VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 10.03.2008 - 8 K 831/07.A - asyl.net: M12854
https://www.asyl.net/rsdb/M12854
Leitsatz:

Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung eines Unterstützers der DHKP-C; Menschenrechtslage in der Türkei scheint sich wieder zu verschlechtern.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, DHKP-C, Unterstützung, Inhaftierung, Folter, Menschenrechtslage, politische Entwicklung, Reformen, Anti-Terrorismus-Gesetz, PKK, Grenzkontrollen, Situation bei Rückkehr
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung eines Unterstützers der DHKP-C; Menschenrechtslage in der Türkei scheint sich wieder zu verschlechtern.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Widerrufsbescheid des Bundesamtes vom 11.04.2007, mit dem die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG widerrufen worden ist, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Die Feststellung eines Abschiebungsverbotes im Hinblick auf die Türkei im Bescheid des Bundesamtes vom 20.07.2002 erfolgte, weil seinerzeit für den Kläger davon auszugehen war, dass er bei einer Rückkehr in die Türkei "mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit" politisch motiviert verfolgt wird. Grundlage der damaligen Entscheidung des Bundesamtes waren die Angaben des Klägers, dass er die DHKP-C unterstützt hatte, deshalb inhaftiert und auch gefoltert worden war. Er hatte nach der Verhaftung eines weiteren Parteifreundes, der seinen Namen genannt hat, zu befürchten, nochmals inhaftiert und wiederum gefoltert zu werden. Hieraus folgte für den Kläger die Gefahr einer politisch motivierten Verfolgung in der Türkei.

Seit dieser Zeit haben sich zwar die innenpolitische Situation und die Sicherheitslage in der Türkei zunächst weiter verbessert. Dies hat auch das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 19.04.2005 in dem Verfahren 8 A 273/04.A anerkannt, jedoch gleichwohl festgestellt, dass trotz der umfassenden Reformbemühungen, insbesondere der "Null-Tolerenz-Politik" gegenüber Folter in der Türkei weiterhin Verfolgungsmaßnahmen asylerheblicher Art und Intensität vorkommen, die dem türkischen Staat zurechenbar sind.

Auch die dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse aus der Zeit nach Erlass des genannten Urteils rechtfertigen keine andere Beurteilung. Vielmehr lässt sich den späteren Pressemitteilungen über die Situation in der Türkei entnehmen, dass sich dort die Lage im Hinblick auf die Wahrung der Menschenrechte, fortschreitende Demokratie und die Unterbindung von Folter seither nicht nachhaltig gebessert hat. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Türkei ihr Anti-Terror-Gesetz noch in jüngster Zeit verschärft hat. Gemäß dem neuen Gesetz werden mehr Taten als bisher als terroristisch eingestuft. Zudem erhalten Festgenommene später als bisher Zugang zu einem Anwalt. Die türkische Regierung begründete diese Maßnahme damit, dass sie effektiver gegen die aufständischen Kurden im Südosten des Landes vorgehen müsse. Menschenrechtsgruppen kritisierten hingegen, das Gesetz sei eine Einladung zum Foltern. Ein Verbrechen sei es nun auch schon, wenn man Ansichten von Aufständischen teile oder eine Erklärung einer als illegal erklärten Organisation veröffentliche (so Neue Zürcher Zeitung vom 01.07.2006 (Die Türkei verschärft Anti-Terrorismus-Gesetze)).

Die Gesetzesänderung enthält die erweiterte Erlaubnis zum Schusswaffengebrauch, die Möglichkeit, Presseorgane zu verbieten sowie die Einschränkung der Rechte der Verteidiger. Die umfangreichen Gesetzesänderungen haben zwei Tendenzen. Zunächst wird der Terrorbegriff willkürlich auf die verschiedensten Bereich ausgedehnt. Auf diese Weise werden Bürgerrechte, die im Hinblick auf einen EU-Beitritt gerade erst gestärkt wurden, quasi durch die Hintertür wieder eingeschränkt. Die zweite Tendenz ist die Ausdehnung des Terrorbegriffs auf einen ganzen Bereich von Meinungsäußerungen. Dazu gehören Vergehen wie das Tragen von Emblemen einer Terrororganisation sowie das Loben von Straftätern. Völlig in der Luft hängt eine Bestimmung, wonach das Schüren von Angst und Panik einen Akt des Terrorismus darstellt. Eine weitere umstrittene Bestimmung definiert die "Entfremdung des Volkes vom Militär" als Terrorvergehen (so Neue Zürcher Zeitung vom 20.07.2006 (Verschärftes Anti-Terror-Gesetz in der Türkei)).

Hieraus lässt sich unschwer die Tendenz ableiten, dass sich die in der Türkei in den letzten Jahren gebesserte Menschenrechtslage wieder zu verschlechtern scheint. Wenn die Geduld der türkischen Regierung im Kampf gegen kurdische Rebellen erschöpft ist (so der genannte Zeitungsartikel vom 20.07.2006), dann ist kaum vorstellbar, dass diejenigen, die der PKK angehörten oder sie bedeutsam unterstützten, nach ihrer Rückkehr in die Türkei heute unbehelligt bleiben. Dies gilt umso mehr, als die Kämpfe nach dem Waffenstillstand zwischen der PKK und dem türkischen Militär wieder aufgeflammt sind.

In diesem Lagebericht gelangt das Auswärtige Amt darüber hinaus zu der Einschätzung, dass die DHKP-C in der Türkei weiterhin eine Bedrohung darstellt. Auch wenn sie 2006 nicht durch terroristische Aktivitäten in Erscheinung getreten ist, ist davon auszugehen, dass durch die marxistisch-leninistisch orientierte Kaderorganisation Anschläge auf hohe türkische Funktionsträger in Politik und Wirtschaft geplant werden. 2004 gelang es den türkischen Sicherheitsbehörden, die DHKP-C-Kader auf dem Land größtenteils festzunehmen. Die Zellen in den Städten scheinen jedoch weiter aktiv zu sein. Hohe Öffentlichkeitswirkung hatten die zuletzt seitens der DHKP-C vorbereiteten bzw. durchgeführten (Selbstmord-)Anschläge in den Jahren 2004 und 2005 (so Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007, Bl. 27 des amtl. Umdrucks).

Von daher ist schwer vorstellbar, dass der Kläger als Angehöriger der DHKP-C bei einer Rückkehr in die Türkei nicht das besondere Augenmerk der Sicherheitskräfte auf sich lenken könnte. Nachvollziehbar ist dabei auch, dass nach wie vor bei den Eltern und Geschwistern des Klägers nach seinem Verbleib gefragt wird und er dabei von den Sicherheitskräften als Terrorist bezeichnet wird.

Dies gilt auch für den Kläger, der bei einer Wiedereinreise in die Türkei Gefahr laufen wird, zumindest befragt und verhört, wenn nicht gar festgenommen zu werden. Es steht zu befürchten, dass der als Unterstützer der DHKP-C in der Türkei bekannte Kläger im Hinblick auf seine Aktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland für diese Organisation und seine Kontakte zu anderen Organisationsangehörigen verhört werden wird. Dabei läuft er Gefahr, dass die Befragung mit asylrechtlich relevanten Übergriffen einhergehen wird. Deshalb ist keine derart erhebliche und nicht nur vorübergehende Veränderung der maßgeblichen Verhältnisse in der Türkei erkennbar, dass nunmehr eine politische Verfolgung des Klägers aus diesem Grunde ausgeschlossen wäre.