VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 08.01.2008 - 10 B 07.304 - asyl.net: M12681
https://www.asyl.net/rsdb/M12681
Leitsatz:

Der Ausweisungsschutz nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU bzw. Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie ist nicht auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anwendbar.

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Ermessensausweisung, Türken, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Drogendelikte, besonderer Ausweisungsschutz, schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Europäisches Niederlassungsabkommen, Schutz von Ehe und Familie, Privatleben, Europäische Menschenrechtskonvention, Wirkungen der Ausweisung, Sperrwirkung, Befristung, Unionsbürgerrichtlinie, zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit, Wiederholungsgefahr
Normen: RL 64/221/EWG Art. 9 Abs. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 7; AufenthG § 55; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 2; ENA Art. 3 Abs. 3; GG Art. 6 Abs. 1; EMRK Art. 8; FreizügG/EU Art. 6 Abs. 5; RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3
Auszüge:

Der Ausweisungsschutz nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU bzw. Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie ist nicht auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anwendbar.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg, weil der angegriffene Bescheid rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die Ausweisung erweist sich auch materiell als rechtmäßig.

2.1 Da der Kläger als türkischer Staatsangehöriger ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80 besaß, kommt nur eine Ermessensausweisung nach § 55 AufenthG in Betracht (vgl. BVerwGE 121, 315). Im vorliegenden Fall verlangt § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für die Ausweisung, weil der Kläger den besonderen Ausweisungsschutz des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG genießt. Denselben Anforderungen muss die Ausweisung nach Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13. Dezember 1955 (BGBl II 1959, S. 997) genügen (vgl. BVerwGE 101, 247). Wegen der Übertragung der Grundsätze des gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsschutzes auf die Beschränkungen des Aufenthaltsrechts nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 (vgl. EuGH vom 11.11.2004, Cetinkaya, NVwZ 2005, 198; vom 2.6.2005, Dörr und Ünal, a.a.O.) setzt eine Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger voraus, dass aufgrund des persönlichen Verhaltens des Betroffenen eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. EuGH vom 27.10.1977, Boucherau, Slg. 1977, 1999; vom 29.4.2004, Orfanopoulos und Olivieri, NVwZ 2004, 1099). Darüber hinaus hängt die Rechtmäßigkeit der Ausweisung davon ab, dass das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit das private Interesse des Betroffenen an seinem Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt (vgl. EuGH vom 29.4.2004, Orfanopoulos und Olivieri, a.a.O.; EGMR vom 22.3.2007, Maslov, InfAuslR 2007, 221; vom 31.1.2006, Sezen, InfAuslR 2006, 255; vom 2.8.2001, Boultif, InfAuslR 2001, 476; BVerfG vom 10.5.2007 NVwZ 2007, 946; vom 1.3.2004 NVwZ 2004, 852). Dabei muss dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durch eine individuelle Würdigung der Umstände des Einzelfalls Rechnung getragen werden, die insbesondere die Rechtspositionen des Art. 6 GG und Art. 8 EMRK ausreichend berücksichtigt.

2.2 Diesen Anforderungen hält die angegriffene Entscheidung stand. Mit der Ausweisung soll verhindert werden, dass der Kläger im Bundesgebiet weitere Straftaten im Bereich der Drogenkriminalität begeht. Die Ausweisung erfolgt daher aus schwerwiegenden Gründen zum Schutz der öffentlichen Ordnung. Der strafbare Handel mit Betäubungsmitteln, der die Abhängigkeit von Drogenkonsumenten aufrechterhält oder verstärkt und der auf eine Erweiterung des Kundenkreises von bisher nicht drogenabhängigen Personen angelegt ist, führt zu erheblichen Gefahren für die Gesellschaft, deren Abwehr im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung besondere Maßnahmen gegen Ausländer rechtfertigt. Die Verhinderung von weiteren Straftaten des Klägers im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität stellt ein überragend wichtiges Interesse der Gesellschaft dar. Die auf der Bewertung des persönlichen Verhaltens des Klägers beruhende Gefahrenprognose im Zeitpunkt des Berufungsurteils lässt erwarten, dass der Kläger nach seiner Haftentlassung im März 2008 weitere schwerwiegende Delikte im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität begehen wird.

