VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 19.12.2007 - 1 A 3097/06 - asyl.net: M12697
https://www.asyl.net/rsdb/M12697
Leitsatz:

Hinreichende Sicherheit vor erneuter Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Jesiden, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Vorverfolgung, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, mittelbare Verfolgung, Anerkennungsrichtlinie, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Religion
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. bDie in § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG bestimmten materiellen Voraussetzungen für den Widerruf der
Auszüge:

Hinreichende Sicherheit vor erneuter Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die in § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG bestimmten materiellen Voraussetzungen für den Widerruf der Asylanerkennung der Kläger und der Feststellung der Voraussetzungen von § 51 Abs. 1 AuslG liegen ebenfalls vor.

Ob die Kläger bei einer – asylrechtlich unterstellten – Rückkehr in die Türkei im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG Schutz vor Verfolgung finden, beurteilt sich nach dem sog. herabgestuften Prognosemaßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit. Denn das Bundesamt hat in den "Abschluss-Mitteilungen" vom 14.10.1996 und in dem Bescheid vom 10.11.1997 festgestellt, dass die Kläger – mit Ausnahme des im Bundesgebiet geborenen Klägers zu 7) – vor ihrer Ausreise in der Türkei wegen ihrer yezidischen Religionszugehörigkeit eine mittelbare Gruppenverfolgung und damit eine Vorverfolgung erlitten haben bzw. sich, wie der Kläger zu 7), aus begründeter Furcht vor einer politischen Verfolgung im Bundesgebiet aufhalten.

Das erkennende Gericht und der 11. Senat des Nds. OVG vertraten seit ihren Grundsatzentscheidungen vom 09.09.1992 - 1 A 932/91 - und vom 28.01.1993 - 11 L 513/98 [zu dem Urteil des VG Stade vom 29.05.1989 - 4 A 206/87 -] über mehrere Jahre in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, das seinerzeit Yeziden in der Türkei im Regelfall landesweit einer mittelbaren Gruppenverfolgung wegen ihrer Religionszugehörigkeit ausgesetzt waren. Jedoch stellte das erkennende Gericht ab dem Jahr 2000 zunehmend fest, dass Yeziden in bestimmten Dörfern der Südosttürkei ohne Verfolgungsdruck leben konnten bzw. können und außerdem in der Bundesrepublik Deutschland als Asylberechtigte anerkannte Yeziden vorübergehend oder auf Dauer in die Türkei zurückkehrten. Diese Entwicklung bewog die Kammer in dem Urteil vom 30.04.2003 - 1 A 398/02 - unter zusätzlicher Berücksichtigung einer eingehenden Auseinandersetzung mit den für verschiedene Verwaltungsgerichte erstellten Gutachten des Sachverständigen Baris, zu denen der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung am 30.04.2003 umfassend angehört wurde, zu der Feststellung, dass "eine flächendeckende Verfolgung der Yeziden in der Türkei nicht mehr angenommen werden" könne. Es wird wegen der Einzelheiten der Anhörung des Sachverständigen Baris auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung und wegen der Entscheidungsgründe auf das Urteil verwiesen.

Ein in diesem Sinne eindeutiger Sachverhalt lag dem rechtskräftig gewordenen Urteil der Kammer vom 23.03.2005 - 1 A 1284/04 - ebenfalls zugrunde.

