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Zitieren als:
BVerfG, Urteil vom 12.02.2008 - 2 BvR 1262/07 - asyl.net: M12728
https://www.asyl.net/rsdb/M12728
Leitsatz:

Die Drei-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 AsylVfG beginnt neu zu laufen, wenn exilpolitische Betätigungen des Antragstellers einen "Qualitätssprung" erfahren haben; zur Ablehnung eines Folge- oder Wiederaufgreifensantrags als offensichtlich unbegründet.

 

Schlagwörter: Verfassungsbeschwerde, offensichtlich unbegründet, ernstliche Zweifel, Begründungserfordernis, Rechtsweggarantie, Folgeantrag, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Drei-Monats-Frist, exilpolitische Betätigung, Dauersachverhalte, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Ermessen
Normen: BVerfGG § 83a Abs. 2; GG Art. 19 Abs. 4; GG Art. 2 Abs. 2 S. 1; AsylVfG § 78 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; VwVfG § 51 Abs. 3; VwVfG § 51 Abs. 5; VwVfG § 48
Auszüge:

Die Drei-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 AsylVfG beginnt neu zu laufen, wenn exilpolitische Betätigungen des Antragstellers einen "Qualitätssprung" erfahren haben; zur Ablehnung eines Folge- oder Wiederaufgreifensantrags als offensichtlich unbegründet.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführer angezeigt ist. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts verstößt gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.

1. Die Verfahrensgewährleistung des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG beschränkt sich nicht auf die Einräumung der Möglichkeit, die Gerichte gegen Akte der öffentlichen Gewalt anzurufen. Sie gibt dem Bürger darüber hinaus einen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle. Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes verlangt nicht nur, dass jeder potentiell rechtsverletzende Akt der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der richterlichen Prüfung unterstellt ist. Vielmehr müssen die Gerichte den betroffenen Rechten auch tatsächliche Wirksamkeit verschaffen (stRspr; etwa BVerfGE 35, 263 <274>; 40, 272 <275>; 67, 43 <58>; 84, 34 <49>). Die in § 78 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG getroffene Regelung, nach der das Urteil des Verwaltungsgerichts, durch das die Klage in Rechtsstreitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz als offensichtlich unbegründet abgewiesen wird, unanfechtbar ist, begegnet daher keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (zur Anwendbarkeit auch auf Folgeschutzgesuche vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer, des Zweiten Senats vom 27. September 2007 - 2 BvR 1613/07 -; BVerwG, Beschluss vom 6. März 1996 - 9 B 714.95 -, NVwZ-RR 1997, S. 255; Marx, AsylVfG, 6. Aufl. 2005, § 78 Rn. 11; Gemeinschaftskommentar zum AsylVfG, Stand: April 1998, § 78 Rn. 41). Steht, wie in den Fällen des § 78 Abs. 1 AsylVfG, nur eine Instanz zur Verfügung, verstärkt dies jedoch die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung des Verfahrens im Hinblick auf die Wahrheitserforschung (vgl. BVerfGE 83, 24 <31>; 87, 48 <61 f.>). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts setzt die Abweisung einer Asylklage als offensichtlich unbegründet - mit der Folge des Ausschlusses weiterer gerichtlicher Nachprüfung (§ 78 Abs. 1 AsylVfG) - voraus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 77 AsylVfG) an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Gerichts vernünftigerweise keine Zweifel bestehen können und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Abweisung der Klage dem Ver-waltungsgericht geradezu aufdrängt. Aus den Entscheidungsgründen muss sich klar ergeben, weshalb das Gericht zu einem Urteil nach § 78 Abs. 1 AsyIVfG kommt, warum somit die Klage nicht nur als schlicht unbegründet, sondern als offensichtlich unbegründet abgewiesen worden ist. Die schlichte Behauptung, die Klage sei offensichtlich unbegründet, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht (vgl. BVerfGE 65, 76 <95 f.>; 71, 276 <293 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 3. September 1996 - 2 BvR 2353/95 -, NVwZ-Beil. 2/1997, S. 9; BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Februar 1993 - 2 BvR 1869/92 -, InfAuslR 1993, S. 146 <148>, und vom 2. März 1993 - 2 BvR 2075/92 -, NVwZ 1993, S. 769).