2.3 Die Ausweisung des Klägers scheitert auch nicht an seinem Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens nach Art. 6 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK. Im vorliegenden Fall ist dem öffentlichen Interesse an der Abwehr weiterer Straftaten im Bereich der Drogenkriminalität durch den Kläger ein deutlich höheres Gewicht beizumessen als dessen persönlichen Belangen. Zwar reiste der Kläger als 15-jähriger Jugendlicher in das Bundesgebiet ein, wo er sich seitdem ununterbrochen aufgehalten und seinen Lebensmittelpunkt begründet hat. Die Ausweisung stellt daher einen erheblichen Eingriff in seine persönlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse dar, auch wenn er keine Berufsausbildung abgeschlossen hat und nur in wechselnden Arbeitsverhältnissen beschäftigt war. Gleichwohl ist der Eingriff in die Lebensverhältnisse für den Kläger zumutbar, weil er über ausreichende Beziehungen zu seinem Heimatland verfügt.

2.4 Dass die Beklagte die Wirkungen der Ausweisung nicht bereits bei Erlass befristet hat, macht die Ausweisung nicht unverhältnismäßig. Die im deutschen Ausländerrecht angelegte Trennung zwischen der Ausweisung und der Befristung ihrer gesetzlichen Folgen ist mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar (vgl. EGMR vom 28.6.2007, Kaya, InfAuslR 2007, 325). Angesichts der Schwere der vom Kläger begangenen Straftaten, der für ihn ungünstigen Gefahrprognose sowie der bestehenden Beziehungen zu seinem Heimatland war es zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit nicht geboten, die Ausweisung von vornherein zeitlich zu befristen(vgl. BVerfG vom 1.3.2004, a.a.O.; BVerwG vom 15.3.2005 NVwZ 2005, 1074).

2.5 Die Ausweisung des Klägers unterliegt nicht den materiellen Beschränkungen des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU (in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007, BGBl I S. 1970), mit dem Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG in nationales Recht umgesetzt worden ist. Nach § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU darf der Aufenthalt von Unionsbürgern (und ihren Familienangehörigen), die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit beendet werden. Nach Satz 3 dieser Vorschrift können zwingende Gründe u. a. nur vorliegen, wenn der Betroffene rechtskräftig zur einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt wurde, so dass der Kläger bei Anwendung dieser Regelungen auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige nicht ausgewiesen werden dürfte. Zwar hat der Europäische Gerichtshof im Urteil vom 4. Oktober 2007 (C-349/06, Polat, ZAR 2007, 405) die entsprechende Vorlagefrage des Verwaltungsgerichts Darmstadt nicht beantwortet, weil die RL 2004/38/EG erst am 30. April 2006 und damit – wie im vorliegenden Fall – nach Erlass der Ausweisungsverfügung in Kraft getreten ist. Gleichwohl ist die Frage entscheidungserheblich, weil nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwGE 121, 315) bei der Kontrolle von Ausweisungen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts abzustellen ist.

