OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 06.03.2008 - 3 Bs 281/07 - asyl.net: M12842
https://www.asyl.net/rsdb/M12842
Leitsatz:

Soll der Familienangehörige eines Unionsbürgers nach den Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes abgeschoben werden, setzt dies gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU die ausländerbehördliche Feststellung des Nichtbestehens des gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU auch dann voraus, wenn dieses Recht von vornherein nicht bestanden hat; die Feststellung des Nichtbestehens muss eindeutig und rechtsförmig sein.

 

Schlagwörter: D (A), Freizügigkeit, Unionsbürger, Familienangehörige, Kinder, Kleinkinder, Eltern, Vaterschaftsanerkennung, Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts, Ausländerbehörde, Feststellung, Personensorge, Polen, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung,
Normen: FreizügG/EU § 11 Abs. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 1; FreizügG/EU § 1; FreizügG/EU § 3 Abs. 2 Nr. 2; EGBGB Art. 23; VwGO § 123
Auszüge:

Soll der Familienangehörige eines Unionsbürgers nach den Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes abgeschoben werden, setzt dies gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU die ausländerbehördliche Feststellung des Nichtbestehens des gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU auch dann voraus, wenn dieses Recht von vornherein nicht bestanden hat; die Feststellung des Nichtbestehens muss eindeutig und rechtsförmig sein.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Da sich aus den Darlegungen des Antragstellers somit ergibt, dass der angefochtene Beschluss mit der darin gegebenen Begründung keine tragfähige Grundlage hat, hat das Beschwerdegericht eigenständig über die Beschwerde zu entscheiden (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 16.9.2002, NordÖR 2003, 67).

1. Dies führt zu dem Ergebnis, dass der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu untersagen ist, den Antragsteller abzuschieben, bevor sie ihm gegenüber eine Feststellung nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU getroffen hat. Es bestehen (knapp) hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Vorschrift des § 11 Abs. 2 FreizügG/EU auf den Antragsteller anwendbar ist.

Nach dieser Bestimmung findet das Aufenthaltsgesetz Anwendung, wenn die Ausländerbehörde das Nichtbestehen oder den Verlust des gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt hat, sofern dieses Gesetz keine besonderen Regelungen trifft. Die Vorschrift des § 11 Abs. 2 FreizügG/EU ist gemäß § 1 FreizügG/EU auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen anwendbar; das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts ist gegenüber diesem Personenkreis auch dann festzustellen, wenn es von vornherein nicht bestanden hat (vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs zu § 11 Abs. 2 FreizügG/EU, BT-Drucks. 15/420 S. 106; GK-AufenthG, § 11 FreizügG/EU Rn. 29; Hailbronner, Ausländerrecht, § 11 FreizügG/EU Rn. 38 f.). Die von der Antragsgegnerin beabsichtigte Abschiebung des Antragstellers bedeutet die Anwendung des Aufenthaltsgesetzes. An der nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU erforderlichen förmlichen Feststellung fehlt es bisher. Weder das Hinweisschreiben der Antragsgegnerin vom 14. November 2007 noch der an das Verwaltungsgericht gerichtete Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 22. November 2007, mit dem der nach § 123 VwGO gestellte Antrag des Antragstellers als unbegründet bezeichnet worden ist, kann als eine gegenüber dem Antragsteller abgegebene eindeutige und rechtsförmige Feststellung des Nichtbestehens des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU gewertet werden.

Es spricht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Antragsteller als Familienangehöriger im Sinne des § 1 FreizügG/EU anzusehen ist. Gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU sind Familienangehörige u.a. die Verwandten in aufsteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU genannten Personen, denen diese Personen oder ihre Ehegatten Unterhalt gewähren.

a) Der am ...2007 geborene polnische Staatsangehörige J W dürfte gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sein, weil er - durch seine Mutter - über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen dürfte (vgl. in diesem Zusammenhang EuGH, Urt. v. 19.10.2004, Rechtssache Chen, InfAuslR 2004, 413, 414).

b) Es gibt gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller Vater des J W ist. Die Vaterschaftsanerkennung des Antragstellers dürfte sich gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 1 EGBGB primär nach deutschem Recht richten, weil das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat. Die Voraussetzungen der §§ 1594, 1595 und 1597 BGB dürften erfüllt sein.

c) Die Voraussetzung, dass das Kind J W dem Antragsteller Unterhalt gewährt, liegt nicht vor.

Jedoch kommt in Betracht, dass der Antragsteller als Familienangehöriger des Kindes zu behandeln ist, wenn er als Elternteil für den im Kleinkindalter stehenden J W tatsächlich sorgt, d.h. die Personensorge effektiv ausübt. Der Europäische Gerichtshof hat in Fällen, in denen nur ein Elternteil für ein freizügigkeitsberechtigtes Kleinkind tatsächlich gesorgt und das Kleinkind wohl zusätzlich finanziell unterhalten hat, dem betreffenden Elternteil ein Recht als Familienangehöriger zuerkannt (vgl. EuGH, Urt. v. 17.9.2002, Rechtssache Baumbast, InfAuslR 2002, 463, 466, Rn. 71 bis 75; Urt. v. 19.10.2004, Rechtssache Chen, InfAuslR 2004, 413, 415, Rn. 45 f.). Möglicherweise gilt diese Rechtsprechung auch für beide Elternteile, die effektiv für das betreffende Kleinkind sorgen und von denen nur ein Elternteil das Kind finanziell unterstützt.

2. Zugleich ist die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller eine Duldung zu erteilen, bevor sie ihm gegenüber eine Feststellung nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU getroffen hat (§ 11 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU i.V.m. § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG).