höhe von 2.400,– EUR nur für den Fall der Abschiebung gilt, ist für den Kläger zumutbar. Darauf, ob die in der Praxis gewährte Förderung bei einer freiwilligen Rückkehr (100,– EUR Reisebeihilfe und 500,– EUR Starthilfe) ausreichend wäre, kommt es hiernach nicht an.

Der Gesamtbetrag in Höhe von 2.400,– EUR und die vorgeschlagene Stückelung sowie die Einrichtung eines Kontos für den Kläger in Kabul bieten ausreichend Gewähr dafür, dass der Kläger ggf. auch ohne Familienangehörige in Afghanistan eine Arbeit und damit eine Lebensgrundlage für sich finden kann.

Sowohl der Höhe nach als auch nach der versprochenen Stückelung und der Form der Bereitstellung des Geldes auf einem für den Kläger eingerichteten Konto in Afghanistan ist der Betrag von 2.400,– EUR angemessen und geeignet, die für eine alleinstehende Person im Falle der Rückkehr befürchtete aus der schlechten Versorgungslage herrührende erhöhte Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahr auszuräumen.

Der Kläger ist aufgrund seiner Vorbildung und den im Bundesgebiet gewonnenen Erfahrungen in der Lage, in Kabul eine Arbeit zu finden. Seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung zufolge arbeitete er von 2004 bis 2006 in der Gastronomie, danach verlor er seine Arbeitserlaubnis. In seinem Heimatland war er in seiner Familie in der Landwirtschaft und beim Verkauf selbst erzeugter Produkte wie Gemüse beschäftigt. Selbst wenn er nicht mehr auf den Grundstücksbesitz seiner Familie zurückgreifen kann, verhelfen ihm die mittlerweile erlernten Fähigkeit und Erfahrungen dazu, in absehbarer Zeit eine Arbeit in Afghanistan zu finden. Die finanzielle Unterstützung ermöglicht dem Kläger, in der Anfangszeit seiner Rückkehr einige Nächte in einem Hotel zu übernachten und sich zu verpflegen, um dann ein geeignetes Zimmer oder eine Wohnung zu finden. Sie erleichtert ihm auch, eine entsprechende Unterkunft anzumieten und ggf. die Miete für ein Jahr im Voraus zu entrichten, was in Afghanistan derzeit üblich ist.

3.2. Es besteht auch kein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG (s. hierzu OVG Schleswig-Holstein, Urt. v. 21.11.2007 - 2 LB 38/07 -, UA S. 15 ff.) und des Art. 15 Buchstabe c) i.V.m. Art. 6 und 18 RL 2004/83/EG. Der Klageantrag ist sinngemäß auch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach internationalem Recht gerichtet (§ 88 VwGO). Gemäß § 60 Abs. 11 S. 1 AufenthG gelten für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach Abs. 7 S. 2 Art. 4 Abs. 4, Art. 5 Abs. 1 und 2 und die Artikel 6 bis 8 der RL 2004/83/EG. Ob und gegebenenfalls wodurch sich die in § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG genannte "erhebliche individuelle Gefahr" und die in Art. 15 Buchstabe c) RL 2004/83/EG erwähnte "ernsthafte individuelle Bedrohung" unterscheiden und ob § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG den gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrang verletzt, bedarf im vorliegenden Fall keiner abschließenden Entscheidung (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 08.08.2007 - A 2 S 229/07 <juris> zur Heranziehung von Erwägungsgründen <juris>; Hruschka, a.a.O., 645 ff.; Marx, InfAuslR 2007, 413 ff., 424 m.w.N. u. derselbe, a.a.O., § 40 Rdnr. 4 ff., § 42 Rdnr. 1 ff.; OVGNW, Urt. v. 21.03.2007 - 20 A 5164/04.A <juris>; M. Kalkmann, Asylmagazin 2007, 4 ff.). Für Afghanistan ist derzeit weder eine "erhebliche individuelle Gefahr" noch eine "ernsthafte individuelle Bedrohung" anzunehmen (i. Erg. ebenso OVG Schleswig-Holstein, Urt. v. 21.11.2007 - 2 LB 38/07 -, UA S. 10 ff.; OVG, Urt. v. 21.03.2007 - 20 A 5164/04.A -; vgl. auch Hess. VGH, Beschl. v. 26.06.2007 - 8 ZU 452/06.A <juris>). Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Urteile des erkennenden Gerichts vom 08.01.2008 (A 11 K 242/06 u. A 11 K 970/06) verwiesen.