VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 12.12.2007 - 7 TG 2410/07 - asyl.net: M12712
https://www.asyl.net/rsdb/M12712
Leitsatz:
Schlagwörter: Serbien, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Depression, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, fachärztliche Stellungnahme, Glaubhaftmachung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 7; VwGO § 123 Abs. 1
Auszüge:

Die gemäß § 146 Abs. 1 VwGO statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den im Tenor bezeichneten Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main ist begründet, da sich dieser Beschluss nach dem Erkenntnisstand des Senats im Zeitpunkt seiner Beschwerdeentscheidung auf der Grundlage des Beschwerdevorbringens der Antragsgegnerin als unzutreffend darstellt. Es fehlt an einem Anordnungsanspruch im Sinne des § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO, da das Vorliegen eines zu sichernden Duldungsanspruchs des Antragstellers nach § 60a Abs. 2 AufenthG nicht überwiegend wahrscheinlich ist.

a. Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.

aa. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG setzt voraus, dass für den Ausländer in dem Staat, in den abgeschoben werden soll, eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine bei einem Ausländer bestehende Krankheit begründet ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, wenn die Gefahr besteht, dass sich alsbald nach der Rückkehr des Betroffenen in den Zielstaat der Abschiebung die Krankheit wegen dort gänzlich fehlender oder unzureichender Behandlungsmöglichkeiten wesentlich verschlechtern wird. Im Hinblick auf die sonach bedeutsame Behandelbarkeit posttraumatischer Belastungsstörungen in Serbien ergibt sich aus den dem Beschwerdegericht vorliegenden Erkenntnisquellen folgendes Bild:

Psychische Krankheiten werden in Serbien aufgrund des dort vorherrschenden medizinischen Ansatzes vorwiegend medikamentös behandelt. In begrenztem Umfang werden auch andere Therapieformen angewendet. Im Rahmen eines aus Mitteln des Auswärtigen Amtes geförderten Pilotprojekts gibt es speziell für kriegsbedingte traumatische Belastungsstörungen (regionale) Therapiemöglichkeiten in einem Zentrum in der Vojvodina (Nordserbien) sowie in Vranje (Südserbien). Weitere Therapiezentren existieren in Südserbien mittlerweile in Leskovac und Bujanovac. Psychiatrische Stationen für die Unterbringung und die Behandlung von Patienten mit chronischen psychischen Erkrankungen gibt es in Serbien in folgenden Einrichtungen: Psychiatrisches Krankenhaus "Dr. ..." in Belgrad, Neuropsychiatrisches Krankenhaus "Vrsac" in Vrsac, Psychiatrisches Institut "Kovin" in Kovin sowie Psychiatrisches Krankenhaus "Gornja Tuponica" bei Nis. Medizinische Anstalten im serbischen Sandzak, in denen posttraumatische Belastungsstörungen behandelt werden können, sind das Medizinische Zentrum Novi Pazar (Neuropsychiatrische Dienststelle), die Poliklinik Priboj (Neuropsychiatrische Ambulanz) sowie in Prijepolje, dem Geburtsort des Antragstellers, das Allgemeine Krankenhaus (Neuropsychiatrische Abteilung).

Zugang zur Gesundheitsversorgung im öffentlichen Sektor haben die Bewohner Serbiens aufgrund gesetzlichen Krankenversicherungsschutzes in einer Pflichtversicherung. Flüchtlinge und Vertriebene werden grundsätzlich kostenfrei und ohne Zahlung eines eigenen Beitrags behandelt. Psychosen zählen zudem zu den Krankheiten, die auch unabhängig vom Status des Patienten grundsätzlich kostenfrei behandelt werden. Darüber hinaus sind lebensrettende und lebenserhaltende Maßnahmen für alle Patienten kostenlos (vgl. zu Vorstehendem: Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Belgrad an VG Kassel vom 1. September 2004; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration, Serbien und Montenegro [ohne Kosovo], Gesundheitswesen, März 2006; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Serbien, Stand: März 2007).

Vor diesem tatsächlichen Hintergrund geht der Senat in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen in Serbien (ohne Kosovo) grundsätzlich in einer Weise behandelbar sind, die eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung der bestehenden psychischen Erkrankung und damit ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausschließt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 10. November 2005 - 7 TG 2566/05 -, vom 2. März 2006 - 7 TG 426/06 -, vom 25. April 2006 - 7 TG 618/06 -, vom 22. Mai 2006 - 7 TG 1098/06 -, vom 12. Juli 2006 - 7 TG 1253/06 - sowie vom 4. August 2006 - 7 TG 1454/06 -).

Die Diagnose einer (schwerwiegenden) posttraumatischen Belastungsstörung in den beigebrachten ärztlichen Stellungnahmen unterliegt durchgreifenden Zweifeln.