Die Entscheidungsgründe müssen die Maßstäbe erkennen lassen, die der Klageabweisung als offensichtlich unbegründet zugrunde liegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 16. November 2000 - 2 BvR 1684/98 -, juris, Rn. 4), und sich nach diesen Maßstäben mit dem Einzelfall auseinandersetzen, wobei die Darlegung besondere Sorgfalt erfordert, wenn das Bundesamt den Asylantrag - wie hier - lediglich als (schlicht) unbegründet abgelehnt hat (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Dezember 2006 - 2 BvR 2063/06 -, juris, Rn. 10; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. November 1993 - 2 BvR 1214/93 -, InfAuslR 1994, S. 41 <42>; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. April 1992 - 2 BvR 1038/90 -, InfAuslR 1992, S. 257 <258>). Dabei darf das Gericht sich nicht mit dem Hinweis begnügen, dass die von ihm gewonnenen Erkenntnisse "eindeutig" oder "evident" seien; denn mit der Verwendung von Ausdrücken, die nichts anderes bedeuten als "offensichtlich", wird die vom Gesetz geforderte Offensichtlichkeit nicht begründet, sondern nur behauptet (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Juli 1990 - 2 BvR 2005/89 -, InfAuslR 1991, S. 89 <92>). Ebensowenig genügt der bloße Verweis auf die "feste" oder "volle" Überzeugung des Gerichts.

Diese Grundsätze gelten nicht nur für das Asylgrundrecht, sondern auch für Verfahren, die auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG oder eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG gerichtet sind (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Dezember 2006 - 2 BvR 2063/06 -, juris; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2000 - 2 BvR 857/98 -, juris, Rn. 3; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 16. November 2000 - 2 BvR 1684/98 -, juris, Rn. 3). Auch im Anwendungsbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG muss den schutzwürdigen Interessen des Betroffenen wirksam Rechnung getragen werden.

2. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts nicht.

a) Hinsichtlich der Dreimonatsfrist des § 51 VwVfG beschränkt sich das Verwaltungsgericht - neben Mutmaßungen zu den Beweggründen der Beschwerdeführer für die Aufnahme ihrer exilpolitischen Aktivitäten - auf die Feststellung, es handele sich um einen Dauersachverhalt, so dass für den Beginn des Fristlaufs die Aufnahme der exilpolitischen Tätigkeit und damit der Eintritt in die API maßgeblich sei. Auf der Hand lag die Nichteinhaltung der Frist hier aber schon deshalb nicht, weil sich bei Dauersachverhalten die Frage stellt, zu welchem Zeitpunkt die Schwelle zur Entscheidungserheblichkeit der geltend gemachten nachträglichen Sachverhaltsänderungen überschritten wurde und ob "Qualitätssprünge" festzustellen sind, die unter Umständen neue Fristläufe in Gang zu setzen vermögen. Wann sich die Entwicklung der Sachlage insgesamt so verdichtet hat, dass von einer entscheidungserheblichen Veränderung auszugehen ist, kann dabei nur im Einzelfall beurteilt werden (vgl. Thüringer OVG, Urteil vom 6. März 2002 - 3 KO 428/99 -, NVwZ-Beil. I 3/2003, S. 19 <20>; OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 8. Mai 1995 - 25 A 2864/95.A -, juris, Rn. 4 f.). Eine solche Einzelfallwürdigung hat das Verwaltungsgericht weder unmittelbar selbst noch mit seiner Bezugnahme auf den Bescheid des Bundesamtes (§ 77 Abs. 2 AsylVfG) vorgenommen. Abgesehen davon, dass der Bescheid die konkrete Frage lediglich in einem Satz behandelt, greift die Verweisung auf den Bundesamtsbescheid hier auch deshalb zu kurz, weil seit Erlass des Bescheides weiterer Vortrag, etwa zum Eintritt des Beschwerdeführers zu 1) in die Organisation "Zentralrat der Ex-Muslime", erfolgt war, und bei mehreren selbstständigen Wiederaufgreifensgründen für jeden Grund die Frist eigenständig läuft (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1993 - 9 C 49.92 -, NVwZ 1993, S.788).

b) Hinsichtlich der weiteren Voraussetzungen eines Wiederaufgreifens bezüglich der Feststellungen zu § 60 Abs. 7 AufenthG und zu Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 oder Abs. 5 AufenthG differenziert das Gericht schon nicht zwischen den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG und denen des § 51 Abs. 5 VwVfG in Verbindung mit §§ 48, 49 VwVfG, die einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung für den Fall begründen, dass die Frist nach § 51 Abs. 3 Satz 1 VwVfG nicht gewahrt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. März 2000 - 9 C 41.99 -, NVwZ 2000, S. 940 <941>). Für keine dieser Alternativen wird deutlich, warum die Voraussetzungen insoweit offensichtlich nicht vorliegen sollen.