OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.01.2008 - 18 B 1252/07 - asyl.net: M12642
https://www.asyl.net/rsdb/M12642
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Abänderungsantrag, Fortgeltungsfiktion, Verlängerung, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerungsantrag, verspäteter Antrag, einstweilige Anordnung, Abschiebungshindernis, Schutz von Ehe und Familie, deutsche Kinder, Eltern-Kind-Verhältnis, Straftat, Privatleben, Integration, Verhältnismäßigkeit
Normen: VwGO § 80 Abs. 7; AufenthG § 81 Abs. 4; VwGO § 123 Abs. 1; AufenthG § 60a Abs. 2; GG Art. 6 Abs. 1; EMRK Art. 8
Auszüge:

Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

I. Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller zunächst den Hauptantrag, die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage gegen die Abschiebungsandrohung der Antragsgegnerin im Bescheid vom 30. November 2006 anzuordnen. Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist dieser Antrag nach § 80 Abs. 7 AufenthG unzulässig. Der Antragsteller macht hierzu mit der Beschwerde geltend, ein veränderter Umstand liege darin, dass er am 26. Juli 2007 einen Antrag auf "Erteilung/Verlängerung" einer Aufenthaltserlaubnis gestellt habe, und verweist auf die Rechtsprechung des Senats, derzufolge die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG auch bei verspäteten Verlängerungsanträgen eintreten kann, wenn ein innerer Zusammenhang zwischen Ablauf der Aufenthaltserlaubnis und Antrag gewahrt ist (vgl. Senatsbeschluss vom 23. März 2006 - 18 B 120/06 -, NWVBl. 2006, 368).

Vorliegend kann jedoch ungeachtet der vom Antragsteller vorgetragenen Umstände schon aufgrund des erheblichen Zeitablaufs der insoweit erforderliche innere Zusammenhang nicht angenommen werden. Die dem Antragsteller erteilte Aufenthaltserlaubnis lief am 4. Juli 2006 ab. Der von der Beschwerde herangezogene Verlängerungsantrag ist mithin über ein Jahr nach Ablauf der Aufenthaltserlaubnis gestellt worden. Die Frist geht über die in § 81 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, § 41 Abs. 3 Satz 1 AufenthV genannten Fristen, die Anhaltspunkte für äußere Grenzen der insoweit noch möglichen Dauer der Säumnis markieren könnten, deutlich hinaus.

II. Der mit der Beschwerde hilfsweise verfolgte Abschiebungsschutzantrag des Antragstellers gemäß § 123 VwGO ist nicht begründet.

Dabei fasst der Senat den gestellten Antrag mit Rücksicht auf dessen weitergehende Begründung zugunsten des Antragstellers dahin auf, dass dieser nicht nur Abschiebungsschutz wegen des gestellten Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und für die Dauer des Erteilungsverfahrens beansprucht. Denn ein so beschränkter Antrag wäre nach der Senatsrechtsprechung unzulässig. Danach kann einem Ausländer ein Anspruch auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung bzw. auf Gewährung von Abschiebungsschutz nicht allein im Hinblick darauf zustehen, dass er die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis beantragt hat. Wenn der Antrag – wie hier der des Antragsteller – ein fiktives Aufenthaltsrecht nach § 81 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 AufenthG nicht auszulösen vermochte, scheidet aus gesetzessystematischen Gründen die Erteilung einer Duldung allein wegen des geltend gemachten Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und für die Dauer des Erteilungsverfahrens grundsätzlich aus (vgl. näher nur Senatsbeschluss vom 11. Januar 2006 - 18 B 44/06 - mit weiteren Nachweisen).

1. Die rechtliche oder tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung des Antragstellers folgt nicht daraus, dass – wie die Beschwerde näher erläutert – die Ausweisungsentscheidung vom 30. November 2006 rechtswidrig sei, weil – unter anderem – die von dem Antragsteller ausgehende Wiederholungsgefahr gering sei und hinsichtlich bestimmter von ihm begangener strafrechtlicher Verurteilungen ein Verwertungsverbot bestehe. Ein rechtlicher Ansatz dafür, inwieweit allein dieser Umstand auf die Unmöglichkeit der Abschiebung des auch ohne die Ausweisung ausreisepflichtigen Antragstellers führen sollte (vgl. insoweit die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgericht im Beschluss 24 L 2412/06), ist nicht ersichtlich.

2. Die rechtliche oder tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung des Antragstellers oder das Erfordernis seiner Anwesenheit im Bundesgebiet lässt sich ferner nicht aus Art. 6 GG, Art. 8 EMRK unter dem Gesichtspunkt des Schutzes des Familienlebens ableiten.

Allerdings ist der Antragsteller Vater der am 26. November 2002 geborenen deutschen Staatsangehörigen ... . Im Hinblick auf die Bedeutung des sonach einschlägigen Art. 6 GG gilt Folgendes:

Die in Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Ausländerbehörde dazu, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, in ihren Erwägungen angemessen zur Geltung zu bringen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite die sonstigen Umstände des Einzelfalls. Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kinder deutscher Staatsangehöriger ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Allerdings setzen sich auch gewichtige familiäre Belange nicht stets gegenüber gegenläufigen öffentlichen Interessen durch. Insbesondere dann, wenn die Geburt eines Kindes nicht eine "Zäsur" in der Lebensführung des betroffenen Ausländers darstellt, die in Anbetracht aller Umstände erwarten lässt, dass er bei legalisiertem Aufenthalt keine weiteren Straftaten mehr begehen wird, kommt ein Vorrang der gegen eine weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet sprechenden Gründe in Betracht (vgl. zum Ganzen BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 -, NVwZ 2006, 682).