Die posttraumatische Belastungsstörung, auf die sich der Antragsteller beruft, ist eine verzögerte akute oder chronische psychische Störung nach einem extrem belastenden Ereignis oder einer Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes, die mit starker Furcht und Hilflosigkeit einhergeht. Von einem Antragsteller zum Beleg eines derartigen Krankheitsbildes beigebrachte ärztliche Bescheinigungen sind als Parteivorbringen vom Gericht auf ihren Aussagegehalt und ihre Überzeugungskraft hin zu würdigen. Diese Bewertung setzt zum einen eine ärztliche Bescheinigung der Traumatisierung voraus, die bestimmten formalen und inhaltlichen Anforderungen genügen muss. Zum anderen ist ein ärztlich bescheinigter Befund gerichtlich daraufhin zu überprüfen, ob er nicht durch externe Faktoren – etwa Tatsachen, die dem bescheinigenden Mediziner nicht bekannt waren oder von ihm nicht berücksichtigt wurden – ernsthaft erschüttert wird.

Spezifische formale und inhaltliche Anforderungen an ärztliche Bescheinigungen einer posttraumatischen Belastungsstörung resultieren daraus, dass es sich bei ihr um ein komplexes Krankheitsbild handelt, bei dem weniger äußerlich feststellbare objektive Befundtatsachen im Mittelpunkt stehen, als vielmehr ein inneres Erleben. Die – für das Gericht maßgebliche – Glaubhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit dieses inneren Erlebens und der ihm zu Grunde liegenden äußeren Erlebnistatsachen verlangen ein besonderes ärztliches Vorgehen, namentlich bei der ärztlichen Diagnose, das in ärztlichen Bescheinigungen über eine posttraumatische Belastungsstörung auch darzustellen ist. Gerichtstaugliche ärztliche Bescheinigungen, insbesondere Gutachten zur Traumatisierung, müssen von einem Arzt stammen, der über eine spezielle fachwissenschaftliche/fachärztliche Ausbildung verfügt. Die Begutachtung selbst sollte auf einer zeitlich ausreichenden Basis von mindestens drei bis vier Sitzungen beruhen. Die verwendeten Testverfahren und Explorationsmethoden sollten genau bezeichnet werden. Die Anknüpfungstatsachen sind sorgfältig und getrennt von Diagnoseäußerungen darzustellen. Mitzuteilen sind die Diagnose sowie mögliche Therapieformen und eine Prognose. Zu Besonderheiten in bzw. bei der Schilderung der Vorgeschichte der Erkrankung durch den Patienten – etwa dem Fehlen von Realitätskennzeichen (Konkretheit, Schlüssigkeit und Widerspruchsfreiheit), dem Vorliegen von Fantasiesignalen (Detailarmut oder Abstraktheit der Aussagen) oder einer später als sechs Monate nach dem traumatischen Ereignis eintretenden und damit jedenfalls nicht dem regelmäßigen Verlauf entsprechenden Störung – ist in der ärztlichen Bescheinigung Stellung zu nehmen. Gegebenenfalls bedarf es zusätzlich einer fachärztlichen Glaubhaftigkeitsanalyse, etwa wenn es an einer hinreichende konkreten und detaillierten Darlegung eines erlittenen traumatischen Ereignisses durch den Ausländer fehlt (vgl. zu den dargestellten Anforderungen an ärztliche Bescheinigungen einer posttraumatischen Belastungsstörung: Hess. VGH, Beschlüsse vom 19. April 2004 - 9 TG 639/04 - und vom 30. Mai 2005 - 9 TG 1274/05 -; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 6. September 2004 - 18 B 2661/03 - InfAuslR 2004, 438; VG Düsseldorf, Urteil vom 24. Mai 2006 - 5 K 1970/06.A. - Juris).

Die vom Antragsteller zur Unterstützung seines Vorbringens vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen werden diesen Anforderungen nicht gerecht.

Unabhängig von den den ärztlichen Stellungnahmen anhaftenden formalen und inhaltlichen Defiziten stehen der Annahme einer psychischen Erkrankung des Antragstellers, die einen solchen Schweregrad hat, dass sie in Serbien nicht in einer eine wesentliche Verschlechterung ausschließenden Weise behandelt werden kann, folgende weiteren Umstände entgegen: Die Erkrankung des Antragstellers wurde in Deutschland im Wesentlichen medikamentös mit dem Antidepressivum Fluoxetin (Dr. med. ...) sowie dem Anxiolytikum Bromazanil (Dr. ...) behandelt. Entsprechende Medikamente stehen in Serbien auf der Positivliste von Medikamenten, die kostenlos auf Rezept eines Arztes aus einer staatlichen Ambulanz und ausschließlich in staatlichen Apotheken abgegeben werden (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration, Serbien und Montenegro [ohne Kosovo], Gesundheitswesen, März 2006, Seite 28). Ferner hatte der Antragsteller selbst im Mai 2006 die Absicht, nach Serbien zurückzukehren und hatte zu diesem Zweck bereits beim Generalkonsulat seiner Heimat vorgesprochen. Der Antragsteller ist schließlich nach einer Rückkehr nicht gänzlich auf sich allein gestellt, da sowohl seine Mutter als auch zumindest ein Bruder in Serbien leben.