Trotz der weitgehenden Angleichung des Aufenthaltsrechts von türkischen Arbeitnehmern an die Freizügigkeitsregelung des Art. 39 EG finden die genannten Vorschriften auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörigen keine Anwendung (vgl. OVG NRW vom 15.5.2007 DVBl 2007, 852; NdsOVG vom 6.6.2005 NVwZ-RR 2005, 654; a.A. OVG RhPf vom 5.12.2006 NVwZ-RR 2007, 488; HessVGH vom 12.7.2006 InfAuslR 2006, 395). Der Europäische Gerichtshof hat aus Art. 12 des Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom 12. September 1963 (verkündet mit Gesetz v. 13.5.1964, BGBl. II S. 509), wonach sich die Vertragsparteien von Art. 48, 49, 50 EGV (jetzt Art. 39, 40, 41 EG) leiten lassen, um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen, die Verpflichtung entwickelt, die Grundsätze über die Freizügigkeit der Unionsbürger "soweit wie möglich" auf türkische Staatsangehörige anzuwenden, denen Rechte nach dem ARB 1/80 zustehen (vgl. EuGH vom 11.11.2004, Cetinkaya, a.a.O.; vom 2.6.2005, Dörr und Ünal, a.a.O.). Die für die Herstellung der Freizügigkeit erforderlichen Regeln hat jedoch nach Art. 36 des Zusatzprotokolls zum vorgenannten Abkommen (verkündet mit Gesetz vom 19.5.1972, BGBl. II S. 385) der Assoziationsrat festzulegen, der in Art. 6 und 7 ARB 1/80 die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer gestaltet und in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 das Freizügigkeitsrecht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit beschränkt hat. Dabei entspricht es den Interessen der Vertragsparteien des Assoziationsabkommens, den Begriff "öffentliche Ordnung" in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 ebenso auszulegen wie in Art. 39 Abs. 3 EG. Daher ist es gerechtfertigt, bei der Ausweisung freizügigkeitsberechtigter türkischer Staatsangehöriger entsprechend Art. 3 Abs. 1 und 2 der im Zeitpunkt des Beschlusses dem Assoziationsrat bekannten RL 64/221/EWG ausschließlich auf das persönliche Verhalten des Aufenthaltsberechtigten und nicht allein auf dessen strafrechtliche Verurteilungen abzustellen. Dem ARB 1/80 kann jedoch kein Anhaltspunkt dafür entnommen werden, dass spätere materielle Änderungen des Freizügigkeitsrechts innerhalb der Europäischen Union gleichsam im Rahmen einer dynamischen Verweisung assoziationsberechtigten türkischen Arbeitnehmern zugute kommen sollen. Vielmehr wäre für die Anwendung von Art. 28 RL 2004/38/EG auf türkische Staatsangehörige nach Art. 36 Satz 2 des Zusatzprotokolls ein entsprechender Beschluss des Assoziationsrats erforderlich (vgl. Stellungnahme der Europäischen Kommission vom 15.12.2006, JURM (2006) 12099, im Verfahren C-349/06, Polat).

Mit der RL 2004/38/EG sind nicht nur die bestehenden, bereichsspezifischen Regelungen der Europäischen Union zur Freizügigkeit nach Art. 39, 43, 49 EG zusammengefasst worden, sondern das Freizügigkeitsrecht wurde vereinfacht und verstärkt, also inhaltlich geändert (s. Nr. (3) der Erwägungsgründe der RL 2004/38/EG), um das im Vertrag von Maastricht geschaffene, allein an die Unionsbürgerschaft (Art. 17 und 18 EG) anknüpfende Recht auszugestalten, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (s. Nr. (1) der Erwägungsgründe der RL 2004/38/EG). Eine materielle, über den bisherigen Freizügigkeitsstandard hinausgehende Änderung enthält insbesondere der erweiterte Ausweisungsschutz in Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG, der Ausweisungen nach einem zehnjährigen Aufenthalt in einem Mitgliedsstaat nur noch aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit zulässt. Dass diese Stärkung des Aufenthaltsrechts die Unionsbürgerschaft voraussetzt, zeigt sich bereits daran, dass Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG diesen Ausweisungsschutz (anders als § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU) ausschließlich Unionsbürgern vorbehält, während die Beschränkung der Ausweisung auf schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit in Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EU auch für die Familienangehörigen von Unionsbürgern gilt.

Darüber hinaus ist dem systematischen Zusammenhang zwischen Art. 28 Abs. 2 und 3 RL 2004/38/EU zu entnehmen, dass der erweiterte Schutz des Absatzes 3, auch ohne ausdrückliche Erwähnung im Wortlaut der Richtlinie, ebenso wie der Schutz des Absatzes 2 das Daueraufenthaltsrecht voraussetzt, das ausschließlich Unionsbürgern und deren Familienangehörigen, nicht aber freizügigkeitsberechtigten türkischen Staatsangehörigen zustehen kann, deren Aufenthaltsrechte aus ihrer Zugangsberechtigung zum Arbeitsmarkt herrühren und nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 oder beim Verlassen des aufnehmenden Mitgliedsstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe erlöschen. Denn der stärkste Ausweisungsschutz in Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EU kann nicht von geringeren Voraussetzungen abhängig sein als der Schutz in Absatz 2, der nicht allen Unionsbürgern zusteht, sondern den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt voraussetzt. Daraus folgt, dass assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige den bisher in der Europäischen Union im Rahmen der Freizügigkeit gewährten Schutzstandard behalten, sich aber nicht auf den erweiterten Ausweisungsschutz in Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EU und § 6 Abs. 5 FreizügigG/EU berufen können. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO, § 708 ZPO.