Gemessen hieran steht dieWertentscheidung aus Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 GG aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegen den Antragsteller nicht entgegen.

Insoweit ist vorliegend zunächst berücksichtigen, dass die zwischen dem Antragsteller und seiner Tochter bestehenden Kontakte in den vergangenen Jahren von geringer Quantität und Qualität waren und dementsprechend von einer intensiven Bindung des Kindes an den Vater nicht gesprochen werden kann.

Auch wenn man von einem Eingriff in das Recht des Antragstellers auf Familienleben im Sinne von Art. 6 GG, Art. 8 EMRK ausgeht, ist dieser unter Berücksichtigung der Umstände des Falles im Übrigen verhältnismäßig. Hierfür ist Folgendes maßgeblich: Der Antragsteller ist während seines Aufenthalts in Deutschland in erheblichem Umfang und in sich steigernder Weise straffällig geworden (a). Er verfügt weiterhin in Deutschland – von seiner Tochter abgesehen – nicht über festigende soziale und wirtschaftliche Bindungen, so dass die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten nicht gering ist (b). Die Beziehung zu seiner Tochter hat den Antragsteller nicht von seinen zuletzt erheblichen Straftaten abhalten können (c). Schließlich ist der Antragsteller auch nicht ohne Chance, jemals ins Bundesgebiet zurückkehren zu können (d).

3. Die rechtliche oder tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung des Antragstellers lässt sich ferner nicht aus Art. 8 EMRK unter dem Gesichtspunkt des Schutzes des Privatlebens ableiten.

Das Recht auf Achtung des Privatlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist weit zu verstehen und umfasst seinem Schutzbereich nach unter anderem das Recht auf Entwicklung der Person und das Recht darauf, Beziehungen zu anderen Personen und der Außenwelt anzuknüpfen und zu entwickeln, und damit auch die Gesamtheit der im Land des Aufenthalts gewachsenen Bindungen (vgl. Senatsbeschluss vom 7. Februar 2006 - 18 E 1534/05 -, NVwZ-RR 2006, 576 = AuAS 2006, 110).

Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährt jedoch nicht das Recht, den Ort zu wählen, der am besten geeignet ist, ein Privat- und Familienleben aufzubauen (vgl. EGMR (III. Sektion), Entscheidung vom 7. Oktober 2004 33743/03 (Dragan), NVwZ 2005, 1043 (1045)).

Die Vorschrift des Art. 8 Abs. 1 EMRK darf auch nicht so ausgelegt werden, als verbiete sie allgemein die Abschiebung eines fremden Staatsangehörigen oder vermittle diesem ein Aufenthaltsrecht allein deswegen, weil er sich eine bestimmte Zeit im Hoheitsgebiet des Vertragsstaates aufgehalten hat (vgl. EGMR (III. Sektion), Entscheidungen vom 16. September 2004 11103/03 (Ghiban), NVwZ 2005, 1046 und vom 7. Oktober 2004 33743/03 (Dragan), NVwZ 2005, 1043 (1045)).

Entscheidend ist vielmehr, ob der Betroffene im Aufenthaltsstaat über intensive persönliche und familiäre Bindungen verfügt, aufgrund derer er in seiner gesamten Entwicklung faktisch zu einem Inländer geworden ist, weshalb ihm bei einem Verlassen des Aufnahmestaates eine Entwurzelung droht. Dem ist regelmäßig gegenüber zu stellen, inwieweit ein Ausländer noch im Land seiner Staatsangehörigkeit verwurzelt ist. Überwiegt diese Verwurzelung – z.B. bei langjährigem Aufenthalt im Heimatstaat und relativ kurzer Aufenthaltsdauer in Deutschland –, so ist regelmäßig bereits der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht eröffnet. Bei Eröffnung des Schutzbereichs ist im Rahmen der gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu ermitteln, ob dem Ausländer wegen der Besonderheiten seines Falles ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit nicht zugemutet werden kann. In diesem Zusammenhang ist seine Rechtsposition gegen dem Recht der Bundesrepublik auf Einwanderungskontrolle – insbesondere der Aufrechterhaltung der Ordnung im Fremdenwesen – in einer Weise abzuwägen, dass ein ausgewogenes Gleichgewicht der beiderseitigen Interessen gewahrt ist (vgl. EGMR, Urteil vom 30. November 1999 34374/97 (Baghli), InfAuslR 2000, 53 und Entscheidung vom 16. September 2004 11103/03 (Ghiban), NVwZ 2004, 1046).

Insoweit ist zum Einen in Rechnung zu stellen, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist.

Zwar sind auf Seiten des Antragstellers gewichtige Interessen zu berücksichtigen. Auf der anderen Seite aber sprechen wesentliche Gründe gegen seine gelungene Verwurzelung in Deutschland. Im Wesentlichen fällt dabei die erhebliche Straffälligkeit des Antragstellers ins Gewicht, die belegt, dass der Antragsteller nicht bereit gewesen ist, die hier geltenden Gesetze und Rechtsgüter anderer zu achten.