Zu der gleichen Beurteilung über eine nicht mehr bestehende mittelbare Gruppenverfolgung der Yeziden in der Türkei kommt der 11. Senat des Nds. OVG in zwei Urteilen vom 17.07.2007 - 11 LB 332/03 -, juris (nicht rechtskräftig; Az. des BVerwG: 10 B 156/07) zu dem Urteil der Kammer vom 18.03.2003 - 1 A 75/02 - und - 11 LB 324/03 (n.v., rechtskräftig) zu dem Urteil der Kammer vom 30.04.2003 - 1 A 389/02 -. Als Ergebnis einer umfangreichen Beweisaufnahme stellt der 11. Senat in beiden Entscheidungen fest, dass Yeziden in der Türkei wegen ihrer Religionszugehörigkeit seit dem Jahre 2003 keiner mittelbaren staatlichen Verfolgung mehr ausgesetzt sind. Auf das den Beteiligten bekannt gegebene, im Verfahren 11 LB 332/03 ergangene Urteil, in dem der 11. Senat außerdem eine Vorverfolgung für den Kläger unterstellt und deshalb den herabgestuften Prognosemaßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit angewendet hat (vgl. Rdnr. 45), wird Bezug genommen. Diese Rechtsprechung hat der 11. Senat des Nds.OVG in dem den Beteiligten ebenfalls bekannt gegebenen Beschluss vom 29.11.2007 - 11 LB 14/06 - fortgesetzt.

2.2 Die Feststellungen des 11. Senats in den beiden zitierten Urteilen vom 17.07.2007 und dem Beschluss vom 29.11.2007 macht sich das erkennende Gericht für seine Rechtsprechung zur gegenwärtigen Situation der Yeziden in der Türkei zu eigen: ...

Entscheidend bleibt für das erkennende Gericht, dass es bei seinen Recherchen über die gegenwärtige Situation der Yeziden in der Türkei zur Vorbereitung auf die heutige mündliche Verhandlung in sämtlichen ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln (neben Recherchen im Internet auch in dem Vortrag der Kläger in den bei der Kammer in den letzten beiden Jahren über 100 anhängig gewordenen Yeziden-Widerrufsverfahren) keine Hinweise auf zusätzliche Übergriffe auf Yeziden in der Türkei in den Jahren 2006 und 2007 gefunden hat, deren Asylrelevanz aufzuklären gewesen wäre (vgl. hierzu auch das Urteil des Nds. OVG vom 17.07.2007 - 11 LB 332/03 -, juris, Rdnr. 93 ).

Die auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG (dazu 1.) und von Abschiebungshindernissen im Sinne von § 60 Abs. 2) bis 7) AufenthG (dazu 2.) gerichteten Hilfsanträge der Kläger sind ebenfalls unbegründet.

Artikel 10 Abs. 1b der Qualifikationsrichtlinie erweitert nunmehr den Schutz des "religiösen Existenzminimums" im privaten Bereich auf "die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich". Auch im Hinblick auf den durch § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Artikel 10 Abs. 1b der Qualifikationsrichtlinie erweiterten Abschiebungsschutz werden die Kläger nach Auffassung des erkennenden Gerichts in Übereinstimmung der geänderten Rechtsprechung des 11. Senats des Nds. OVG bei einer etwaigen Rückkehr in die Türkei in ihrer Religionsausübung nicht unzumutbar behindert.

Ebenso wie die beiden für Asylverfahren von Yeziden aus dem Irak und aus Syrien zuständigen Senate des Nds. OVG (vgl. das Urteil des 9. Senats vom 19.03.2007 - 9 LB 373/05 -, juris, Rdnrn. 64, 65 und 66 zu Yeziden aus dem Irak und den Beschluss des 2. Senats vom 07.06.2007 - 2 LA 416/07 -, juris, Rdnr. 5 zu Yeziden aus Syrien) stellt der 11. Senat in seinen Entscheidungen vom 17.07.2007 - 11 LB 332/03 -, juris, Rdnrn. 40, 94, 95 und 96 und vom 29.11.2007 - 11 LB 14/06 (ebenso OVG Saarland, Beschluss vom 26.03.2007 - 3 A 30/07 -, juris, Rdnrn. 11 ff) darauf ab, dass es sich bei der yezidischen Religion von ihrem Wesen her um eine Art "Geheimreligion" handelt, die nicht vor den Augen Ungläubiger und damit nicht im öffentlichen Bereich praktiziert wird.