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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 04.03.2008 - 2 BvR 264/08 - asyl.net: M12855
https://www.asyl.net/rsdb/M12855
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Auslieferung, Türkei, Auslieferungshaft, Verfassungsbeschwerde, rechtliches Gehör, persönliche Freiheit, Haftdauer, Verhältnismäßigkeit, EGMR, Beschleunigungsgebot
Normen: GG Art. 103 Abs. 1; IRG § 15 Abs. 2; IRG § 33; GG Art. 2 Abs. 2; IRG § 15 Abs. 1
Auszüge:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG sind nicht erfüllt. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt, da sie keine Aussicht auf Erfolg hat (BVerfGE 90, 22 <25 f.>).

2. Das Gehörsrecht des Beschwerdeführers ist nicht verletzt. Der Gehörsgrundsatz verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nicht jedoch der von dem Beteiligten vertretenen Rechtsansicht zu folgen (vgl. BVerfGE 64, 1 <12>; 87, 1 33>). Aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt auch keine Pflicht der Gerichte, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen (vgl. BVerfGE 65, 293 <295>; 86, 133 <145 f.>; 96, 205 <216>; stRspr). Art. 103 Abs. 1 GG schützt weiterhin auch nicht davor, dass das Vorbringen eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts unberücksichtigt bleibt, etwa weil es nach Ansicht des Gerichts für die zu treffende Entscheidung unerheblich ist (BVerfGE 21, 191 <194>; 69, 145 <148 f.>; 70, 288 <294>; 96, 205 <216>; stRspr). Dabei ist die Anwendung der entsprechenden Vorschriften des einfachen Rechts grundsätzlich Sache der Fachgerichte und der Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht weitgehend entzogen. Das Bundesverfassungsgericht kann erst eingreifen, wenn erkennbar wird, dass die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts die Bedeutung des in Rede stehenden Verfassungsrechts - hier also des Gehörsrechts des Art. 103 Abs. 1 GG - grundlegend verkannt haben (stRspr; vgl. etwa BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 99, 145 <160>).

Gemessen an diesen Maßstäben ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht in den Beschlüssen vom 17. Oktober 2007, vom 8. Januar 2008 und vom 7. Februar 2008 die Frage, ob die Auslieferung im Sinne des § 15 Abs. 2 IRG von vornherein unzulässig ist, nicht erneut geprüft hat. Das Oberlandesgericht hat mit Beschluss vom 4. Mai 2005 die Auslieferung für zulässig erklärt und die von dem Beschwerdeführer dagegen erhobenen Einwendungen mit Beschluss vom 23. Mai 2007 zurückgewiesen. Diese Beschlüsse sind mit innerstaatlichen Rechtsbehelfen nicht mehr anfechtbar. Eine Abänderung ist nach der gesetzlichen Regelung im IRG nur möglich, wenn nachträglich neue entscheidungserhebliche Umstände entweder auftreten (§ 33 Abs. 1 IRG) oder aber bekannt werden (§ 33 Abs. 2 IRG). Wenn das Oberlandesgericht in seinem Beschluss vom 8. Januar 2008 ausführt, dass es "in Ermangelung neuer Umstände keine Veranlassung zu einer abweichenden Bewertung der Zulässigkeit der Auslieferung" sieht, greift es diese gesetzliche Wertung auf. Dass die Voraussetzungen des § 33 IRG hier erfüllt wären, hat der Beschwerdeführer nicht vorgetragen. Es stellt daher keinen Gehörsverstoß dar, dass das Oberlandesgericht in den hier angegriffenen Haftentscheidungen die Zulässigkeit der Auslieferung nicht erneut thematisiert und den entsprechenden Vortrag des Beschwerdeführers unberücksichtigt gelassen hat. Aus den gleichen Gründen ist auch das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht verletzt, denn es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht auf der Grundlage der rechtskräftigen Zulässigkeitsentscheidung und in Ermangelung nachträglich eingetretener oder bekannt gewordener Umstände im Sinne des § 33 IRG den Ausschlusstatbestand des § 15 Abs. 2 IRG ohne weiteres als nicht erfüllt angesehen hat.

3. Eine Verletzung des Grundrechts auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG lässt sich derzeit auch nicht im Hinblick auf die Dauer der Auslieferungshaft von aktuell etwas über einem Jahr feststellen.

Die Aufrechterhaltung der Auslieferungshaft greift in das Grundrecht auf persönliche Freiheit ein. Sie darf nur aufgrund eines Gesetzes und nur dann angeordnet werden, wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies zwingend gebieten (vgl. BVerfGE 61, 28 <32>). Die gesetzliche Grundlage ist § 15 Abs. 1 IRG, wonach gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft dann angeordnet werden darf, wenn die Gefahr besteht, dass er sich dem Auslieferungsverfahren oder der Durchführung der Auslieferung entziehen werde. Die Auslieferungshaft ist als Maßnahme der internationalen Rechtshilfe Teil der gegen den Verfolgten durchgeführten Strafverfolgung insgesamt. Sie unterliegt von Verfassungs wegen dem Gebot größtmöglicher Verfahrensbeschleunigung. Ab einer notwendigen Mindestdauer des Verfahrens müssen besondere, das Auslieferungsverfahren selbst betreffende Gründe vorliegen, um die weitere Vollstreckung der Auslieferungshaft zu rechtfertigen (vgl. BVerfGE 61, 28 <34>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Februar 2000 - 2 BvR 66/00 -, JURIS). Ob die Verzögerungen die Schwelle der Verhältnismäßigkeit überschreiten, richtet sich nach den Umständen des Falles, insbesondere dem Zeitaufwand für die Aufklärung der Auslieferungsvoraussetzungen (vgl. BVerfGE 61, 28 <34 f.>). Auch die Mitwirkung des Verfolgten und die Schwere des Tatvorwurfs sind zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juli 1999 - 2 BvR 898/99 -, NJW 2000, S. 1252). Eine starre Grenze kann wegen der zahlreichen Besonderheiten, die sich in einem Auslieferungsverfahren ergeben können, nicht gezogen werden (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Februar 2006 - 2 BvR 155/06 -, JURIS; vgl. auch die Gesetzesbegründung zu § 26 - in der Zählung der Entwurfsfassung § 25 - IRG: BTDrucks 9/1338, S. 53).

An diesen Maßstäben gemessen ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht die Verhältnismäßigkeit der Dauer der Auslieferungshaft noch als gewahrt angesehen hat. Insbesondere begegnet es keinen Bedenken, dass es insofern maßgeblich auf die Erheblichkeit der in der Republik Türkei gegen den Beschwerdeführer erhobenen Vorwürfe abgestellt hat. Der Beschwerdeführer kann hiergegen nicht einwenden, dass die Vorwürfe in der Türkei manipuliert seien. Der Beschwerdeführer hat diesen Einwand bereits im Verfahren über die Zulässigkeit der Auslieferung erhoben. Das Oberlandesgericht hat gleichwohl die Zulässigkeit der Auslieferung bejaht und keine Anhaltspunkte für eine Prüfung des Tatverdachts im Sinne des § 10 Abs. 2 IRG gesehen. Verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz hiergegen hat der Beschwerdeführer nicht rechtzeitig in zulässiger Weise gesucht.

Auch im Übrigen sind auf der Grundlage des Vortrags des Beschwerdeführers keine Gesichtspunkte erkennbar, die die derzeitige Dauer der Auslieferungshaft als unverhältnismäßig erscheinen ließen. Dass die Auslieferung trotz der mit innerstaatlichen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbaren Zulässigkeitsentscheidung bislang nicht vollzogen worden ist, gründet sich auch nach dem Vortrag des Beschwerdeführers maßgeblich darauf, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gemäß Art. 39 seiner Verfahrensordnung die Bundesrepublik Deutschland aufgefordert hat, den Beschwerdeführer vorerst nicht an die Türkei auszuliefern. Anhaltspunkte dafür, dass die Dauer des Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angesichts der Umstände des Falles nicht gerechtfertigt und die weitere Fortdauer der Auslieferungshaft daher aus diesem Grund nicht mehr als verhältnismäßig anzusehen wäre, hat der Beschwerdeführer nicht vorgetragen.

Allerdings wird das Oberlandesgericht diesen Gesichtspunkt bei künftigen Haftentscheidungen mit in den Blick nehmen müssen. Ebenso wird es der Frage, in welchem Stand sich das von der Bundesregierung betriebene Bewilligungsverfahren befindet, näher nachzugehen haben. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verpflichtet auch die Bundesregierung zu einem Abschluss des Bewilligungsverfahrens innerhalb einer den jeweiligen Umständen des Einzelfalls angemessenen Zeit. Im vorliegenden Fall hat die Bundesregierung dabei zwar die auch sie bindende (vgl. BVerfGE 111, 307 <316>), von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bezeichnete vorläufige Maßnahme zu berücksichtigen und zu prüfen, ob und gegebenenfalls inwieweit diese einer Bewilligung wegen der damit verbundenen völkerrechtlichen Wirkungen (vgl. BVerfGE 50, 244 <248 f.>) entgegensteht. Dies rechtfertigt aber jedenfalls nicht einen allgemeinen Stillstand des Bewilligungsverfahrens bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte über die Individualbeschwerde des Beschwerdeführers, zumal die vorläufige Maßnahme zumindest einer negativen Bewilligungsentscheidung, welche das Auslieferungsverfahren beenden würde (vgl. BVerfGE 50, 244 <249>) und damit den Grund für die Auslieferungshaft entfallen ließe (§ 15 Abs. 1 IRG), nicht entgegensteht.